Die ergreifende Geschichte eines suchtkranken Superstars: von seelischen Abgründen am Rande der Hollywoodtraumindustrie
Friends, Lovers and the Big Terrible ThingMatthew Perry hat als Chandler Bing in der US-amerikanischen Serie „Friends“, die von 1994 bis 2004 produziert wurde, mit seinem Witz und Esprit ein Millionenpublikum begeistert, und damals auch meine ...
Matthew Perry hat als Chandler Bing in der US-amerikanischen Serie „Friends“, die von 1994 bis 2004 produziert wurde, mit seinem Witz und Esprit ein Millionenpublikum begeistert, und damals auch meine Abende um einige Wohlfühlmomente verschönert. Nach der Friends-Reunion 2021 kam nun (2022) seine Autobiografie „Matthew Perry – Friends, Lovers and the Big Terrible Thing“ bei Bastei Lübbe heraus. Das Buch zeichnet ein faszinierendes Porträt von dem Schauspieler und dreht sich vor allem um seine Alkohol- und Tablettensucht, und um seinen Umgang damit.
Matthew Perry besitzt einen sehr angenehmen Schreibstil – er hat diesen trockenen englischen Humor, der an Sarkasmus grenzt. Selbst über die schlimmsten Sachen noch einen Witz zu reißen war von Kind an seine Überlebensstrategie. Als der Vater die Familie verließ, übernahm Matty, wie seine Freunde ihn nennen, die Verantwortung für seine Mutter. Er lernte, dass er sie mit Witzen aufmuntern konnte, und, dass lustig sein mit Liebe belohnt wird. Genau diese Strategie, die irgendwann zu einem Teil seiner Persönlichkeit wird, ist es, mit der er später die Rolle des Chandlers in Friends füllt. Das Buch dreht sich allerdings weniger um die Serie und wie es mit seinen Kollegen am Set lief, sondern es geht vor allem um das „Big terrible Thing“, Matthew Perrys Alkohol- und Tablettensucht. Er zeigt, wie die Krankheit seine Beziehungen prägt, seien es Liebesbeziehungen oder Freundschaften. Die Mit-Ursachen für die Krankheit findet er in seinen frühesten Bindungen. Schon der Großvater hatte Alkoholprobleme und Matthew Perry wurde bereits als Säugling – er war ein Schreikind – mit Medikamenten ruhiggestellt.
Das Buch beginnt hochdramatisch mit einem Nahtoderlebnis. Im weiteren Verlauf wird in elf Kapiteln mit je einem „Intermezzo“ Matthew Perrys Lebensgeschichte, beginnend mit dem Kennenlernen seiner Eltern und endend als er 53 Jahre alt ist, dargestellt. Die „Intermezzo“ könnten als Exkurse gesehen werden, wären jedoch nicht notwendig gewesen, denn der Großteil des Buchs scheint ohnehin nicht streng chronologisch strukturiert. Sollte es einen roten Faden gegeben haben, ist mir dieser zumindest ab der Mitte des Buches verborgen geblieben. Matthew Perry hüpft wild zwischen Ereignissen, Beziehungen, Filmdrehs, Aufenthalten in Entzugskliniken, Zeiten der Produktivität und des Clean- beziehungsweise Trockenseins und Rückfällen hin und her. Manche Ereignisse werden mehrfach erzählt und ab einem gewissen Punkt wiederholen sich die Inhalte (Film drehen – Beziehungen eingehen und beenden – Entzug durchmachen – rückfällig werden etc.). Ein Orientierungspunkt ist das Jahr, in dem er die Rolle des Chandler Bing bei Friends bekommt, dies ist ein großer Wendepunkt in seinem Leben. Ich habe die Sprünge und Wiederholungen nicht als sehr störend empfunden, sie machen das Buch eher noch authentischer, denn sie passen zu seinem Krankheitsbild. Was Matthew Perry schreibt, und vor allem, wie er das tut, ist so packend, bedrückend, so offen und ehrlich, dass man Dinge gerne mehrmals liest, Hauptsache das Buch endet noch nicht.
Matthew Perry lässt den Leser nah an sich heran, so nah, wie ich es für Autobiografien berühmter Persönlichkeiten nicht unbedingt kenne. Man lernt einen Mann kennen, vor dem man den Hut zieht, nicht nur, weil er tapfer so viel durchgestanden hat, sondern auch, weil er so mutig ist, sich so darzustellen, wie er ist. Er beschönigt seine Schwierigkeiten Bindungen einzugehen nicht, er gesteht Irrtümer und Eitelkeiten. Er lässt den Leser und die Leserin bis in die tiefsten Schwärzen seiner Seele sehen – und in die seiner Eltern. Man glaubt, den wahren Menschen Matthew Perry zu spüren, den, der zur oberen Liga von Hollywood gehört, millionenschwer ist und so leichtherzig Häuser kauft, wie andere Menschen nicht einmal Schuhe - und dabei innerlich so zerrissen, einsam und seine Seele so fragil ist. Einer, der sich selbst als „egoistisches, faules Arschloch“ (E-Book Position 3587) und wenig später als guten Menschen (Position 3631) bezeichnet. Einer, der sein Leben lang versucht, eine innere Leere zu füllen, die offensichtlich nicht füllbar ist, der durch die Hölle ging (beziehungsweise durch 65 Entzüge, zumindest zum Zeitpunkt des fünften Kapitels) und doch niemals aufgegeben hat. Das Buch ist das berührende und schonungslos ehrliche Zeugnis eines Mannes, der in einer prekären Familiensituation aufwuchs, der glaubte seine seelischen Wunden mit beruflichem Erfolg, Ruhm und finanziellem Reichtum schließen zu können und herausfinden musste, dass dies nicht möglich ist. Es ist auch ein gesellschaftskritischer Roman, der zeigt, wie erbarmungslos die Hollywoodfabrik mit ihren Stars umgeht. Über Matthew Perrys Alkohol- und Tablettensucht wird am Set großzügig hinweggesehen, solange er noch einigermaßen funktioniert. Selbst seine Kollegen von Friends, die er als Freunde sieht, fragen ihn erst sehr spät, was los ist. Es scheint ganz so, wie Matthew Perry es von Kind an gewöhnt ist: „Jeder kämpft für sich allein“ (Position 3291). Dabei zeigt Matthew Perry, wie wichtig es für ihn war, dass jemand sich einmischte, denn erst nachdem jemand, meistens seine aktuelle Freundin, Klartext mit ihm sprach, gestand er sich in mehreren gefährlichen Situationen die Wahrheit ein und handelte.
Das Buch ist hoch spannend zu lesen und wirft viele Fragen auf – ganz sicher bei jedem Leser und jeder Leserin andere. Ich frage mich nach wie vor, wie ein Hilfsangebot aussehen könnte, das Menschen, die an Süchten leiden bestmöglich begleitet. Suchtkliniken sind, so Matthew Perry, keine hilfreichen Einrichtungen.
Das Buch hat insofern auf mich einen ernüchternden Nachgeschmack gehabt, denn meiner Meinung nach gibt es letztlich für Matthew Perry kein Happy End. Alkoholiker ist man bis ins Grab, so seine nüchterne Erkenntnis ungefähr in der Mitte des Buchs. Zum Ende hin wird sein Tonfall versöhnlicher, gelassener, er hat durch Therapien und beharrliches Weitermachen lebensverändernde Erfahrungen gemacht, Lösungsansätze für sich gefunden, wichtige Einsichten gewonnen, hat sich verändert und weiterentwickelt. Aber abstinent zu bleiben, wird nach meinem Eindruck auch in Zukunft ein Kampf für ihn bleiben. Jeden Tag muss er sich erneut aktiv gegen den Alkohol entscheiden.
Matthew Perrys Lebensweg hat mich beeindruckt, und, mehr noch, hat mir die Art, wie er seine Symptome und den Umgang damit beschreibt, geholfen, als Nicht-Alkoholiker ansatzweise eine Ahnung davon zu bekommen, wie es sein muss. Zudem bin ich nun bestens über die Bandbreite, Wirkungsweise und Auswirkungen von Rausch- und Betäubungsmitteln informiert.
Weniger würde ich Matthew Perrys Autobiografie den Fans von Friends empfehlen, die vor allem an seinem Mitwirken an der Serie, oder dieser an sich interessiert sind. Wer aber wissen will, wie Matthew Perry tickt und etwas über Tabletten- und Alkoholsucht erfahren möchte, sollte unbedingt dieses Buch lesen. Es könnte auch für die interessant sein, die selbst ähnliche Probleme haben oder für deren Angehörige. Wobei ich mir vorstellen könnte, dass es manche, die an Tabletten- oder/und Alkoholsucht erkrankt, auf dem Weg dahin oder davon weg sind, triggern könnte. Auch wenn sich sicher niemand ein Nahtoderlebnis wünscht, könnten dennoch die Beschreibungen der zunächst einmal ja positiven Wirkung von Alkohol als soziales Schmiermittel und die beruhigende oder leistungssteigernde Wirkungen von Barbituraten oder Tranquilizern zum Versuch oder erneutem Konsum anregen.