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Veröffentlicht am 05.09.2023

Hätte mehr Potential

So weit der Fluss uns trägt
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Victoria wächst auf einer kleinstädtischen Pfirsichplantage im Colorado der 1940er Jahre auf. Bereits in jungen Jahren verliert sie ihre Mutter bei einen Autounfall, wird folglich zur Frau des Hauses auserkoren ...

Victoria wächst auf einer kleinstädtischen Pfirsichplantage im Colorado der 1940er Jahre auf. Bereits in jungen Jahren verliert sie ihre Mutter bei einen Autounfall, wird folglich zur Frau des Hauses auserkoren und vor allem mit der Aufgabe betreut, den Vater, den kriegsinvaliden Onkel und ihren missmutigen Bruder zu verköstigen. Als sie sich eines warmen Herbsttags Schlag auf Schlag in den Ortsfremden Wil verliebt, setzt dies kurz darauf eine Kette von Ereignissen in Gang, die Victoria zur Flucht aus ihrem Zuhause zwingen. Sie begibt sich in die Tiefe der Berge, wo sie der rauen Natur ausgesetzt ist, um alsbald wieder zurückzukehren und ein anderes Land vorzufinden als jenes, das sie verlassen hat.

Eines vorweg: die Geschichte hat mich zeitweise wirklich berührt. Es handelt sich um eine eindrucksvolle Coming-of-Age-Geschichte, die sich um eine den Widrigkeiten der Zeit trotzende Protagonistin dreht. Leider war aber ein tieferer Einstieg in die Hauptfigur nur partiell möglich, da zwischendurch immer mal wieder ein paar Jahre übersprungen werden, die den Leser ständig aus den Lebenspfaden Victorias hinauskatapultieren. Es fiel mir daher recht schwer, mich auf tiefgreifende Gefühle und Sympathien den Charakteren gegenüber einzulassen. Gut gefallen hat mir die Atmosphäre, auch wenn die etwas zu arg romantisierende Beschreibung der Natur hie und da stark von der eigentlichen Geschichte abgelenkt hat und einige Beschreibungen doch ein bisschen over the top waren. Noch weniger gefallen hingegen hat mir die mitunter leider total unkritische Sichtweise auf Rassismus sowie Gewalt und die Zentrierung auf eine sehr einvernehmende, schicksalhafte Liebe auf den ersten Blick. Alles in allem trägt die leider ziemlich unspannende, zu hastig erzählte Geschichte mehr Potential in sich, als im Endeffekt ausgekostet wurde.

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Veröffentlicht am 17.07.2023

Es scheitert am unkonventionellen Schreibstil

Zwischen Himmel und Erde
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Die brasilianische Doktorandin Catarina entstammt einer politisch einflussreichen Familie und zieht zwecks ihres Studiums nach London. Hier kommt sie in einer WG unter, in welcher sie auf ihre Mitbewohnerin ...

Die brasilianische Doktorandin Catarina entstammt einer politisch einflussreichen Familie und zieht zwecks ihres Studiums nach London. Hier kommt sie in einer WG unter, in welcher sie auf ihre Mitbewohnerin Melissa stößt. Diese widerum ist in einer sozial schwachen Gegend Londons aufgewachsen, doch merken beide schnell, dass vor allem ihre Wurzeln sie verbinden. Denn auch Melissas Vorfahren mütterlicherseits stammen aus Brasilien, nur sie selbst hat ihre britische Heimat nie verlassen und weiß auch nicht viel vom Leben ihrer früh verstorbenen Mutter in Brasilien. Es ist 2016, beide Länder befinden in Zeiten politischer Umbrüche sowie gesellschaftlicher Spannungen. Im Vereinigten Königreich löst das Votum zum Brexit eine Welle politischer Erdbeben aus, und auch Brasilien kommt aufgrund andauernder Proteste gegen die politische Führung nicht zur Ruhe. Melissa und Catarina sind selbst beide politisch interessiert und aktivistisch unterwegs, darin bestrebt, die Welt zu einem besseren Ort zu machen.

Der Klappentext klingt so vielversprechend und auch das vielfältige Themenpotpourri, in das die Geschichte eingebettet ist, ist sehr spannend. Man erfährt einiges über die britische sowie vor allem über die brasilianische Zeitgeschichte: politische Unruhen, Putschversuche, Kolonialismus. Aber der Schreibstil hat leider alles verhagelt. Fowler verliert sich in ihrer Geschichte häufig in Belanglosikeiten. Die Art des Schreibens ist sehr artifiziell, experimentierfreudig und zeichnet sich durch einen überwiegend fragmentarischen Charakter aus. Eine sehr gewundene, ausufernde und unstringente Erzählweise, die irgendwie auf kein Ergebnis kommt - kann man mögen, aber ich hab einfach nicht verstanden, wie dieses Buch funktioniert und worauf es hinauslaufen soll.
Nicht jedes Buch muss Spaß machen, aber dieses war leider überhaupt nichts für mich. Ich habe das Buch in seiner Quintessenz schlichtweg nicht verstanden, weshalb ich irgendwann den Faden komplett verloren habe und es nach der Hälfte erleichtert abgebrochen habe. Ein Buch, das keinen Spaß gemacht hat und eher einer formalen Achterbahnfahrt glich, keine Empfehlung.

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Veröffentlicht am 17.07.2023

Musste mich sehr durchkämpfen

Als lebten wir in einem barmherzigen Land
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Anna ist Lehrerin einer angesehenen Schule in London und verbringt ihren Berufsalltag angesichts der Corona-Pandemie vor den verpixelten Zoom-Kacheln ihrer Grundschüler und ihren Alltag mit ihrem bei ihr ...

Anna ist Lehrerin einer angesehenen Schule in London und verbringt ihren Berufsalltag angesichts der Corona-Pandemie vor den verpixelten Zoom-Kacheln ihrer Grundschüler und ihren Alltag mit ihrem bei ihr wohnendem erwachsenen Sohn. Schon immer will Anna dass es allen gut geht, und so versucht sie Tag für Tag ihre Schüler zu beglücken und auch ihren Sohn Paul zufriedenzustellen.
Bereits in ihrer Jugend lebte sie ihre wohlwollende Seite aus, verbrachte viel Zeit als Aktivistin in einer Artistengruppe, die häufig durch Protestaktionen auffiel und die Kriegs- und Sozialpolitik der Regierung anprangerte - jedoch immer auf die friedliche Art. Stets bemühten sie sich, durch die Kunst der Unterhaltung die Menschen auf Ungerechtigkeiten und alle möglichen Arten von Elend und menschenverursachten Leid hinzuweisen und sie dadurch zu motivieren, durch Handeln und Solidarität für Gerechtigkeit zu sorgen und durch eigene Selbstlosigkeit zufriedener zu werden. Bald schon schließt sich ein neues Mitglied der Artistenguppe an. Bis dato gab es keine größeren, einschneidenden Vorkommnisse, doch das Neumitglied entpuppt sich als verdeckter Ermittler der Polizei, der zugleich die Rolle des Agent Provocateur aufs Beste auslebt und die Gruppe zu einer schwerwiegenden Straftat animiert. Das Trauma des Verrats sitzt tief und nun, 20 Jahre später, stehen sich beide Parteien vor Gericht gegenüber. Und die nach wie vor gutmütige Anna muss sich sowie ihre moralischen Prinzipien hinterfragen: muss man auch unbarmherzigen Menschen gegenüber barmherzig sein? 

Ich fand das Buch relativ unzugänglich, da es sich nicht nur sehr komplexen Themen widmet, sondern auch dem Sprachfluss recht schwierig zu folgen war. Ab der zweiten Hälfte lief es besser, aber Kennedys Roman ist definitiv ein Werk, für das man sich Zeit nehmen muss - mein Interesse hat jedoch nach dem schon schleppenden Beginn rasant nachgelassen. Thematisch ist der Roman sehr reich bestückt, doch aufgrund dieser Multidimensionalität wird vom Leser hohe Konzentration und so einiges an Hintergrundwissen bezüglich der Thatcher-Zeit, des Brexit sowie der heutigen gesellschaft-politischen Notlage innerhalb des Vereinigten Königreichs gefordert.
Erzählt wird die Geschichte aus wechselnder Sicht von Anna und aus dem Leben des Undercover-Cops namens „Buster“, was für eine gute Portion Auflockerung sorgte. Insgesamt kam mir jedoch der Spannungsbogen zu kurz, und die irgendwie doch insgesamt recht unglaubwürdige und schwer nachzuvollziehbare Geschichte lief relativ zäh vor sich hin. Kennedy drückt sich gewählt und vor allem mitunter auch schwer metaphorisch aus, jedoch nicht unbedingt auf die eingängige Art, weshalb bei mir kein Flow aufkam, der mich vollends begeistert hat. 
Alles in allem ist „Als Lebten wir in einem barmherzigen Land“ eine sehr anspruchsvolle Lektüre ohne Page-Turner-Effekt, die mich leider aufgrund ihres überfrachteten Wesens nicht richtig überzeugen wollte. Streckenweise war es wirklich thematisch höchstinteressant, aber leider musste ich mich überwiegend sehr durch die knapp 500 Seiten kämpfen und daher wird mir dieser Roman nicht lange im Kopf bleiben.


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Veröffentlicht am 07.05.2023

Wunderbar

Jahreszeit der Steine
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"Ich befinde mich im Zentrum des Lebens, es ist wie im Sommer, wenn alles auf einmal blüht und man nicht weiß, wohin man zuerst schauen soll, dieser Überfluss an Rede, an Streit, an Liebe [...] und nur ...

"Ich befinde mich im Zentrum des Lebens, es ist wie im Sommer, wenn alles auf einmal blüht und man nicht weiß, wohin man zuerst schauen soll, dieser Überfluss an Rede, an Streit, an Liebe [...] und nur an einem herrscht Mangel: an Zeit." (S. 302)

Doch ist es kein sonnendurchfluteter Sommertag, an den uns André Hille in seinem wunderbaren Roman entführt, sondern ein kaltgrauer Tag im November. Eine Zeit, die er als "Jahreszeit der Steine" betitelt und mit der er jene Epoche im Jahr ganz und gar zutreffend definiert, in welcher die Äcker brach liegen und die Steine des Bodens die Oberfläche zieren. Ein scheinbar trostloser Zustand leblos wirkender, abgeernteter Felder, die doch zeitgleich in größter Vorbereitung neusprießenden Lebens stehen. Über einen ganzen Tag hinweg begleiten wir den namenlosen Protagonisten: ein Ich-Erzähler, der augenscheinlich mit dem Autoren selbst gleichzusetzen ist. Er ist Vater dreier Kinder, verheiratet, und erzählt von seinen ganz gewöhnlichen Alltagsroutinen, stets darum bemüht, Familie, Freizeit und Beruf unter ein Dach zu bringen. Niemals rosig dargestellt, sondern total real. Und am Ende dieses ganz gewöhnlichen Dienstags im Herbst bleibt ihm lediglich die Frage: bin ich diesem Tag gerecht geworden?

Viel außergewöhnliches passiert in diesen 24 Stunden zwar nicht, aber es steckt so viel Liebe im Detail und das ist hierbei ganz klar die Sprache. Hillers scharfe Beobachtungsgabe, die selbst die kleinsten, feinsten Bestandteile des Lebens miteinfasst, verströmt eine ganz ruhige, ureigene Dramaturgie, die feinfühliger und sensibler nicht sein könnte. Voller Empathie und Emotionen ist dieses Buch ein gänzlich unaufgeregtes über den ganz gewöhnlichen Alltagswahnsinn, vom Leben auf dem Land, dessen Inhalt sich durch die sprachliche Ausdruckskunst im Gedächtnis des Lesers manifestiert und festankert. Die Wortwahl ist auf höchste Form bedacht, die Gedanken angenehm ausschweifend und immer wieder nachsinnend. Ein literarischer Strom ungezügelter, gar beflügelnder Gedankengänge, die gerne auch ins philosophische abdriften und mal hierhin, mal dorthin schwärmen; auch in die Kindheit des Autors, die er aus heutiger Sicht in eigener Rolle des Vaterseins reflektiert. Hille macht sich die Sprache in höchstem Geschick zu eigen und macht diesen Roman trotz so wenig Handlung doch so lebendig.

Ein überaus angenehmes Buch, das total ergreifend ist, obwohl es sich lediglich einen ganz normalen Alltag als Thema ausnimmt. Es lebt vom herumirren, vom vor sich hin sinnieren und ist eine ganz große, unerwartete Überraschung und damit auch ein komplettes Highlight für mich. Ich habe dieses Buch Seite für Seite genossen: wunderbar unaufgeregt, melancholisch und richtig, richtig toll zu lesen!

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Veröffentlicht am 04.05.2023

Heimelig

Das Café ohne Namen
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Es sind die 1960er-Jahre in Wien. Zeit und Gesellschaft sind geprägt von einer merkbaren Aufbruchstimmung, die aus dem noch gar nicht mal allzu fernen Ende des Krieges resultiert. Am Karamelitermarkt erfüllt ...

Es sind die 1960er-Jahre in Wien. Zeit und Gesellschaft sind geprägt von einer merkbaren Aufbruchstimmung, die aus dem noch gar nicht mal allzu fernen Ende des Krieges resultiert. Am Karamelitermarkt erfüllt auch Robert Simon sich seinen Traum: er bricht aus seinem Alltag als Gelegenheitsarbeiter am Markt aus und pachtet das örtliche Café am Rand des Marktes. Schnell etabliert es sich zum Treffpunkt der Arbeiter des Viertels und sonstigen Flaneuren auf der Suche nach Gesellschaft. Fortan beobachtet Robert als neuer Gastwirt die Menschen bei Kaffee, Bier und Schmalzbrot, bei Tag sowie bei Nacht, schnappt ihre Geschichten auf über Glück, Träume, das Leben und die Vergänglichkeit im Wandel der Zeit.

Der Roman war mein erster Seethaler, aber mir hat die warme, heimelige und doch zugleich sehr seichte Art des Erzählens von Beginn an sehr gut gefallen. Die Geschichte ist aus dem Alltag gegriffen und thematisch passiert gar nicht mal allzu viel, und dennoch verströmt das Werk einen sehr behaglichen, stillen und angenehmen Flair. Mit Robert Simon hat Seethaler einen komplett umgänglichen Protagonisten erschaffen, der wirklich sympathisch daherkommt und in den man sich prima einfühlen kann. Ich habe mich sehr wohlgefühlt in der Geschichte und hatte einige sehr schöne Lesestunden. Es wird ganz sicher nicht das letzte Buch sein, das ich von ihm gelesen habe!

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