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Veröffentlicht am 02.12.2024

Eine umgekehrte Welt

White Lives Matter
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In "White Lives Matter" finden sich die Leser:innen in einer umgekehrten Welt wieder: Menschen mit weißer Hautfarbe sind die Unterdrückten, wohingegen die schwarze Gesellschaft rassistische Unterdrückung ...

In "White Lives Matter" finden sich die Leser:innen in einer umgekehrten Welt wieder: Menschen mit weißer Hautfarbe sind die Unterdrückten, wohingegen die schwarze Gesellschaft rassistische Unterdrückung ausübt. Hauptprotagonistin ist die junge Studentin Anna, die es als eine der wenigen geschafft hat, an der Uni studieren zu können. Mit außerordentlichen Eifer treibt sie ihr Geschichtestudium voran, um gesellschaftliche Anerkennung zu erlangen. Einer ihrer Professoren bittet sie, eine Hausarbeit über die Unterdrückung der Weißen zu schreiben und akribisch, wenn auch mit anfänglichen Widerwillen, beginnt sie zu recherchieren, stößt immer wieder auf fatale Geschichten einzelner, die aufgrund der kolonialen Unterdrückung ihr Leben lassen mussten. Schnell erkennt sie, dass diese Geschichte der Unterdrückung bislang in der Forschung kaum beleuchtet wurde, was ihren Forscher:innenergeiz vorantreibt. Bis ein schrecklicher Vorfall ihr einen geliebten Menschen entreißt und sie zur Mitbegründerin von "White Lives Matter" macht.
Das Gedankenexperiment, das Jasmina Kuhnke zu wagen versucht, ist großartig - wie fühlt es sich an, zum unterdrückten Teil der Gesellschaft zu gehören, was macht das mit den Leser:innen, wenn plötzlich Weiße diskriminiert, gefoltert, aufs grausamste zur Schau gestellt und getötet und grundsätzlich als minderwertige, ja teils animalische Menschen behandelt werden? Was macht das mit einer/m, den Rassismus umzukehren? In "White Lives Matter" ist die Welt und deren Geschichte umgekehrt, Schwarze sind hier die herrschenden Eliten. Die Autorin ersetzt einfach schwarz gegen weiß, lässt aber jegliche geografische Verordnung außen vor. Lediglich "Norden" und "Süden" dienen als geografische Orientierung. In kurzen Blitzlichtern wird in die Vergangenheit geblickt und beschrieben, wie Weiße auf bestialische Art zu Tode kamen, meist durch die Hand ihrer Unterdrücker, auf alle Fälle aber mit deren Zutun. 
Die Hauptprotagonistin Anna versucht es allen recht zu machen, versucht nicht aufzufallen und glaubt anfangs mit Ehrgeiz und Unauffälligkeit weiterzukommen. Sie muss einiges an Diskriminierung aushalten, schluckt es, auch wenn es sie innerlich zerfrisst. In den ersten zwei Dritteln des Buches wirkt sie recht naiv. Ein besonderes Augenmerk wird auf ihr Verhältnis zu ihrem Bruder gelegt und hier reagiert Anna oft mit kindlichem Trotz auf Konflikte. Ihr Bruder, der die gesellschaftlichen Verhältnisse so nicht hinnehmen will, reagiert auf jede Diskriminierung mit Widerstand, etwas, was Anna falsch findet. Auch wenn sie sich im Verlauf des Buches emanzipiert, ist das meiner Meinungen einer der Schwachstellen in der Geschichte. 
Der Mann als Widerständiger und die Frau als jene, die alle Unterdrückung schluckt, ist ein Rollenbild, das lang tradiert wurde - und noch immer wird. Deshalb finde ich es auch sehr schade, dass Anna diese Rolle lange Zeit inne hat. Besonders im ersten Drittel erfahren wir viel von Annas (oft trotzigem) Innenleben, was aber im Laufe der Geschichte etwas abnimmt, das mich aber aufgrund der folgenden Ereignisse etwas verwundert. Grundsätzlich finde ich die Aufteilung des Romans etwas unausgewogen, erfahren wir im ersten Teil doch sehr viel über ihre Lebenssituation, wie es im Studium läuft, wie das Zusammenleben in der WG funktioniert (Anna ist hier die einzige Weiße), ein bisschen etwas über ihre Freundschaften und ihre Familie. Das einschneidende Erlebnis, bei dem ein ihr geliebter Mensch stirbt und der darauffolgende Widerstand gegen die Unterdrückungsverhältnisse und das System werden relativ rasch abgehandelt. Ein weiterer Kritikpunkt meinerseits ist zudem, dass beschrieben wird, wie Anna zur Geschichte der Unterdrückung recherchiert - als Studentin der Geschichtswissenschaft - und hier passieren die Einschübe aus der Vergangenheit, bei denen jeweils eine Geschichte des Zutodekommens einer weißen Person beschrieben wird. Danach folgt die Beschreibung, wie Anna das gerade Recherchierte aufnimmt. Das ist für mich etwas unglaubwürdig, denn es wird nicht erklärt, welche Quellen Anna hier verwendet hat - vermutlich auch deshalb, weil es dazu keine gegeben haben könnte, denn die Geschichte der Unterdrückten wurden so gut wie nie aus ihrer eigenen Perspektive festgehalten, sondern wenn dann aus der Sicht der Unterdrücker.
Mein Fazit: "White Lives Matter" ist ein Roman, der die Welt der Unterdrückung aus einer fiktiven Umkehr der Machtverhältnisse erzählt. Die Idee ist großartig, kann sie doch den Unterdrückenden einen Spiegel vor Augen halten. Leider hat mich jedoch die Umsetzung nicht wirklich überzeugt, ist die Hauptprotagonistin doch sehr im patriarchalen Rollbild gezeichnet. Außerdem wirkte für mich die Geschichte und deren Erzählweise an Geschehnissen etwas unausgewogen.

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Veröffentlicht am 01.12.2024

Keine:r sah es kommen

Was wir nicht kommen sahen
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Ada ist 18, als sie sich das Leben nimmt. Ihr Suizid ist für ihre Eltern Jenny und Dominik anfangs unerklärlich, doch sie machen sich auf Spurensuche und blättern nach und nach auf, welchem Terror sich ...

Ada ist 18, als sie sich das Leben nimmt. Ihr Suizid ist für ihre Eltern Jenny und Dominik anfangs unerklärlich, doch sie machen sich auf Spurensuche und blättern nach und nach auf, welchem Terror sich ihre Tochter unterziehen musste. Ada wurde Opfer einer ganz perfiden Art von Cybermobbing, das auch auf ihr physisches Leben übersprang. Und keiner konnte ahnen, wie belastet die junge Frau wurde...

Katharina Seck ist mit "Was wir nicht kommen sahen" ein mitreißender Roman gelungen, welcher der Gesellschaft einen Spiegel vorhält - und das mit Nachdruck. Sie thematisiert so viele unterschiedliche gesellschaftliche Aspekte, wie das nach wie vor vorherrschende Patriarchat, Mobbing in seinen unterschiedlichsten Formen (physisch & digital & hybrid), Incels, fehlende Aufklärung im Schulsystem und allgemein in der Gesellschaft was den digitalen sozialen Raum betrifft, um nur einige wenige zu nennen.

Die Erzählperspektive macht das Buch neben der relevanten Themen noch spannender - wir wechseln uns beim Lesen ab zwischen Ada und ihrer Mutter Jenny, wobei auch immer wieder in der Zeit gewechselt wird - wir erleben, wie Jenny und Dominik mit Adas tot und der Trauer kämpfen, aber auch den schweren Kampf, den Ada gegen die digitalen Trolle führte. Nach und nach recherchieren ihre Eltern, welche Ereignisse ihre Tochter durchleben musste, ohne dass sie auch nur einen Funken davon mitbekommen hatten (kaum gab es einen treffenderen Buchtitel!). Den Schreibstil der Autorin finde ich sehr eindringlich, er ist direkt und philosophisch und gesellschaftskritisch durch und durch - und erinnert mich sehr an den Stil von Mareike Fallwickl.

Besonders hervorheben möchte ich, dass zwischendurch auch immer wieder "die Anonymität" zum Erzählen kommt: in diesen kurzen Kapiteln werden Menschen, über deren Identität wir nichts genaueres erfahren, beschrieben - wie sie denken und fühlen, beispielsweise ein Incel, der über seinen Frauenhass und seine Incel-Gruppe berichtet, aber auch eine junge Frau aus schwierigen Verhältnissen, die (Mobbing-) Täterin und Opfer zugleich ist. Das finde ich deshalb so gut, da hier ohne Wertung auch die "Gegenseite" gezeigt wird, die nämlich auch Menschen und meist selbst in irgendeiner Weise Benachteiligte der Gesellschaft sind. Aber auf sie wird nicht mit dem Finger gezeigt, sondern durch die objektive Beschreibung dieser Charaktere den Lesenden veranschaulicht, dass es eben auch eine andere Seite mit eigenem Schicksal gibt - toll!

Besonders die Trauer und Verzweiflung von Adas Mutter Jenny werden so absolut nachvollziehbar beschrieben, dass ich beinahe das Gefühl hatte selbst in ihrer Haut zu stecken. Auch die Beziehung zu ihrem Mann Dominik, die in der Trauer nicht nur Höhen erlebt, wird authentisch dargestellt. Einen kleinen Punkteabzug gebe ich aber trotzdem, da für mich die Figur Ada nicht ganz greifbar ist. Sie wird als so starke und kämpferische junge Frau dargestellt, dass für mich der radikale Schritt Suizid nicht wirklich nachvollzogen werden kann. Ich möchte keinesfalls herunterspielen, dass das was sie durchmachten musste, an Heftigkeit kaum zu überbieten ist, hinzu kam ein persönlicher Vertrauensbruch als letztes Tüpfelchen - und trotzdem fühlte sie sich wie eine Person an, die gegen das System kämpft und nicht aufgibt.

Mein Fazit: "Was wir nicht kommen sahen" ist ein Buch, was alle Eltern von Teenagern lesen sollten, um etwas mehr von ihrer Lebensrealität zu verstehen. Es wäre außerdem ein hervorragendes Buch für den Unterricht, um das Thema Cybermobbing zu reflektieren. Im Stil von Mareike Fallwickl hält Katharina Seck der Gesellschaft eine Spiegel vor, der einen ordentlich zum Nachdenken bringt und auch etwas fragend hinterlässt.

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Veröffentlicht am 03.11.2024

Zukunftsgeflüster

Die große Sehnsucht
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Am Bodensee, Mitte der 1990er: Fete, Michi und Rabe starten die letzte Klasse Gymnasium und durchleben allerhand Zukunftsfantasien. Vor allem für Rabe ist klar, was er werden will: Regisseur. Doch je mehr ...

Am Bodensee, Mitte der 1990er: Fete, Michi und Rabe starten die letzte Klasse Gymnasium und durchleben allerhand Zukunftsfantasien. Vor allem für Rabe ist klar, was er werden will: Regisseur. Doch je mehr sie sich mit konkreten Plänen beschäftigen, desto mehr Realität erleben sie. Und sie spüren, dass die Zeit, die sie jetzt haben, jene ist, die gelebt werden muss.

René Sydow ist mit "Die große Sehnsucht" ein unterhaltsamer Coming-of-Age-Roman gelungen, der die Protagonist:innen voller Leben zeichnet. Die Jungs sind allesamt einfühlsam, engagiert und glauben zu wissen, wohin sie wollen. Natürlich steht das andere Geschlecht im Mittelpunkt und die Beziehungen, die die Hauptprotagonisten entwickeln, fühlen sich trotz Unsicherheiten und gespieltem Selbstbewusstsein sehr authentisch an. Besonders gefallen hat mir, dass der Autor nicht mit oft gelesenen Jungs-/Mädchenklischees spielt, die Charaktere sind einander gegenüber respektvoll, auch wenn es natürlich auch hier das eine schöne Mädchen gibt, das alle begehren. Doch Fantasie und Realität unterscheiden sich und so gelingt es den jungen Männern, tiefergehende Beziehungen aufzubauen.

Der Schreibstil des Autors ist einnehmend und ich konnte mir die Szenen des Buches sehr bildlich vorstellen. Die Erzählperspektive wechselt zwischen den drei Hauptfiguren, selten werden auch Elternperspektiven erläutert. Die meiste Aufmerksam erhält Rabe mit seiner Fokussierung auf seine Zukunft als Regisseur. Hier ist besonders schön zu sehen, dass der Junge zwar schon seit er denken kann, sein Ziel vor Augen hat, aber als dieses näher kommt, zweifelt er mitunter, ob es tatsächlich das ist was er will. Dazu trägt auch seine sich entwickelnde Beziehung zu Viola bei, die er mehr und mehr ins Herz schließt. Auch Fete wird eingehender beleuchtet, er ist der Partytiger und gilt als Frauenheld. Dass es damit in der Realität aber nicht weit her ist, überrascht nicht nur seine Herzensdame Dani, sondern auch die Lesenden. Nur Michi wird etwas stiefmütterlich beschrieben, was schade ist, denn seine Geschichte wird zwar angedeutet, aber nur wenig erläutert.

Trotzdem mir das Buch sehr gefallen hat, finde ich es schade, dass es zwischen den drei Hauptcharakteren ein Ungleichgewicht an Erzähltem gibt. Hier hätte es mir persönlich besser gefallen, wenn entweder nur ein Charakter die volle Aufmerksamkeit bekommt oder aber alle drei Protagonisten gleichermaßen erzählt werden. Irritiert hat mich die nur ganz selten auftauchende Erzählperspektive eines Elternteils und auch das Auftauchen eines verloren geglaubten Vaters wird nicht näher beleuchtet, obwohl anzunehmen ist, dass dies durchaus etwas mit dem Jungen anstellt. Die Beschreibungen der 90er-Jahren standen für mich gar nicht so zentral im Fokus, waren aber schön, auch wenn manche geäußerten Zukunftsprognosen der Figuren für mich etwas zu konstruiert und deshalb etwas unglaubwürdig erschienen.

Mein Fazit: "Die große Sehnsucht" ist ein unterhaltsamer Coming-of-Age Roman, der in den 1990er spielt. Besonders schön ist die Einfühlsamkeit, die Zielstrebigkeit und die Tiefe der Charaktere, auch wenn sie leider nicht allesamt die gleiche erzählende Aufmerksamkeit bekommen. Der Schreibstil des Autors ist kurzweilig und auch wenn das Buch für mich kleinere Schwächen hat, habe ich es gern gelesen.

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Veröffentlicht am 30.10.2024

Treffendes Bild über unsere Gesellschaft

Hey guten Morgen, wie geht es dir?
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Juno scheint festzustecken. Ihr Mann ist schwer krank, sie kümmert sich um ihn soviel und intensiv sie kann, um ihm sein Leben zu erleichtern. Routine ist essentiell und so versucht sie ihm all das zu ...

Juno scheint festzustecken. Ihr Mann ist schwer krank, sie kümmert sich um ihn soviel und intensiv sie kann, um ihm sein Leben zu erleichtern. Routine ist essentiell und so versucht sie ihm all das zu bieten, was er mag - und das schon seit Jahren. Sie selbst ist Künstlerin und kann sich mit unterschiedlichen Engagements nur knapp über Wasser halten. Um der Langeweile ihres eintönigen Alltags zu entkommen, beginnt sie wissentlich, mit Love Scammern zu chatten. Eines Tages trifft sie auf den Scammer Benu und deckt ihn umgehend auf. Zwischen ihnen entwickelt sich eine Art Freundschaft, die wohl beiden aus ihrem monotonen Alltag befreit...

Martina Hefter hat mit "Hey guten Morgen, wie geht es dir?" zurecht etliche Literaturpreise, darunter zuletzt den Deutschen Buchpreis, erhalten. Sie zeichnet mit ihrem einfühlsamen Roman ein Abbild der Gesellschaft, die zwischen Leidenschaftslosigkeit, Alltagsbewältigung und der Suche nach einem höheren Sinn schwankt.

In knappen Kapiteln wechselt die Erzählform zwischen Chats und dem Status Quo der Protagonistin. Die Art, wie Juno mit Scammern umgeht, ist einprägsam - schonungsloser Gedankenorgasmus und peripheres Interesse an dem, was dahintersteckt. Etliche Themen sind wiederkehrend, so nimmt in ihren Gedankenausstößen Lars von Triers' Film Melancholia eine zentrale Rolle ein. Stete Wiederholung, sei es in den Korrespondenzen mit den Liebesbetrügern oder ihrem niederdrückenden Alltag rund um die Pflege des Geliebten und dem Existenzkampf einer Künstlerin, sind zentral, scheinen sogar ein Lebenselixier der Protagonistin zu sein. Sie überreizt die Scammer, deckt sie schonungslos auf und nur Benu bleibt ihr treu. Ebenso schonungslos lebt sie ihren eingeengten Alltag in der Hoffnung, doch noch frei zu werden.

Der Roman ist emotionslos wie packend zugleich. Es wird angedeutet, dass ihr Alltag als pflegende Angehörige mühsam ist, doch wird ihre wahre Gefühlswelt niemals aufgedeckt - ist doch das Funktionieren alles was zählt. Stattdessen begibt sie sich in Gedankenorgasmen, die sie gegenüber ihren Scammern haltlos wiedergibt. Dadurch befreit sie sich von sämtlichen Konventionen und funktioniert sogleich wie es die Gesellschaft erwartet. Trotzdem packt sie regelmäßig das schlechte Gewissen, weiß sie doch, dass sie die Privilegierte ist. Um dem entgegenzuwirken, beschäftigt sie sich mit Fakten aus Büchern über das Land ihres Scammers. Misstrauen ist stets vorhanden, trotzdem quält Juno ihre eigene Privilegiertheit und das, obwohl Benu gleich nach Aufdeckung seines Ansinnens mit offenen Karten spielt.

Eine Besonderheit an dem Erzählten ist die bewusst gewählte Dramatik an der Geschichte. Die verwendeten Namen sind allesamt und einheitlich aus der griechischen Mythologie entlehnt, dafür ist der Titel des Buches um so zeitgemäßer, wenn auch schwer ertragbar. Faszinierend ist die Verknüpfung aus antikem Grundstock und einer absoluten Wiederspiegelung des heutigen Zeitgeistes.

So skeptisch ich gegenüber dem Buch war, so sehr kann ich die Lektüre jeder und jedem Lesenden nur ans Herz legen. Martina Hefters ausgezeichneter Roman ist ein absolut lesenswertes Spiegelbild unserer Gesellschaft mit all ihren positiven und negativen Herausforderungen.

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Veröffentlicht am 29.10.2024

Kindliches Trauma mit Längen

Die Zeit im Sommerlicht
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Anne-Risten, Else-Maj, Jon-Ante, Marge und Nilsa ereilt Anfang der 1950er Jahre das gleiche Schicksal: als geborene Samen - damals noch (abwertend) "Lappen" genannt - müssen sie die "Nomadenschule" besuchen. ...

Anne-Risten, Else-Maj, Jon-Ante, Marge und Nilsa ereilt Anfang der 1950er Jahre das gleiche Schicksal: als geborene Samen - damals noch (abwertend) "Lappen" genannt - müssen sie die "Nomadenschule" besuchen. Dort sind sie wie in einem Kinderheim untergebracht und dürfen ausschließlich Schwedisch sprechen, ihrer eigenen Muttersprache werden sie enteignet. Dem nicht genug, steht der Schule die "Hausmutter" vor, einer bösartigen Erzieherin, die es scheinbar genießt, die kleinen Kinder zu quälen und auch vor körperlichen Übergriffen nicht Halt macht. 30 Jahre später sind alle Protagonist:innen auf ihre eigene Art von ihren schrecklichen Kindheitserlebnissen traumatisiert und die Wiederbegegnung mit der Hausmutter wird zum schicksalshaften Ereignis...

Ann-Helen Laestadius setzt mit "Die Zeit im Sommerlicht" die Aufarbeitung der Unterdrückung der Samen im 20. Jahrhundert in Schweden fort. Bereits in ihrem ersten auf Deutsch erschienenen Roman "Das Leuchten der Rentiere" thematisierte sie die Diskriminierung der indigenen Bevölkerung Skandinaviens.
Ihr Schreibstil mutet kindlich-naiv an, was in den Episoden der 1950er Jahre, als tatsächlich über die Erlebnisse der Kinder erzählt wird, wunderbar passend und einfühlend ist. In den Zeitsprüngen, welche die Leser:innen zwischendurch immer wieder in die 1980er versetzt, scheinen die Erwachsenen doch noch sehr viel kindliches an sich zu haben, was bestimmt auch an eben jenem Schreibstil liegt. Ob dies als Stilmittel beabsichtigt oder eben die grundsätzliche Schreibart ist, kann nicht nachvollzogen werden, ich empfand es aber über weite Teile des geschilderten Erwachsenenlebens als etwas mühsam und teilweise auch nervig.

Grundsätzlich hat der Roman seine Längen, besonders in der ersten Hälfte des Buches. Obwohl das Erzählte berührend ist, musste ich das Buch immer wieder weglegen. Erst in der zweiten Hälfte begann der Roman wirklich mitreißend zu sein, die Geschichten fanden zusammen und verwoben sich ineinander. Exakt so ist es mir bei "Das Leuchten der Rentiere" auch ergangen. Was die Lesefreude bei mir zudem etwas hemmte, war die Tatsache, dass für die Geschichte eigentlich unwichtige Details in aller Breite ausgeschmückt werden. Natürlich ist es wichtig, samische Rituale und Gepflogenheiten zu erläutern, ob dies jedes Mal der Fall sein und sich immer wieder wiederholen muss, bleibt zu bezweifeln. Aber auch bezüglich anderer Thematiken, vorwiegend wenn es um Beziehungen geht, weiß sich die Autorin ausführlich in Details zu verlieren.

Was mir wirklich sehr gut gefallen hat, ist der Umgang und die Thematisierung von Sprache - nicht nur, dass oft samische Ausdrücke verwendet werden, auch die Beschreibung wie diese eingesetzt wird, wie sie teils von eigenen Angehörigen aufgrund von schlechten Erfahrungen negiert wird, was sie aber trotzdem für die Sami bedeutet, das alles ist wunderschön beschreiben.

Mein Fazit: "Die Zeit im Sommerlicht" ist ein lehrreicher Roman, der die Geschichte der Unterdrückung der indigenen Bevölkerung Skandinaviens fiktional nachzeichnet. Die kurzen Kapitel und die Zeitsprünge, die zwischen der Kindheit der Protagonist:innen und dem Erwachsensein derer wechseln, macht das Lesen abwechslungsreich. Leider macht die teilweise vorhandene Detailverliebtheit und der durchwegs kindliche Sprachstil es zu keinem kurzweiligen Lesevergnügen. Es ist trotzdem lesenswert, schon alleine, weil über Menschen berichtet wird, die in der europäischen Wahrnehmung bislang zu wenig Platz gefunden haben.

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