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Veröffentlicht am 29.02.2024

Eine Abenteuerreise ins Reich der Fabelwesen

Fast verschwundene Fabelwesen. Die sagenhafte Expedition des Konstantin O. Boldt
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“Fast verschwundene Fabelwesen - Die sagenhafte Reise des Konstantin O. Boldt” stammt aus der Feder von Florian Schäfer und wurde von Elif Siebenpfeiffer illustriert. Es handelt sich um das Expeditionstagebuch ...

“Fast verschwundene Fabelwesen - Die sagenhafte Reise des Konstantin O. Boldt” stammt aus der Feder von Florian Schäfer und wurde von Elif Siebenpfeiffer illustriert. Es handelt sich um das Expeditionstagebuch des Naturforschers Konstantin O. Bolt, der 1862 mit einer wagemutigen Truppe aus Mythozoologen und -Ethnologen, einem Magier und einer Nonne zur legendären und abenteuerlichen Letho Expedition aufbricht, um dem Schwinden der Fabelwesen auf die Spur zu kommen. Das Buch ist damit ein (fiktives) Zeitzeugnis einer alternative History.

Die Geschichte wird in Form von Tagebucheinträgen erzählt. Ergänzend dazu ist jede Seite mit Bildern, Zeichnungen, Skizzen, Feldnotizen, Zeitungsausschnitten und/oder Brieffragmenten illustriert. Nicht fehlen dürfen natürlich die Beschreibungen der Fabelwesen, der die Expedition auf ihrer zweijährigen Reise durch Europa begegnet. Auf jeder liebevoll gestalteten Seite gibt es viel zu entdecken - auch wenn die Handnotizen und die altdeutsche Schrift der angefügten Dokumente nicht immer einfach zu entziffern sind.
Die Expedition führt durch ganz Europa und folgt dabei lokalen Märchen, Legenden und eben Fabelwesen. Viele von ihnen sind im Verschwinden begriffen - nicht zuletzt durch die aggressive Expansion des Menschen, dessen exzessive Nutzung verfügbarer Ressourcen und seiner Kriegstreiberei. Damit hält das Buch auch gleich einige politische und philosophische Denkanstösse bereit. Grundsätzlich geht es aber um die Erforschung und Katalogisierung dieser Wesen und darum, einige Exemplare für ein Refugium zu fangen. Die Handlung wird gewürzt durch gefährliche Begegnungen mit Fabelwesen und Menschen - Verluste inklusive. Trotz kleinerer Flauten fand ich die Geschichte dann doch überraschend mitreissend und sogar spannend.

Die Fabelwesen sind teils etwas enttäuschend “banal” - jedenfalls im Vergleich zu den Fantastischen Tierwesen aus dem Potteruniversum. Dafür sind sie sehr authentisch, denn der Autor hat ja tatsächlich folkloristische Sagen und Wesen aufgegriffen. Überhaupt wirkte die Atmosphäre und die mythozoologische Theorie auf mich sehr “authentisch”, um nicht zu sagen real.

Ich habe die Lektüre von “Fast vergessene Fabelwesen” grösstenteils sehr genossen und fand es sowohl folkloristisch lehrreich als auch belletristisch unterhaltsam. Mir scheint dieses doch eher ungewöhnliche Format in diesem Fall sehr gelungen und reizvoll. Vor allem für Liebhaber von Fabelwesen und Abenteuerromanen im 19. Jahrhundert. Und fürs Auge ist's auch noch was.

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Veröffentlicht am 28.02.2024

Der Funke hat nicht gezündet

Sparks
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“Sparks - Die Magie der Funken” ist das Erstlingswerk von J.R. Dawson und wurde von Gesine Schröder aus dem amerikanischen Englisch übersetzt. Da ich das Buch als Rezensionsexemplar lesen durfte, geht ...

“Sparks - Die Magie der Funken” ist das Erstlingswerk von J.R. Dawson und wurde von Gesine Schröder aus dem amerikanischen Englisch übersetzt. Da ich das Buch als Rezensionsexemplar lesen durfte, geht mein Dank an den Fischer Tor Verlag!

Während des Ersten Weltkrieges, als die Welt zu zerbrechen schien, geschah es: Die Magie trat in die Welt. Das Phänomen erhält ganz unterschiedliche Namen, doch in den USA nennt man die Menschen mit dem magischen Funken “Sparks”. Da viele von ihnen dabei geholfen haben, die Spanische Grippe in Schach zu halten, wurde eine Art Friedensvertrag geschlossen: Die Sparks werden in Ruhe gelassen, wenn sie die Normalen nicht belästigen - und wenn sie, wenn ihr Land sie braucht, zur Stelle sein werden.
In diesem instabilen Frieden und nach dem Schock der Gewalt des Grossen Krieges haben Ringmaster, Ophelia und Mauve eine eigene kleine Welt erschaffen, ihr zu Hause, den Wanderzirkus. Hier finden jene Unterschlupf, die dies wollen und die sich der Aufgabe des Zirkusses verpflichten wollen. Denn die drei Frauen setzen ihre einzigartigen Funken dazu ein, Menschen zu helfen, die sie brauchen. Dabei verfolgt sie aber nicht nur Ringmasters Vergangenheit, der Circus King und sein grausamer Mitternachtszirkus. Auch die Zukunft, der Blick auf einen weiteren, grausamen Krieg, treibt sie um.

Zirkusgeschichten! Man muss sie einfach lieben, oder? Einem Zirkus wohnt ein ganz eigener Zauber inne, ganz ohne echte Magie. In Kombination mit echter Magie kann eigentlich fast nichts schief gehen! Und ja, das Setting, das “Sparks” präsentiert, hat mir grundsätzlich gut gefallen. Vor allem, weil die Magie sehr verführerisch ist. Im Grunde wurde ein Teil der Menschheit zu Superhelden - mit individuellen, fantastischen Fähigkeiten, die offenbar oft zu ihren Charakteren passen. Diese Unberechenbarkeit und die schiere Anzahl an Möglichkeiten gibt dem Ganzen diesen verführerischen Sense of Wonder. Auch die zeitliche Verortung, die 20er Jahre des vorigen Jahrhunderts, passt gut und verhilft zu dieser entrückten Atmosphäre. Die Menschheit leckt noch ihre Wunden und befindet sich irgendwo zwischen Trauma, Schock und Hoffnung auf eine bessere Zukunft. Das wurde alles sehr gefühl- und wirkungsvoll transportiert.

Trotzdem ist der Funke bei mir nicht so ganz übergesprungen.

Ringmaster - von ihren Freunden liebevoll Rin genannt - ist eine interessante Protagonistin. Sie verbindet eine schreckliche Vergangenheit mit dem Circus King, aus der sie sich noch immer nicht gänzlich befreien konnte und die sich für die Leser:innen erst langsam gänzlich erschliesst. Sie hadert mit sich selbst, denn er hat ihr beigebracht, sich selbst zu verachten. Und immer wieder fällt sie aus der Gegenwart in die Vergangenheit, an einen anderen Ort. Und das tut auch der Text. Obwohl es stilistisch vielleicht passen mag, haben mich diese ständigen Vergangenheitsfetzen immer wieder aus dem Lesefluss gerissen, ungeduldig gemacht und stellenweise ziemlich geärgert. Vor allem, weil es sich mit der Zeit auch nach Wiederholung angefühlt hat. Inhaltlich war das wohl nur selten der Fall, thematisch häufig - und das Muster kam ständig wieder.
Die übrigen Figuren haben mir in der Ausarbeitung leider nicht so gefallen. Sie scheinen zwar komplex, sind es aber eigentlich nicht. Sie alle haben eine Rolle inne - und dieser folgen sie auch stur, ohne Facetten im Verhalten aufzuweisen. Gerade Mauve und Ophelia habe ich anfangs immer wieder durcheinander bekommen. Ausserdem bewegt sich die Erzählstimme, obwohl drittpersonal bei Rin, oftmals so nah an die beiden anderen Frauen heran, dass es schon fast an Headhopping grenzt. Und bei mir immer mal wieder Unsicherheit ausgelöst hat, wenn Erzählung in Dialog überging.

Die Handlung war für mich etwas zu vollgeladen. Da gibt es den Circus King, der im Jetzt eine Bedrohung ist; Kapitel die in der Vergangenheit spielen und die Vorgeschichte aufrollen; Der kommende Krieg, den die drei Frauen mit mässig viel Geschick zu verhindern versuchen; Rins hadern mit sich selbst; Den rotznasigen Teenager, den der Zirkus aufgabelt und die sich nur nach einem Zuhause sehnt; Die Liebesgeschichte… Irgendwie hat sich das alles für mich nicht so richtig zu einem geschmeidigen Ganzen fügen wollen und war etwas holprig. Manchmal gar etwas erzwungen.

Dazu kommt, dass mir das Buch sprachlich nicht wirklich zugesagt hat. Es gab Ansätze, diese Zirkuswelt in magische Worte zu fassen. Aber schlussendlich war es für mich oft eher melodramatisch, zu übertrieben und gleichzeitig nicht ausschweifend genug. Vielleicht zu amerikanisch. Ich kann mir vorstellen, dass es teilweise an der Übersetzung liegen mag. Denn viele Wendungen und Formulierungen wirkten auf mich ganz anders, als ich sie mir auf Englisch vorgestellt habe. Aber auch die Anglizismen und vor allem die übernommenen englischen Bezeichnungen haben mir persönlich weniger zugesagt.

Im Allgemeinen war “Sparks” für mich persönlich keine Erleuchtung, der Funke wollte nicht springen. Trotzdem war es eine nette Unterhaltung und ein relativ kurzweiliger Ausflug in eine durchaus interessante Welt. An den Nachtzirkus kommt es aber nicht heran - dafür fehlt es mir an sprachlicher Raffinesse und inhaltlicher Dichte.

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Veröffentlicht am 22.02.2024

Die Wissenschaft, die Frauen und die Männer...

Das verborgene Genie
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In “Das verborgene Genie” erzählt Marie Benedict die Geschichte von Rosalin Franklin, einer brillanten Wissenschaftlerin, die in der Mitte des vorigen Jahrhunderts das Geheimnis des Lebens lüftete. Anerkennung ...

In “Das verborgene Genie” erzählt Marie Benedict die Geschichte von Rosalin Franklin, einer brillanten Wissenschaftlerin, die in der Mitte des vorigen Jahrhunderts das Geheimnis des Lebens lüftete. Anerkennung dafür erhielt sie aber erst postum, während sie zu Lebzeiten von den patriarchalen Strukturen der Wissenschaft und wissenschaftlichen Politik zu einer Randerscheinung degradiert wurde. Die Autorin Marie Benedict lässt Rosalind Franklin- wie schon viele andere vergessene weibliche Pionierinnen - in einer literarischen Hommage erneut aufleben. Und zeichnet das Bild einer Wissenschaftlerin durch die Augen von Freunden und Familie, das so ganz anders anmutet als jenes, das ihre Konkurrenten propagierten. An dieser Stelle einen herzlichen Dank an das Team von Vorablesen und dem Verlag Kiepenheuer&Witsch für das Rezensionsexemplar und damit die Möglichkeit, diese bemerkenswerte Frau und ihre Geschichte kennen zu lernen. Meine Meinung ist natürlich trotzdem meine eigene.

Kleine Vorgeschichte: Mir waren die Grundzüge der Höhepunkte vorab der Lektüre durchaus bekannt. Ich wusste also, dass und wie Rosalind Franklin von ihren männlichen Konkurrenten im Wettlauf um die Enträtselung der menschlichen DNA ausgestochen wurde. Ich wusste um ihr persönliches Schicksal. Und ich kannte das Bild, das James Watson von ihr geprägt hatte. Es war für mich also ersteinmal spannend, dass die Geschichte nicht etwa am Kings College in England, sondern in Paris begann. Und dazu sehr überraschend, dass ich einen Roman im Ich-Präsens vor mir hatte. Natürlich ermöglicht diese Form ein sehr tiefes Abtauchen in eine Figur - und bedeutet damit einen radikalen Perspektivwechsel vom Aussen ins Innen. Das mag den inhaltlichen Umständen und dem thematischen Ziel der Autorin dienen. Ich-Perspektiven bei historischen Figuren fühlen sich für mich jedoch tendenziell anmassend an. Und irgendwie falsch.
Nichtsdestotrotz konnte ich mich durchaus darauf einlassen - vor allem, weil mich die Geschichte sehr gepackt hat. Die Autorin erschafft eine für mich authentisch wirkende Atmosphäre und lässt den Zeitgeist lebendig auferstehen. Ausserdem schafft es Marie Benedict einerseits, die persönliche Geschichte einer faszinierenden und vielschichtigen jungen Frau interessant zu erzählen. Und andererseits die wissenschaftlichen Methoden, Erkenntnisse und Zusammenhänge trotz ihrer Komplexität und interessanter Tiefe verständlich und organisch in die Handlung einzubeziehen. Die Lektüre war für mich somit sowohl inhaltlich spannend, als auch lehrreich und hat bei mir zu einem tieferen Verständnis davon geführt, was und wie Rosalind Franklin eigentlich genau getan hat.
Obwohl ich die von Benedict portraitierte Wissenschaftlerin und Frau äusserst spannend und faszinierend finde, konnte ich mich mit der stilistischen Darstellung - vor allem der Gedankenwelt - eher weniger anfreunden. Das mag an der Erzählperspektive oder dem Stil der Autorin allgemein liegen. Jedenfalls wirkten die Gedanken und Selbstwahrnehmung der Protagonistin für mich seltsam überreflektiert und zugleich schockierend naiv. Diese Mischung führte oft dazu, dass der Charakter von Rosalind (von ihr selbst) analytisch erzählt wurde. Und eben nicht durch die Handlungen und Interaktionen gezeigt. Gerade ihre schroffe und brüske Art, ihre unüberlegten und voreiligen verbalen Erwiderungen - all das, was mitunter zu ihrem Anecken und zu Ablehnung führte - blieb für mich somit irgendwie nicht erfahrbar. Und Rosalinds entsprechende Gedanken schienen mir seltsam unpassend.

“Das verborgene Genie” trifft stilistisch nicht ganz meinen Geschmack. Inhaltlich hat mich aber sowohl der wissenschaftliche Krimiaspekt, als auch die persönliche Geschichte der brillanten, ehrgeizigen und von einer Männerwelt missverstandenen Rosalind Franklin sehr fasziniert. Ich glaube, dass es eine ehrenwerte und wichtige Aufgabe ist, derer sich Marie Benedict in ihren Romanen annimmt: Den Verdienst der vergessenen und übergangenen Frauen an unserer Welt und Geschichte in das ihnen gebührende Rampenlicht zu rücken. “Das verborgene Genie” schafft nicht nur das, sondern ist eben auch ein empfehlenswertes Portrait einer jener starken Frauen, die uns Folgenden den Weg geebnet haben.

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Veröffentlicht am 15.02.2024

Unterhaltsam und kurzweilig - männlich, weiss, europäisch

Kurztrip Weltgeschichte
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“Kurztripp Weltgeschichte” wurde von Dr Sebastian Steffens verfasst - einem Physiker, nicht einem Historiker. Pflichtschuldig stellt der Autor gleich im Vorwort klar: Dieses Buch erhebt keinen Anspruch ...

“Kurztripp Weltgeschichte” wurde von Dr Sebastian Steffens verfasst - einem Physiker, nicht einem Historiker. Pflichtschuldig stellt der Autor gleich im Vorwort klar: Dieses Buch erhebt keinen Anspruch auf Vollständigkeit. Und auch nicht auf Objektivität. Auf gut hundert Seiten ist eben nicht mehr als ein selektiver Abriss möglich. Und das ist so auch in Ordnung. Vielen Dank an den Autor und den Dark Empire Verlag für das Leseexemplar! Auf diese kurze (!) Reise war ich sehr gespannt!

Anfangen tut dieser Kurztrip am Anfang - bei der Entstehung des Universums. Es folgen die Entstehung der Erde, wie sich das Leben auf ihr sich entwickelte. Und dann: Auftritt Mensch. Wie im Zeitraffer fliegt die Zeit vor unserer Zeit dahin - informativ dicht, aber unterhaltsam und sprachlich flott. Die Rundschau der ältesten Geschichte der Welt geht in die alte Geschichte über: Städte werden gebaut, Hochkulturen entstehen und zerfallen, Imperien werden gegründet. Über ganze fünf(einhalb) Kapitel verfolgt der Autor das Auf und Ab und Hin und Her des Römischen Reiches und seiner Kaiser und fliegt dann über das Mittelalter. Der Fokus liegt eindeutig auf Europa. In kurzen (!) Abstechern wirft er auch mal einen Blick nach China, den Nahen Osten, Südamerika. Für mehr als ein paar wenige Sätze bleibt aber keine Zeit. Denn weiter geht es mit der Kolonialisierung der Welt und dann von der Französischen Revolution und Napoleon, über den Ersten und Zweiten Weltkrieg, bis hin zum Kalten Krieg. Und rein in die Moderne, bis der Blick in die ferne Zukunft und zum Ende der Zeit schweift. Kurze Abstecher gibt es zur Unabhängigkeitsbewegung in Südamerika (eine Seite), in die Kunst und ihre diversen Stile und eine kurze Geschichte des Computers fehlt auch nicht.

Der Schreibstil ist flott, fast schon rasant. Leicht verständlich und trotz der Dichte übersichtlich fliegt man als Leser:in durch die Zeit. Immer wieder blitzt etwas Humor durch die Fakten, was die Lektüre erheblich auflockert. Die Leseerfahrung ist nicht nur durch die geringe Anzahl an Seiten kurzweilig!

Ich muss aber sagen, dass ich die erste Hälfte des Buches mehr genossen habe. Mit Fortschreiten der Zeit schien mir die Darstellung der Ereignisse weniger pointiert, detailliert und analytisch. Auch die so “erfrischenden” Informationen, die neue Erkenntnisse bringen, nahmen zunehmends ab. Das mag teilweise an meinen eigenen Vorkenntnissen liegen. Dazu kam dann auch noch einiges an pessimistischer Meinung, die mich persönlich nicht angesprochen hat.

Wie der Autor ja bereits vorweggenommen hat: Dieser Kurztrip ist subjektiv und selektiv. Das wird dann sehr deutlich, wenn es auf die Moderne zu geht. Ja, alles lässt sich in so einem Büchlein nicht unterbringen. Trotzdem war ich enttäuscht, dass die Emanzipationsbewegung der Frauen in einem einzigen Satz abgehandelt wurde - die Ergebnisse blieben unerwähnt. Dabei machen Frauen immerhin 50% der Weltbevölkerung aus - da sollten ihre Errungenschaften in einer Weltgeschichte doch wenigstens ein kleines bisschen gewürdigt werden. Nicht Weisse Menschen machen übrigens mehr als die Hälfte der Weltbevölkerung aus. Auch sie, ihr Leidensweg und ihre Siege und Niederlagen spielen in diesem Buch keine Rolle. Allgemein bleibt der Rest der Welt - also alles ausserhalb Europas resp. des globalen Westens - eher eine Randerscheinung. Die Entdeckung Ozeaniens bleibt genau so im Dunkeln, wie Afrika als gesamter Kontinent (bis auf das alte Ägypten). Die Arabische Welt gerät nach dem Mittelalter in Vergessenheit. Nur die Gründung Israels erhält zwei Sätze.

Der grösste Verdienst von “Kurztrip Weltgeschichte” liegt für mich in der unterhaltsamen Übersicht und übersichtlichen Strukturierung der ältesten Geschichte vom Urknall bis etwa zum Ende des Mittelalters. Vielleicht noch etwas darüber hinaus. Danach lässt das Buch aber den zuvor gezeigten wortgewandten Scharfsinn vermissen. Der Titel des Buches ist meiner Meinung nach ausserdem nicht verdient. Eine Weltgeschichte ist hier nicht zu lesen. Sehr wohl aber jene Europas und des globalen Westens.

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Veröffentlicht am 15.02.2024

Ein Blick hinter das Tabu

Mutter ohne Kind
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“Mutter ohne Kind” ist ein aufklärerisches Sachbuch aus der Feder der Journalistin und Betroffenen Eva Lindner. Um das Buch zu lesen, musste ich mir selbst erst einen kräftigen, geistigen Tritt in den ...

“Mutter ohne Kind” ist ein aufklärerisches Sachbuch aus der Feder der Journalistin und Betroffenen Eva Lindner. Um das Buch zu lesen, musste ich mir selbst erst einen kräftigen, geistigen Tritt in den Hintern verpassen. Und bin nun sehr froh, habe ich es getan. Vielen Dank an den Tropen Verlag und das Team bei Vorablesen für das Rezensionsexemplar und damit die Gelegenheit, mich mit dem Tabuthema Fehlgeburt auseinanderzusetzen!

Der Einstieg hat es gleich in sich: Eindringlich und schonungslos ehrlich schildert Eva Lindner ihre eigene Fehlgeburt. Da ist keine Polemik, keine Ausschmückung - dennoch versetzt mir die schon fast nüchterne Konfrontation mit diesem Tabuthema einen kleinen Schock. Lindner versteht es aber, diese sehr persönliche Erzählung sogleich gefühlvoll und sachlich zu rahmen und der wortlosen Empörung eine konstruktive Richtung zu geben. Die folgenden rund zweihundert Seiten sind sowohl über die Erwartungen hinaus informativ, als auch erzählerisch geschickt und eindringlich.

Die Autorin beleuchtet das totgeschwiegene Thema Fehl- und Stille Geburt aus erstaunlich vielen verschiedenen Perspektiven. Lindner diskutiert Missstände in der medizinischen Versorgung und der psychologischen Begleitung, in der Aufklärung und Information und zeigt die Folgen vernachlässigter Forschung der weiblichen Gesundheit auf. Manche Kapitel und Stellen lesen sich wiederum wie ein Politkrimi - wobei der Zusammenhang mit Abtreibungspolitik und -Polemik genau so empört, wie die scheinbare Gleichgültigkeit mancher Akteure. Die Autorin thematisiert den historischen Umgang mit Fehlgeburten, aber auch die Folgen der modernen Tabuisierung für die Gesellschaft und die Konsequenzen des grossen Schweigens für Betroffene.

Immer im Fokus stehen die Betroffenen - in erster Linie die Mütter ohne Kind. Die Geschichten von zehn weiteren Frauen liefern die thematischen Schwerpunkte der einzelnen Kapitel. Sie stehen exemplarisch aber nicht abschliessend für die Erfahrungen von Betroffenen. Aber auch die Partner:innen - der andere Elternteil - finden ihren Platz in Lindners Buch. Damit und mit einer Liste an Forderungen an Politik und Gesellschaft schafft Eva Lindner ein vielschichtiges und umfassendes Aufklärungswerk.

“Mutter ohne Kind” ist ein informatives, aufwühlendes und aufrüttelndes Buch. Selten habe ich ein so packendes und spannendes Sachbuch gelesen - ich konnte es stellenweise kaum aus der Hand legen! Bei aller Emotionalität der Thematik, bleibt die Autorin konsequent bei einem sachlichen Ton. Überzeugen tut sie mit gut und breit recherchierten Fakten, niemals mit reisserischer Polemik. Mir hat dieses Buch in vielerlei Hinsicht die Augen geöffnet und mich betroffen gemacht - in einem konstruktiven Sinne. Und ich sehe die Lektüre als für mich sehr hilfreich im Umgang mit dem Thema in meinem privaten Umfeld.

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