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Veröffentlicht am 17.10.2021

Ein Wohlfühlbuch

Die Mitternachtsbibliothek
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Als Nora beschließt ihr Leben zu beenden, landet sie nicht im Jenseits, sondern in der Mitternachtsbibliothek - ein Schwellenort zwischen Leben und Tod, an dem die Zeiger der Uhr immer auf 00:00 stehen. ...

Als Nora beschließt ihr Leben zu beenden, landet sie nicht im Jenseits, sondern in der Mitternachtsbibliothek - ein Schwellenort zwischen Leben und Tod, an dem die Zeiger der Uhr immer auf 00:00 stehen. In hohen Regalen türmen sich unendlich viele Bücher, deren Inhalt sich um ziemlich genau ein einziges Thema dreht: das Leben Noras in zahlreichen Variationen. Jedes Leben, das sie hätte führen können, ist hier zu finden und in greifbarer Nähe - sowohl die vorstellbaren, als auch die eher unwahrscheinlicheren Lebensläufe Noras. Denn jede noch so kleine Entscheidung im Leben birgt sowohl das Wunder als auch die Gefahr in sich, ein Leben in eine komplett andere Richtung zu lenken, vom Pfad abzukommen und neue, nie zuvor erdenkliche Wege aufzuzeigen.
An die Hand genommen wird Nora an diesem besonderen Ort von ihrer ehemaligen Schulbibliothekarin, denn hier kann sie selbst aus all diesen verschiedensten Lebensentwürfen einige auswählen und selbst ausprobieren, um vielleicht den Weg zu finden, mit dem sie dem Glück und der Zufriedenheit näher kommt als in ihrem Ausgangsleben. Dazu liest sie die Bücher nicht, sondern wird komplett in sie hineingesogen, nimmt den Platz einer anderen Version ihrer Selbst ein und versucht sich in diesem ihr teils fremden, teils bekannten Leben zurechtzufinden. Und hier zeigt uns das Buch, wie nah Traum und Albtraum beieinander liegen können, dass doch nicht alles im Leben so bedeutend ist wie wir denken und dass das Glück auch in den kleinen Dingen zu finden ist - die man aber auch erstmal erkennen muss!

Bei mir hat sich rasend schnell ein angenehm leichter Lesefluss eingestellt. Das Buch besticht zwar nicht gerade aus allzu viel charakterlich-ausgefeilter Tiefe, aber es ist Lebensbejahend und ich bin einige wirklich schöne Lesestunden darin versunken.
Eine altbekannte Idee ist hier wirklich schön umgesetz worden - denn schließlich haben wir uns doch alle schon mal gefragt, wie unser Leben heute aussehen würde, wenn wir uns an einem gewissen Punkt in der Vergangenheit für einen anderen Weg entschieden hätten. Klare Leseempfehlung von mir für eine seichte Geschichte über das Leben, ein perfekter Wohlfühlroman für den Herbst, in toller Übersetzung von Sabine Hübner.

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Veröffentlicht am 11.10.2021

Gut, aber zu bemüht

Identitti
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Nivedita, Tochter einer polnischen Mutter und eines indischen Vaters, schreibt auf ihrem Blog namens "Identitti" über - nunja - Identität. Seit einem Besuch bei ihrer Cousine Priti in der indischen Community ...

Nivedita, Tochter einer polnischen Mutter und eines indischen Vaters, schreibt auf ihrem Blog namens "Identitti" über - nunja - Identität. Seit einem Besuch bei ihrer Cousine Priti in der indischen Community Birminghams macht Nivedita sich zunehmend Gedanken über ihre eigene Identität und Zugehörigkeit - wurde sie dort schließlich von den anderen Kindern als 'Coconut' (außen braun, innen weiß) verspottet. Mittlerweile ist sie in ihren Mittzwanzigern, studiert in Düsseldorf Postcolonial Studies und hat in ihrer angesehenen Professorin Saraswati endlich ein selbstbewusstes Vorbild gefunden, welches ihr den Weg zur Selbstbekenntnis ebnet. Doch dann wird Saraswatis wahre Identität durch alte Fotos enttarnt - denn Niveditas Lieblingsprofessorin ist eigentlich weiß und heißt in Wirklichkeit Sarah Vera! Ein gefundenes Fressen für die Presse, Schlagzeilen wie "weiße Frau gibt sich als PoC aus" fluten nicht nur die deutsche Boulevardpresse, sondern erregen auch International die Gemüter. In rasantem Tempo bricht die Credebility der Starprofessorin zusammen und für Nivedita als Lieblingsstudentin von Saraswati gilt wohl - mitgehangen, mitgefangen. Nun steht ihr Weltbild auf dem Kopf, und wütend begibt sie sich zu Saraswatis Wohnung, fordert Antworten und Erklärungen ein und tritt eine hitzige Diskussion los, die sich um Identität und Race als soziales und wandelbares Konstrukt dreht.

Ja, und nicht nur das. "Identitti" umfasst ein weitgefächertes und brandaktuelles Debattenspektrum der heutigen Gesellschaft, verhandelt Themen wie Rassismus, White Privilege, Cultural Appropriation und Gender, lässt dazu auf erster Ebene Niveditas akademisches Umfeld zu Wort kommen, gibt aber auch dem allzu realistischen und erwartbaren Shitstorm der Onlinemedien sowie dem nie allzufernen Twittermob eine Stimme. Der wirklich vielstimmige Roman regt zweifelsfrei zum nachdenken an, ob Identität tatsächlich ein soziales Konstrukt, sprich modellierbar ist - und ich kann verstehen, dass Identitti auf der Shortlist des Deutschen Buchpreises steht. Mir war es jedoch insgesamt etwas zu überladen. Der Schreibstil war erfrischend, aber meiner Meinung nach sehr bemüht darum 'hip' zu sein; die Protagonisten fand ich leider allesamt recht blass und unsympathisch - wenngleich sie auch Wiedererkennungswert besitzen. Klipp und klar ein ganz unterhaltsames Schreibexperiment, dem man das Herzblut Sanyals anmerkt (es ist gut - keine Frage), aber für mich nicht so ganz überragend wie erwartet.

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Veröffentlicht am 23.09.2021

Lieblingsbuch

Ein wenig Leben
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Was hat Hanya Yanagihara hier bitte für ein unsagbar krasses Werk geschrieben? Es ist für mich kaum zu fassen, dass eine fiktive Geschichte mich dermaßen durchschütteln konnte. Zwischendurch kam mir die ...

Was hat Hanya Yanagihara hier bitte für ein unsagbar krasses Werk geschrieben? Es ist für mich kaum zu fassen, dass eine fiktive Geschichte mich dermaßen durchschütteln konnte. Zwischendurch kam mir die emotionale Wucht des Buches zwar immer mal wieder entgegengeschlagen (hier und da war die Sicht auch mal getrübt durch das ein oder andere Tränchen), doch hätte ich NIE gedacht, dass mich dieses Buch am Ende so zerstört zurücklässt; das Ende hat mich quasi aus dem Sofa katapultiert. Da saß ich also, das Buch ausgelesen, und habe geheult wie ein Schlosshund.

Was kann man hier aber zur Handlung sagen, ohne zu spoilern? Wenig wohl. Wir begleiten die Freundschaft vierer Männer vom College bis ins hohe Alter und lernen dabei Stück für Stück die Vergangenheit vom eigentlichen Protagonisten Jude kennen. Ein zutiefst gebrochener Mann, dem das Leben zuwider spielt. Nach jedem Höhenflug kommt ein erneuter Fall, nach jedem Glücksschlag die Katastrophe. Jedem Schmerz folgt ein noch größerer Schmerz, und immer wenn man denkt es kann nicht noch schlimmer werden, wird es tatsächlich schlimmer. Durch die annähernd 1000 Seiten gelingt der Autorin ein unglaublich detailliertes Charakterportrait eines Menschen, der sich nicht von allerhand traumatischen Erfahrungen aus der Vergangenheit lösen kann, und der seine Existenz nur damit gerechtfertigt sieht, um von anderen gehasst zu werden - "Manchmal bin ich glücklich, und muss mir in Erinnerung rufen, dass ich es nicht sein sollte." (S. 480). Uff.

Doch wie viel Leid kann ein einzelner Mensch ertragen - und wie viel Elend kann man seiner Leserschaft zumuten? Aus psychischer Sicht ist das Buch krass harte Kost, neben vielen positiven Wendungen überwiegen immer wieder die Schlechten. Zwischendurch musste ich ab und zu Abstand vom Buch aufbauen, etwas seichteres Lesen, aber recht zügig habe ich dennoch wieder zu diesem Buch hier gegriffen. Es hat mich halt doch über einige Wochen komplett eingenommen.

Jude führt ein von Resignation geprägtes Leben in vollkommener Verzweiflung und geht einem wahnsinnig ans Herz. Seine Geschichte dringt vorn bis hinten unter die Haut, ist wirklich großartig geschrieben und wird mir sicherlich für immer im Gedächtnis bleiben. Bin ganz hin und weg, ganz große Liebe für das Buch. Unbedingt lesen, wenn noch nicht getan.

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Veröffentlicht am 21.09.2021

Surreal- halluzinierend - fantastisch

Weiße Nacht
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"Weiße Nacht" beginnt mit dem letzten Tag Ayamis im einzigen Akustiktheater Seouls, bevor das Theater aufgrund mangelndem Interesse seitens der Öffentlichkeit geschlossen wird. Komplett perspektivlos zieht ...

"Weiße Nacht" beginnt mit dem letzten Tag Ayamis im einzigen Akustiktheater Seouls, bevor das Theater aufgrund mangelndem Interesse seitens der Öffentlichkeit geschlossen wird. Komplett perspektivlos zieht sie die darauf folgende Nacht mit dem Theaterdirektor durch die kochend heißen Gassen Seouls, durch eine bizarre Welt, deren Grenzen von Realität und Fiktion verschwimmen.

Was für eine Stimmung hier herrscht! Der Roman liest sich wie ein surrealer Traum, ist diffus, magisch, halluzinierend, wunderlich. Oder wie es Ayami formuliert: "Es ist, als sei man in einem Traum. [...] Wohin gehen wir?" (S.65). Tatsächlich weiß man nicht, wohin es geht, man kann sich ausschließlich von den Protagonisten und deren Gedanken durch diesen beinahe luftleeren Raum mitziehen lassen - eine gewisse Richtung lässt sich kaum erahnen.
Begebt euch mit den Protagonisten auf Streifzüge durch eine vollkommen schwarze und verlassene Stadt, in der Dinge nur schemenhaft erkennbar sind, flimmernde Träume und Visionen aufleuchten, wo Zeit und Realität verschmelzen, Doppelgänger auftreten und man nie weiß, wer wirklich wer ist. Lasst eure Gedanken zerfließen, lasst euch auf das Spiel mit den Darstellern ein, gebt euch dem Sog hin. Die Sprache ist hochwertig, aber zugänglich - doch das Verstehen ist fordernd. Bestimmte Phrasen und Wörter werden kontinuierlich wiederholt, stellen aber immer wieder neue Sinnzusammenhänge her. Die Handlung, in kleinen Happen serviert, dehnt sich aus und zieht sich pulsartig wieder zusammen. Die Handlungsfetzen scheinen Symbiosen zu bilden, und trennen sich kurz darauf doch wieder, schweifen ab - alles ist in Bewegung und steckt zugleich irgendwie fest. Ich weiß nicht, wie man dem Buch gerecht werden könnte, ich weiß nicht, wie ich das Buch sonst beschreiben könnte. Es war ein total außergewöhnliches Lesevergnügen, ein abstraktes Kunstwerk in Buchform, ein verrücktes Buch - lasst euch darauf ein. Leseempfehlung!

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Veröffentlicht am 15.09.2021

Hat mich berührt

Reise durch ein fremdes Land
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Wenige Tage vor Weihnachten begibt sich Tom auf eine Autofahrt durch ein vom Wintereinbruch geplagtes Land, um seinen kranken Sohn Luke zum Fest nach Hause zu holen. Zutiefst verschneite Straßen erschweren ...

Wenige Tage vor Weihnachten begibt sich Tom auf eine Autofahrt durch ein vom Wintereinbruch geplagtes Land, um seinen kranken Sohn Luke zum Fest nach Hause zu holen. Zutiefst verschneite Straßen erschweren ihm die Reise, doch auch die Geister seiner Vergangenheit sind nur allzu präsent. Beruflich als Fotograf tätig, betrachtet Tom die vergangenen Jahre wie durch die Linse seiner Kamera, reflektiert während der Fahrt wie in Schnappschüssen sein Leben. Und in der Stille seiner Gedanken nähert er sich zusehends dem Punkt, an dem sein Leben aus den Fugen geraten ist und seine Familie nachhaltig ins Schlingern kam.

Tom kämpf sich durch die Kälte und Einsamkeit, die ihn im Schneechaos umgibt, sich aber auch in ihm selbst verbirgt. Auf der langen Fahrt kehren peu a peu schmerzhafte Erinnerungen an seinen ältesten Sohn Daniel zurück, nie verwundene Schuldgefühle brechen über den dreifachen Vater herein. Er blättert sich durch das Album seiner Vergangenheit, gewährt dem Leser Bild für Bild einen zutiefst menschlichen Einblick in seine Seele und zurückliegende Ereignisse, mit denen er bisher keinen Frieden schließen konnte.

Ich muss sagen, in der der ersten Hälfte fand ich's recht schwach, aber dann hat es wirklich an Fahrt aufgenommen, bis am Ende alles implodiert. Erinnerung und Gegenwart werden miteinander verwoben und wirken wie ein Fiebertraum, in dem sich ein Vater auf der Suche nach Erlösung und Selbstvergebung scheinbar komplett hingibt. Eine Geschichte der Trauer, zum Teil am Rande der menschlichen Verzweiflung - Tom zeigt uns einen von der Öffentlichkeit gut verwahrten Einblick in das Innere seiner Kamera, durchbricht langsam die dichte Eisschicht seiner Vergangenheit. Kein wohliges Buch, aber definitiv ein passendes für dunkle Herbstabende - Toms Einblick in seine Seele hat mich berührt.

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