Wunderbar
"Ich befinde mich im Zentrum des Lebens, es ist wie im Sommer, wenn alles auf einmal blüht und man nicht weiß, wohin man zuerst schauen soll, dieser Überfluss an Rede, an Streit, an Liebe [...] und nur ...
"Ich befinde mich im Zentrum des Lebens, es ist wie im Sommer, wenn alles auf einmal blüht und man nicht weiß, wohin man zuerst schauen soll, dieser Überfluss an Rede, an Streit, an Liebe [...] und nur an einem herrscht Mangel: an Zeit." (S. 302)
Doch ist es kein sonnendurchfluteter Sommertag, an den uns André Hille in seinem wunderbaren Roman entführt, sondern ein kaltgrauer Tag im November. Eine Zeit, die er als "Jahreszeit der Steine" betitelt und mit der er jene Epoche im Jahr ganz und gar zutreffend definiert, in welcher die Äcker brach liegen und die Steine des Bodens die Oberfläche zieren. Ein scheinbar trostloser Zustand leblos wirkender, abgeernteter Felder, die doch zeitgleich in größter Vorbereitung neusprießenden Lebens stehen. Über einen ganzen Tag hinweg begleiten wir den namenlosen Protagonisten: ein Ich-Erzähler, der augenscheinlich mit dem Autoren selbst gleichzusetzen ist. Er ist Vater dreier Kinder, verheiratet, und erzählt von seinen ganz gewöhnlichen Alltagsroutinen, stets darum bemüht, Familie, Freizeit und Beruf unter ein Dach zu bringen. Niemals rosig dargestellt, sondern total real. Und am Ende dieses ganz gewöhnlichen Dienstags im Herbst bleibt ihm lediglich die Frage: bin ich diesem Tag gerecht geworden?
Viel außergewöhnliches passiert in diesen 24 Stunden zwar nicht, aber es steckt so viel Liebe im Detail und das ist hierbei ganz klar die Sprache. Hillers scharfe Beobachtungsgabe, die selbst die kleinsten, feinsten Bestandteile des Lebens miteinfasst, verströmt eine ganz ruhige, ureigene Dramaturgie, die feinfühliger und sensibler nicht sein könnte. Voller Empathie und Emotionen ist dieses Buch ein gänzlich unaufgeregtes über den ganz gewöhnlichen Alltagswahnsinn, vom Leben auf dem Land, dessen Inhalt sich durch die sprachliche Ausdruckskunst im Gedächtnis des Lesers manifestiert und festankert. Die Wortwahl ist auf höchste Form bedacht, die Gedanken angenehm ausschweifend und immer wieder nachsinnend. Ein literarischer Strom ungezügelter, gar beflügelnder Gedankengänge, die gerne auch ins philosophische abdriften und mal hierhin, mal dorthin schwärmen; auch in die Kindheit des Autors, die er aus heutiger Sicht in eigener Rolle des Vaterseins reflektiert. Hille macht sich die Sprache in höchstem Geschick zu eigen und macht diesen Roman trotz so wenig Handlung doch so lebendig.
Ein überaus angenehmes Buch, das total ergreifend ist, obwohl es sich lediglich einen ganz normalen Alltag als Thema ausnimmt. Es lebt vom herumirren, vom vor sich hin sinnieren und ist eine ganz große, unerwartete Überraschung und damit auch ein komplettes Highlight für mich. Ich habe dieses Buch Seite für Seite genossen: wunderbar unaufgeregt, melancholisch und richtig, richtig toll zu lesen!