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Veröffentlicht am 18.06.2021

Starke Charakterkonstellation

Von hier bis zum Anfang
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Die dreizehnjährige Duchess lebt mit ihrem kleinen Bruder Robin in einer überschaubaren Kleinstadt an der Küste Kaliforniens. Ihre Mutter Star ist depressiv und schwer Suchtkrank, hat den Tod mit Fahrerflucht ...

Die dreizehnjährige Duchess lebt mit ihrem kleinen Bruder Robin in einer überschaubaren Kleinstadt an der Küste Kaliforniens. Ihre Mutter Star ist depressiv und schwer Suchtkrank, hat den Tod mit Fahrerflucht ihrer Schwester vor über 30 Jahren nie überwinden können. Kaum noch wahrnehmbar als Erziehungsperson für die beiden Kinder, muss die kleine Duchess die Rolle der Erwachsenen in der Familie übernehmen und kümmert sich hingebungsvoll um Bruder und Mutter. Als der angebliche Mörder aus dem Gefängnis entlassen wird und in die Stadt zurückkehrt, wird die Familie um Duchess erneut von einem schrecklichen Unheil erschüttert. Währenddessen kämpf der Kleinstadtsheriff Walk mit den Geistern seiner Vergangenheit und versucht, die Unschuld des Mörders, der zugleich sein bester Freund aus Kindheitstagen ist, zu beweisen.

Whitaker hat ein starkes Buch über Trauma, Wut und Rache, Schmerz und Ohnmacht geschrieben. Das Buch rollt eine Geschichte um vergangene Zeiten auf, die sich bis in die Zukunft der jungen Duchess und ihres Bruders ziehen, wodurch die Story schon stark in Richtung Krimi tendiert. Protagonistin Duchess bezeichnet sich selbst als Outlaw, eine Gesetzlose, die kein Blatt vor den Mund nimmt. Sie ist klug für ihr junges Alter und beschützt ihre Familie, doch sie begeht zuweilen einige schwerwiegende Fehler, welche die Handlung zwischendurch in eine andere Richtung lenken und somit die Geschichte voranpreschen. Ein starker Charakter, unter dessen Oberfläche ein verletzliches Kind steckt, das selten, aber ab und zu durchscheint. Das Buch wird mit seiner Ähnlichkeit zu Delia Owens 'Gesang der Flusskrebse' beworben. Thematisch durchaus vergleichbar; in beiden Romanen kämpfen sich starke Mädchen, auf sich allein gestellt durchs Leben, unterlegt von einer seichten Krimihandlung, gepaart mit einer Familiengeschichte. Aus meiner Sicht ist dieser Roman athmosphärisch zwar nicht ganz so stark wie der von Owens und er hatte zwischendurch einige Längen - ich bin mir aber sicher, der Roman hier wird trotzdem ein Bestseller.

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Veröffentlicht am 09.06.2021

Identität und Wurzeln

Die Unbezwingbare
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"Meine Absicht ist es, die Geschichte mit der Stimme derjenigen zu erzählen, die zum Schweigen gebracht worden sind."

Und so erzählt die finnische Autorin Katja Ketting über die verlorenen Kinder der ...

"Meine Absicht ist es, die Geschichte mit der Stimme derjenigen zu erzählen, die zum Schweigen gebracht worden sind."

Und so erzählt die finnische Autorin Katja Ketting über die verlorenen Kinder der Ojibwe, einer indigenen Bevölkerungsgruppe im Norden Amerikas an der Grenze zu Kanada. Eine Geschichte über geraubte Identitäten, das Vergessen und Verdrängen, sowie über die gewaltige Wucht des Erinnerns. Historischer Rahmen des Romans ist die finnische Immigration im 19. & 20. Jahrhundert auf den nordamerikanischen Kontinent, die auch an den Grenzen des Reservats der Ojibwe nicht anhielt. Mit sorgfältig recherchiertem Hintergrundwissen porträtiert Ketting in diesem Buch ein Einzelschicksal in durchaus anspruchvoller Sprache.

Lempi ist Tochter eines finnischen Immigranten und einer dem Stamm der Ojibwe angehörigen indigene Amerikanerin. Nach dem plötzlichen Verschwinden ihrer Mutter Rose vor mehr als 40 Jahren kehrt Lempi erstmals in das Reservat ihrer Kindheit zurück, um der Vergangenheit entgegenzutreten und sich auf Spurensuche nach den damaligen Geschehnissen zu begeben. Rose hat nichts zurückgelassen, außer einem Bündel selbstgeschriebener Briefe anhand welcher Lempi versucht, die Fragmente ihres Lebens und ihrer eigenen Identität zusammenzufügen. Denn Lempi steht zwischen zwei Kulturen, gehört keiner so ganz an. Für die Mitglieder ihres Reservats ist sie zu weiß, für die Gesellschaft außerhalb des Reservats bleibt sie für immer das Kind einer Indigenen. Und während das Verschwinden von einer Indigenen wie Rose keine behördliche Aufmerksamkeit erregt, verschwindet mit Lempis Ankunft plötzlich ein weißes, blondes Mädchen.

Die Autorin schreibt mit einer sehr ausgeschmückten, detailverliebten und metaphorischen Sprache über Mensch und Natur. Ein in Briefform verfasster Roman über misshandelte und verlorengegangene Mädchen und Frauen, denen in religiösen Zwangsinternaten ihre Identität und kulturelle Zugehörigkeit genommen wurde. Interessant zu lesen, doch man muss sich auf die Sprache der Autorin einlassen, die zwar wunderschön und zart ist, aber schwierige Themen, Missbrauch und Machthierarchien in beklemmende Worte fasst. Es ist kein Buch für Zwischendurch, sondern erschütternd schwere Kost und zeigt Elend und Ungerechtigkeit auf. Ein wichtiges Werk über Identität und das Wiederfinden der eigenen Wurzeln, das mich in seinen Sog gezogen hat und noch lange beschäftigen wird.

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Veröffentlicht am 03.06.2021

Über Eskapisten und Utopisten

Sommer der Träumer
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"Mit einem Heißhunger, der so viel mehr wollte als die schmalen, kriegsversehrten Schatten unserer Eltern, saugten wir die Freiheit auf, für die sie gekämpft hatten."

Die griechische Insel Hydra in den ...

"Mit einem Heißhunger, der so viel mehr wollte als die schmalen, kriegsversehrten Schatten unserer Eltern, saugten wir die Freiheit auf, für die sie gekämpft hatten."

Die griechische Insel Hydra in den Sechzigern - Insel der Aussteiger, Künstler, Freigeistler. Die Insel lockt mit Freiheit für wenig Geld Bohemians aus aller Welt heran, sich dort in verträumter Kulisse dem Malen, Schreiben und Leben unter einfachsten Bedingungen zu widmen. Hierhin verschlägt es auch die junge Protsgonistin Erica aus England nach dem Tod ihrer Mutter. Mit ihrem Bruder schließt sie sich einer vor Ort sesshaften Künstlerkommune um Charmian Clift an. Darunter: Schriftsteller Axel Jensen und George Johnston, der junge Leonard Cohen und Marianne Ihlen. Doch hinter der Fassade bröckelt es, Intrigen, Herzschmerz und tumultartige Beziehungen überschatten die Idylle.

Das Buch holt uns zurück in die Zeit der freien, ungezügelten Liebe inmitten der wunderbaren Kulisse des Mittelmeers. Polly Samson fängt die Schönheit der Insel und die einzigartige Atmosphäre der Zeit in einer grandiosen Sprache ein. Sie verflechtet echte Menschen in einer gut recherchierten, aber fiktiven Geschichte, die weder einer stringenten Handlung folgt noch das Charakterliche der Protagonistin hervorhebt. Es gibt viele Charaktere, und den Beziehungen untereinander zu folgen kann manchmal schwierig sein, aber das ist auch gar nicht so wichtig. Das Buch konzentriert sich bewusst vielmehr auf die Schnappschüsse einer vergangenen Zeit, lässt Utopien aufleben und verleitet zum Davonträumen.
Die heißen Tage werden auf Bergen und Klippen verbracht, die Abende und Nächte bei lauen Temperaturen auf Terrassen, am Hafen und in Tavernen. Sie werden zu Orten des Betrinkens und der Diskussion.

Ein Buch über Träumer, Eskapisten und Utopisten, über Künstler und ihre Musen. Wer Lust hat, unter der Wärme der Inselsonne dem Alltag zu entfliehen und mit kreativen Legenden bei einem Glas Ouzo am Lagerfeuer zu sitzen, dem sei dieses Buch ans Herz gelegt. Für mich der perfekte Sommerroman.

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Veröffentlicht am 30.05.2021

Lesenswert!

Vater. Mutter. Kind. Kriegserklärungen
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Ein kleines, persönliches Stück Erinnerungsliteratur der Autorin über das Aufwachsen in den 1960er-Jahren, dem unterschätzten siebten Lebensjahr als Schwellenjahr zur beginnenden Jugend und den ersten ...

Ein kleines, persönliches Stück Erinnerungsliteratur der Autorin über das Aufwachsen in den 1960er-Jahren, dem unterschätzten siebten Lebensjahr als Schwellenjahr zur beginnenden Jugend und den ersten Begegnungen mit dem Ernst des Lebens.

Der Roman ist ein Blick in das Private, ein autofiktionaler Text der Linzer Schriftstellerin Margit Schreiber, die sich im Alter literarisch mit ihrer Kindheit auseinandersetzt. Mit der Einschulung beginnt eine neue Ära im Lebenslauf der Protagonistin: ein fantasievolles Kind trifft zwischen Kindheit und Jugend auf die ersten Probleme des Lebens.
Der spannende Aspekt im Buch ist ein steter Perpektivwechsel zwischen Alter und Kindheit, ein erwachsener Rückblick auf die jungen Jahre, die kindliche Verspieltheit und die unbeschwerte Naivität. Das siebte Lebensjahrzehnt gegen das siebte Lebensjahr, ab dem das Leben zum Krieg aufgebauscht wird. Beginnend mit den manchmal unverständnisvollen Eltern, dem strengen Nachbarn, unfairen Lehrern und der gemeinen Kassiererin.

Das Buch behandelt rückwirkend eine bunte Palette an Erfahrungen und Empfindungen, die Kinder manchmal zu hoch einschätzen, manchmal nicht verstehen und zunehmend hinterfragen. Erste Körperlichkeiten, das erste Mal Alleinsein, die ersten merkbaren Abweichungen vom Alltäglichen. Und doch geht es im Roman nicht um eine radikale Art von Kriegserklärungen, denn diese klingen hier nur im Beisein an. Das Buch ist keine Abrechnung mit dem Familiärem, wie der Titel vermuten lässt, sondern schildert Schritt für Schritt klein wirkende, doch prägende Konflikte der Kindheit, rund 70 Jahre später aus der Retrospektive betrachtet. Ein besonderes Stück Literatur, das ich gern gelesen habe.

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Veröffentlicht am 27.05.2021

Berührend

Halbmond über Heinde
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Aysha ist 15, als sie mit Bruder und Mutter aus Aleppo flieht. Doch als Einzige ihrer Familie erreicht sie Deutschland und wird von einer Pflegefamilie aufgenommen. Mit ihnen lebt sie fortan in einem alten ...

Aysha ist 15, als sie mit Bruder und Mutter aus Aleppo flieht. Doch als Einzige ihrer Familie erreicht sie Deutschland und wird von einer Pflegefamilie aufgenommen. Mit ihnen lebt sie fortan in einem alten Mühlhaus in einem kleinen Ort namens Heinde, wo sie versucht, in Deutschland anzukommen. Bald stolpert Aysha über eine düstere Legende über das Haus in dem sie wohnt und entdeckt starke Parallelen zu ihrem eigenen Leben. Doch während die Frau in der Legende von Räubern bedroht wird, sind Ayshas Feinde eine Gruppe Dorfrassisten.

Handlungsmäßig passiert wahnsinnig viel auf wenigen Seiten. Aysha erlebt während der Flucht schlimme Dinge, wird von ihrer Familie getrennt und muss sich nun allein in Deutschland zurechtfinden lernen. Sie beginnt mit dem Tagebuchschreiben und berichtet dem Leser aus dieser Sicht von ihren ersten Begegnungen mit Rassismus und Solidarität. Doch das Buch ist mit knapp 120 Seiten einfach zu kurz, um so viele Themen tiefgehend zu behandeln. Die Geschichte besteht zu großen Teilen aus Tagebucheinträgen, und dennoch bleibt Ayshas Person mir eher unnahbar. Trotzdem fand ich die Geschichte von Aysha angenehm zu lesen, denn sie kann exemplarisch für die vielen Einzelschicksale syrischer Flüchtlingsmädchen gelesen werden und ist doch ganz berührend für Zwischendurch.

Empfehlenswert vor allem für jene, die sich mit dem Thema Fluchterfahrung noch nicht beschäftigt haben. Ich kann mir das Buch tatsächlich ganz gut als Lektüre im Schulkontext vorstellen. Das Potential der Handlung wurde aber leider nicht ganz ausgeschöpft.

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