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Meinungen aus der Lesejury

Veröffentlicht am 10.08.2021

Komplexe Sprache

Auf Erden sind wir kurz grandios
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Little Dog wächst als Sohn einer vietnamesischen Einwandererfamilie zusammen mit Mutter und Großmutter in den USA auf. Die Mutter ist Analphabetin, und doch ist das gesamte Buch als Brief an sie konzipiert. ...

Little Dog wächst als Sohn einer vietnamesischen Einwandererfamilie zusammen mit Mutter und Großmutter in den USA auf. Die Mutter ist Analphabetin, und doch ist das gesamte Buch als Brief an sie konzipiert. Als Protagonist beschreibt Little Dog in ich-Form fragmentarisch auserwählte Erlebnisse seines Lebens, und zwar mit scharfer Beobachtungsgabe und in sanften Worten. Vuong ist selbst mit zwei Jahren nach Amerika immigriert, schreibt in seinem Debütroman daher autofiktional über die Lasten des Lebens in der Fremde, thematisiert Heimatlosigkeit, Identität, Familie und Liebe, spannt einen Zeitbogen von Kindheit bis ins junge Erwachsenenalter.

Ich tu mich ein wenig schwer mit einer Bewertung, da mich der Roman gespalten zurücklässt. Es war mir sprachlich oft "zu viel", zu ausgetüftelt, die Schachtelsätze "zu gewollt", sodass ich mich nicht ganz auf die Geschichte einlassen konnte - und leider habe ich dann gedanklich oft einfach abgeschaltet. Ich verstehe die Lobeshymnen durchaus, Vuongs Sprache ist beeindruckend und besitzt hohen Wiedererkennungswert, aber für mich besitzt ein guter Roman eben auch "mehr" als eine schöne Sprache. Mir wird das Buch also insgesamt als ein eher mühsames Leseerlebnis in Erinnerung bleiben, das zwischendurch leider manchmal langweilig und mir einfach zu wirr geflochten war. Wer jedoch ein sprachlich komplexes Erlebnis sucht, die Sprache über den Inhalt stellen kann und diese wirklich hohe Sprachkunst zu schätzen weiß, wird hier einen kleinen Schatz finden.

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Veröffentlicht am 31.07.2021

Ein richtig gutes Debüt!

Junge mit schwarzem Hahn
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Martin wächst in einem unscheinbaren Dorf auf, Eltern und Geschwister längst durch die Hand seines scheinbar wahnsinnigen Vaters getötet. Doch er ist nicht allein, trägt immerzu einen schwarzen Hahn bei ...

Martin wächst in einem unscheinbaren Dorf auf, Eltern und Geschwister längst durch die Hand seines scheinbar wahnsinnigen Vaters getötet. Doch er ist nicht allein, trägt immerzu einen schwarzen Hahn bei sich auf der Schulter, sein einziger Besitz. Während die Dorfbewohner im Hahn die Inkarnation des Teufels sehen und den Jungen verachten, ist der Hahn stets treuer Gefährte und Beschützer Martins. Auch, als sich der Junge mit einem Wandermaler auf Reisen begibt, um der Bedeutung eines jährlichen Unheils nachzuspüren. So werden einer alten Überlieferung nach jedes Jahr zwei Kinder durch den Schwarzen Reiter entführt, doch wohin genau weiß niemand. Als der Junge und sein Hahn dabei anwesend sind, wie dieses Mal ein Mädchen ihres Dorfes mitgenommen wird, fühlt Martin sich wie vom Schicksal dazu berufen, die entführten Kinder zu finden.

Eigentlich wollte ich nur mal kurz reinlesen und habe das Buch dann an einem Tag verschlungen, die Geschichte von Martin und seinem Hahn hat mich sofort in ihren Bann gezogen. Vieles deutet auf eine mittelalterliche Szenerie hin, aber weder Zeit noch Ort sind klar ausgewiesen. Die Sprache ist fast schon sachlich, der Unterton ein wenig naiv - aber da Martin noch ein Kind ist, passt das gut. Auf der Reise erlebt Martin eine karge Welt zwischen Hunger, Krankheit und Elend. Seine Gabe ist die Kraft der Worte und seine kindliche Unschuld, mit der er oft aneckt, aber auch angehört wird. Die Autorin zeichnet außergewöhnliche Charaktere, thematisiert Aberglaube und Tyrannei, teilweise auch sehr düster, aber oftmals gespickt mit einer großen Portion Witz.
Ein bisschen märchenhaft, ein bisschen pikaresk, teilweise mit gesellschaftskritischem Unterton und viel Interpretationsraum. Ein richtig gutes Debüt, das vom Setting ein bisschen an Kehlmanns Tyll erinnert und mich total gut unterhalten konnte.

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Veröffentlicht am 29.07.2021

Über das Private

Niemehrzeit
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2018 verliert Christian Dittloff beide Eltern. Erst den Vater, wenige Monate später die Mutter. Doch erst mit dem Tod der Mutter ist er plötzlich 'Elternlos'. Schock und Ratlosigkeit sitzen tief. Aber, ...

2018 verliert Christian Dittloff beide Eltern. Erst den Vater, wenige Monate später die Mutter. Doch erst mit dem Tod der Mutter ist er plötzlich 'Elternlos'. Schock und Ratlosigkeit sitzen tief. Aber, keine Eltern mehr und Kinderlos - ist das vielleicht die große Freiheit? Dittloff weiß es nicht, aber manchmal fühlt es sich so an. Und, vielleicht doch lieber so, als wenn Pflegefall?

Dittloff beschäftigt sich in seinem Roman viel mit sich selbst und zeigt sich von seiner verwundbaren Seite. Er reflektiert über den Tod und die Zeit davor, forscht ein bisschen in der eigenen Geschichte und der seiner Eltern. Und schreibt von dem, auf das man sich nicht vorbereiten kann. Die plötzliche Überforderung mit Alltag und Bürokratie, das Leben, das irgendwie weitergeht, aber plötzlich eher vorbeizuziehen scheint. Er nimmt sich selbst zurück, findet große Hilfe im Schreiben und Lesen, in der Freundschaft und Liebe.

Dittloff hat einen bewegenden Roman über Trauer und Trost, Wut und Sprachlosigkeit geschaffen, gibt einen privaten Einblick in seine Zeit der Verarbeitung und Akzeptanz. Oft ratlos, viel rastlos, aber vor allem sehr intim und empathisch. Ein äußerst mitnehmendes Leseerlebnis.

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Veröffentlicht am 26.07.2021

Aufwühlend und erschütternd

Die Überlebenden
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,Was ist passiert?', fragt sich Schulmann zu Beginn seines Debütromans und nimmt dabei Bezug auf sein eigenes Leben. Das Auseinanderleben zu seinen beiden Brüdern als autofiktionales Motiv in die Handlung ...

,Was ist passiert?', fragt sich Schulmann zu Beginn seines Debütromans und nimmt dabei Bezug auf sein eigenes Leben. Das Auseinanderleben zu seinen beiden Brüdern als autofiktionales Motiv in die Handlung eingespannt, legt er mit "Die Überlebenden" einen berührenden und aufwühlenden Roman vor, den ich sehr, sehr, sehr empfehlen kann.

Einen Tag vor der Beerdigung ihrer Mutter entdecken die erwachsenen Brüder Benjamin, Pierre und Nils beim Durchstöbern der Wohung nach letzten Erinnerungsstücken einen an sie adressierten Brief. Die Bitte, ihre Asche im angrenzenden See des alten Sommerhauses der Familie zu verstreuen, lässt die Brüder kurzerhand mit einer gestohlenen Urne durch Schweden fahren und dabei bemerken, wie fremd sie einander über die Jahre geworden sind.
In jenem abgelegenen Sommerhaus am See durchbricht ein Erzählstrang aus der Kindheit der Brüder die gegenwärtige Handlung. Ohne Freunde oder Nachbarn verbringen die Drei allein mit ihren Eltern einen Sommer fern der Zivilisation, dessen tragischer Ausgang die Familie für viele Jahre auseinandertreibt. Was ist also passiert?

Die jungen Brüder durchlaufen eine Kindheit voller seelischen und körperlichen Schmerz, der insbesondere dem erhöhten Alkoholkonsum der Eltern geschuldet ist. Alle drei buhlen fortlaufend um die Liebe und Zuneigung der Eltern, werden aber immer wieder zurückgewiesen und sich selbst überlassen. Ein Buch voller ungesagter Worte, mangelnder elterlicher Zuneigung und über ein niemals überwundenes Trauma, das viele Jahre später aufgearbeitet werden soll. Recht einfach und flüssig geschrieben, aber dafür ans Herz gehend und mit ergreifender Auflösung.

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Veröffentlicht am 23.07.2021

Erwachsenwerden in Neapel

Das lügenhafte Leben der Erwachsenen
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Giovanna lebt mit ihren Eltern in Vomero, einem wohlhabenden und gepflegten Stadtteil von Neapel. Hier oben, auf dem gleichnamigen Hügel mit Ausblick auf die tiefergelegene Stadt und das Meer, verläuft ...

Giovanna lebt mit ihren Eltern in Vomero, einem wohlhabenden und gepflegten Stadtteil von Neapel. Hier oben, auf dem gleichnamigen Hügel mit Ausblick auf die tiefergelegene Stadt und das Meer, verläuft ihre Kindheit in geregelten Bahnen. Dies ändert sich schlagartig, als sie ihren Vater eines Tages hinterrücks reden hört, sie würde seiner Schwester Vittoria immer ähnlicher sehen. Ausgerechnet jener Tante, die ihren Eltern als Personifikation körperlicher und sittlicher Hässlichkeit gilt.
Somit fühlt sich die Dreizehnjährige erstmals darin bestrebt, sich auf Spurensuche in das tiefergelegene Neapel zu begeben - denn hier soll sie leben, in dieser gegensätzlichen und rauen Gegend. Und dann zieht es sie immer wieder hin zu ihrer Tante und in deren Umfeld, und Giovanna öffnet sich nach und nach eine Welt, die sie zugleich fasziniert und abschreckt.

Mit ihrem Grenzübertritt in den unbekannten, fremden Teil Neapels sowie diesen fremden Teil ihrer eigenen Familie, lernt Giovanna das wahre, unperfekte Leben der Erwachsenen kennen, indem sie immer öfter die Bequemlichkeiten des Lügens erkennt und mit jeder Begegnung selbst ein Stück erwachsener wird. Ständig schwankt sie hin und her, weiß nicht, wo sie eigentlich hingehört und wo sie wirklich hingehören will, leidet unter dem Familienkonflikt und dem Erwachsenwerden. Und dann macht sie im Verlauf des Buches eine richtig tolle Charakterentwicklung durch. Ferrante zeichnet unheimlich spannende Charaktere, alle mit Ecken und Kanten, und schafft somit ein vielschichtiges Melodram voller Antihelden. Ein toller Roman über eine zerbrochene Familie, ein verwundetes Körperbild, Freundschaft, Betrug und Loyalität. Das Ende war mir aber leider zu derb.

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