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Veröffentlicht am 06.11.2020

Vergessene Sünden, verlorene Erinnerungen

Beta Hearts
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Die Welt, die sie kannten, gibt es nicht mehr. KAMI hat die Sperrzonen verlassen. Immer mehr Bezirke fallen in ›Beta Hearts‹ dem von Menschen geschaffenen Virus zum Opfer, der seinen Wirten jegliche Emotionen ...

Die Welt, die sie kannten, gibt es nicht mehr. KAMI hat die Sperrzonen verlassen. Immer mehr Bezirke fallen in ›Beta Hearts‹ dem von Menschen geschaffenen Virus zum Opfer, der seinen Wirten jegliche Emotionen raubt.

Denn KAMI lernt, es entwickelt sich und ist den Menschen längst entwachsen. Und in ihm wächst ein Drang heran, stärker noch als der Wunsch, alle Menschen zu assimilieren: Es will sie verstehen. Es will wissen, warum sie so handeln, wie sie handeln. Es will Emotionen verstehen lernen. Und es will, dass die Welt in all ihren Farben und Formen endlich nicht mehr unter den Menschen zu leiden hat.

»Danach erinnere ich mich nur an Chaos. An Schreie, Schüsse, Rauch, Angst und Dunkelheit. So viel Dunkelheit in so vielen Gedanken.«

Was ist das für eine Welt, die Marie Graßhoff in ihrer ›Neon Birds‹-Trilogie beschreibt und die ein Kind braucht, das sich Stück für Stück zu einer Maschine machen lässt? Wie viel bleibt von diesem Kind übrig, das zwar mit den Jahren zu einem jungen Erwachsenen heranwächst, doch dessen Körper bis dahin zu mehr als 70 Prozent nicht mehr menschlich ist?

Und wie kann dieses Kind, das nie etwas anderes gekannt hat, als das Kämpfen, damit aufhören? Erst nach und nach wird in ›Neon Birds‹, ›Cyber Trips‹ und ›Beta Hearts‹ klar, wie kaputt diese Welt ist, in der Okijen, Andra, Flover, Luke und Byth versuchen, zu überleben. Was auf den ersten Blick fortschrittlich, erstrebenswert und makellos erscheint, bekommt Risse. Geheimnisse scheinen durch, Leerstellen bilden sich. Und immer größer wird der Wunsch, zu wissen, wie diese Welt der ›Neon Birds‹-Trilogie entstanden ist. Und vor allem, was aus ihr werden soll.

»Die Menschen gaben mir die Macht zu lernen. Und ich lernte, mich zu erinnern. An diese Wesen, die an ihren Besitztümern hängen wie an Ankern.«

Denn während alle ihre Kräfte bündeln und vereinen in dem Wunsch, KAMI endgültig auszulöschen, wächst in Andra ein anderes Ziel heran. Ist der Mensch überhaupt dazu in der Lage, KAMI in einem Kampf zu schlagen? Wenn nicht, was bleibt dann noch?

Andras Pfad ist einsam. Wen ist sie bereit, zurückzulassen, und wer ist bereit, sie zu verraten? In ›Beta Hearts‹ schließt sich die Schlinge um die Hälse der viel zu jungen Kämpfer.

»Gab es überhaupt noch Menschen auf dieser Welt außer ihnen? Gab es Städte und Dörfer und Siedlungen, in denen Menschen lebten, die keine Moja waren? Wo wären sie sicher?«

Graßhoffs Science Fiction-Trilogie ist von der ersten bis zu letzten Seite spannend. Die Fragen, die zwischen den Zeilen schlummern, rühren tief an den Kern des Menschseins heran. Die Geschichte der Menschheit ist von Kämpfen durchzogen, wie sollte es in der Zukunft anders sein? Sind Okijen und die anderen bereit, diese Welt von den Generationen vor ihnen zu übernehmen?

Bereits in den ersten beiden Bänden der ›Neon Birds‹-Trilogie ›Neon Birds‹ und ›Cyber Trips‹ hat Graßhoff bewiesen, dass sie schreiben kann und das Finale ›Beta Hearts‹ steht hierbei in nichts nach. Es ist eine dieser Reihen, über die man stundenlang sprechen könnte, weil so viele essenzielle Fragen darin schlummern.

Zugleich bleibt auch in ›Beta Hearts‹ noch vieles unbeantwortet. Zum Teil auch Fragen, um die sich die drei Bände stark gedreht haben. So bleibt zu hoffen, dass ›Beta Hearts‹ zwar das Finale der Trilogie ist, das ›Neon Birds‹-Universum jedoch noch fortgesetzt wird. Ich bin gespannt!

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Veröffentlicht am 06.11.2020

Wie eine Stangentänzerin und ›Dirty Dancing‹ das Leben verändern können

Pandatage
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Dass ein Unglück selten allein kommt, weiß Danny vermutlich besser als die meisten. Seit seine Frau Liz vor einem Jahr plötzlich bei einem Autounfall verstarb, ist das Leben der kleinen Familie nicht mehr ...

Dass ein Unglück selten allein kommt, weiß Danny vermutlich besser als die meisten. Seit seine Frau Liz vor einem Jahr plötzlich bei einem Autounfall verstarb, ist das Leben der kleinen Familie nicht mehr das gleiche.

Sein Sohn Will spricht nicht mehr – weder mit ihm, noch mit anderen. War das Geld vorher schon knapp, reicht es nun nicht einmal mehr für das Nötigste: Unbezahlte Rechnungen häufen sich und sein Vermieter gehört nicht zur geduldigen Sorte, dem Gewalt als Lösung fern läge. Als Danny dann noch seinen Job als Bauarbeiter verliert, bringt ihn nur der Gedanke an seinen Sohn noch dazu, morgens das Haus zu verlassen.

»›Ist eine lange Geschichte‹, sagte er und schaute auf seinen unberingten Ringfinger. Als Liz noch am Leben gewesen war, hatte er sich nie Sorgen um seinen Ehering gemacht, aber nach ihrem Tod hatte er mit einem Mal schreckliche Angst bekommen, er könne ihn verlieren, also hatte er ihn in Watte gehüllt, in eine Streichholzschachtel gesteckt und in der Schublade seines Nachttischs verborgen.«

Doch ganz gleich, wie sehr er sich auch bemüht, eine Anstellung ist für den ungelernten Mann nicht zu finden. Hat man ihm bereits sein Leben lang gesagt, dass er zu nichts zu gebrauchen sei, scheint es sich jetzt zu bewahrheiten.

Aber Danny wäre nicht Danny, wenn er einfach aufgeben würde. Das Pandakostüm, das er in einem heruntergekommenen Laden bekommt, ist weder schön noch sauber. Aber es ist günstig und erfüllt somit Dannys Hauptvoraussetzung. Doch schon bald muss Danny feststellen, dass es nicht genügt, sich mit einem Kostüm in einen Park zu stellen. Um genug Geld zu bekommen, um seine Miete zu zahlen, muss er den Leuten etwas bieten.

Danny kann nicht tanzen. Aber da er all die anderen Sachen, für die Leute einem Mann im Pandakostüm Geld zahlen würden, noch schlechter kann, bleibt ihm nichts anderes übrig.

»Während seine verstorbene Frau auf der Tanzfläche eine Art Naturtalent gewesen war, war Danny eher eine Naturkatastrophe. Sein Problem war ganz einfach. Er hatte keinen Rhythmus.«

›Pandatage‹ ist ein Roman, der trotz seiner tragischen Thematik immer wieder zum Lachen bringt. Die traurigen Momente sind weder kitschig noch pathetisch. Gould-Bourn gelingt es, auf eine subtile Art stark mit Danny und Will mitfühlen zu lassen. Die lustigen Momente lassen den Leser oder die Leserin laut auflachen. An manchen Stellen kann die Komik zwar etwas zu aufgesetzt und konstruiert wirken und dadurch daran erinnern, was ›Pandatage‹ ist: ein Roman. Ein Roman, der die Kraft zeigt, über die man verfügt, wenn man sich nicht unterkriegen lässt. Und Freunde hat, die einen unterstützen.

›Pandatage‹ ist kein Roman, der zeigt, dass alles wieder gut wird, vielleicht kann es das auch gar nicht. Und doch führt er vor Augen, dass es wieder gut wird, dass es weitergehen kann, auch wenn es wehtut und sicherlich nicht leicht fällt. ›Pandatage‹ ist voller Figuren, die man fast schon mögen muss, ob Danny und Will, oder die Stangentänzerin Krystal und den Ukrainer Ivan. Gould-Bourns Debüt ist definitiv ein Lesevergnügen.

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Veröffentlicht am 06.11.2020

Schwerelos, verträumt und voller Energie

Keine Ahnung, was für immer ist
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Lieber wach sein als zu schlafen, um nichts zu verpassen, das Gefühl noch ein bisschen länger zu genießen. Allein tanzen, lange reden, einfach nur im Hier und Jetzt sein. Zweifeln, und trotzdem weitermachen. ...

Lieber wach sein als zu schlafen, um nichts zu verpassen, das Gefühl noch ein bisschen länger zu genießen. Allein tanzen, lange reden, einfach nur im Hier und Jetzt sein. Zweifeln, und trotzdem weitermachen.

Engelmanns Gedichte sind voll der Leichtigkeit und Schwere eines nie enden wollenden Seins. Ihre Gedichte in ›Keine Ahnung was für immer ist‹ tragen keine Kämpfe der Vergangenheit aus, sie widmen sich der Gegenwart mit ihren fast endlosen Möglichkeiten. Voller Bilder und Momente, die das Leben bringen kann, wenn man jung ist oder bleibt, frei leben möchte, alles in vollen Zügen erfahren.

»Und wenn ich meine Arme hebe,
komm ich fast an beide Wände.
Drei Bettkanten berührten fast den Rand.
Manchmal weht ein bisschen Staub wie Laub
herab in meine Hände.
Mit Fantasie wird jeder Raum ein Land.«

Julia Engelmann
Aus ihrem Gedicht ›Mein Paradies‹ in ›Keine Ahnung was für immer ist‹
Ihre Gedichte sind verspielt und dennoch unkompliziert. Die Poesie ihrer Sprache braucht keine hochtrabenden Wörter oder komplexe Verschachtelungen, um zu berühren. Manchmal, scheinen ihre Gedichte in ›Keine Ahnung was für immer ist‹ Flügel zu haben, so schwerelos muten sie an.

Ob das Gefühl, in der Menge allein zu sein; unter vielen die oder der zu sein, die nicht dazu passen oder die Liebe. Engelmanns Gedichte leiten zum Weitermachen an, auch wenn Zweifel und Hürden zu überwinden sind. Liebevoll illustriert von der Autorin selbst sind ihre Gedichte, die auch jenen zu empfehlen sind, die bislang kaum Erfahrungen mit Gedichten haben.

Fazit zu ›Keine Ahnung was für immer ist‹
Julia Engelmanns Gedichtband ›Keine Ahnung was für immer ist‹ ist eine Liebeserklärung an die Gegenwart und das Ungewisse in der Zukunft. Schwerelos, verträumt und voller Energie.

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Veröffentlicht am 06.11.2020

Drei Frauen, drei Kämpfe, ein Zopf

Der Zopf
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Für manche Frauen ist ihr Haar das wertvollste, das sie besitzen. Für andere sind es in ›Der Zopf‹ die Traditionen des seit Generationen bestehenden Familienbetriebs oder die eigene sprunghafte Karriere. ...

Für manche Frauen ist ihr Haar das wertvollste, das sie besitzen. Für andere sind es in ›Der Zopf‹ die Traditionen des seit Generationen bestehenden Familienbetriebs oder die eigene sprunghafte Karriere.

Doch was passiert, wenn der Mensch im Begriff ist, sein Wertvollstes zu verlieren? Wenn es ihm genommen wird und er es nicht halten kann oder nur durch große Veränderungen? Und was, wenn er sogar freiwillig bereit ist, es aufzugeben?

Smita aus Badlapur in Indien, Giulia aus Palermo in Sizilien und Sarah aus Montreal in Kanada haben auf den ersten Blick wenig miteinander gemeinsam. Smita arbeitet als Unberührbare, wird gemieden und lebt mit ihrer Familie außerhalb der Gesellschaft. Durch eisern erspartes Geld wollten sie und ihr Mann ihrer Tochter den Besuch einer Schule und somit ein besseres Leben ermöglichen. Doch Smitas Beruf wird von Generation zu Generation weitergegeben. Und das soziale Stigma und die damit verbundenen Hürden wollen ihre Tochter nicht loslassen.

»Mit gesenktem Blick, das Gesicht hinter einem Tuch verborgen, hält sie sich am Straßenrand. In manchen Dörfern müssen sich Dalits eine Rabenfeder anstecken, damit man sie erkennt. In anderen verlangt man, dass sie barfuß laufen.«

Giulias Leben ist weit von Smitas entfernt. Die junge Frau ist belesen, gebildet und nicht auf den Mund gefallen. Sie liebt die Arbeit in der Fabrik ihres Vaters, die ihr längst ins Blut übergegangen ist. Doch nach einem Unfall ihres Vaters steht nicht nur sein Leben auf dem Spiel, sondern auch die Zukunft seiner Familie und der Fabrik.

»Seit fast einem Jahrhundert lebt ihre Familie von der Cascatura, einem alten sizilianischen Brauch, der darin besteht, Haare, die ausfallen oder abgeschnitten werden, zu sammeln, um später Toupets oder Perücken daraus zu machen. Giulias Urgroßvater gründete die Lanfredi-Werkstatt im Jahr 1926, heute ist das Unternehmen eines der letzten seiner Art in Palermo.«

Sarahs Leben und Arbeit gleichen weder Smitas noch Giulias. Sie ist eine Karrierefrau, hat es auch eigener Kraft in Rekordzeit nach oben geschafft. Sie lebt für ihre Arbeit und hat ihr gesamtes Leben danach ausgerichtet, in der Arbeit die besten Leistungen bringen zu können. Sarah und ihre Familie sind dabei für ihre Kollegen kaum sichtbar gewesen. Doch ein Besuch beim Arzt und eine Diagnose ändern alles. Doch mehr noch als die Krankheit selbst sind es ihre Kollegen, die Sarah aus der Bahn werfen.

»Sarah kannte ehrgeizige Männer dieses Schlags zur Genüge, Männer, die Frauen hassten, weil sie sich von ihnen bedroht fühlten, sie umgab sich mit ihnen, allerdings ohne gesteigerten Wert darauf zu legen. Sie bahnte sich ihren Weg und ließ sie am Straßenrand zurück.«

So unterschiedlich die Geschichten der drei Frauen in ›Der Zopf‹ auch sein mögen, haben sie doch vor allem eines gemeinsam: Sie haben sich nicht unterkriegen lassen und gekämpft. Smita für ihre Tochter, Giulia für die Fabrik der Familie, Sarah für eine gerechtere Zukunftsaussicht.

Colombani gelingt es in ›Der Zopf‹, die Persönlichkeiten der drei Frauen bereits nach wenigen Seiten zum Leben zu erwecken. In ihrer Besonderheit, in ihren Stärken und Schwächen, in ihren schweren und starken Augenblicken. Sie alle versuchen, sich von den Grenzen und Regeln der ihnen bekannten Welt und Gesellschaft nicht niederringen zu lassen. Sie fordern einen Platz für sich und ihre Liebsten und sind bereit, sich den Hürden zu stellen.

Drei Leben sind es, die Colombani in ihrem Roman ›Der Zopf‹ miteinander verbindet. Auf eine Art, die nicht einmal die drei Protagonistinnen so zu sehen bekommen, wie es Colombani ihren Lesern und Leserinnen ermöglicht. ›Der Zopf‹ ist einer jener Romane, über die man sich spannend mit anderen austauschen kann. Auf Colombanis 2020 erschienenen Roman ›Das Haus der Frauen‹ darf mit Spannung geblickt werden.

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Veröffentlicht am 06.11.2020

Vom Traum einer Frau, die nicht bereit war, aufzugeben

Das Haus der Frauen
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Seit dem Tod ihres Klienten hat sich Solènes Leben in ›Das Haus der Frauen‹ verändert. War sie in dem einen Moment noch eine Karrierefrau in teurer Kleidung und als Anwältin erfolgreich, weiß sie nun nicht ...

Seit dem Tod ihres Klienten hat sich Solènes Leben in ›Das Haus der Frauen‹ verändert. War sie in dem einen Moment noch eine Karrierefrau in teurer Kleidung und als Anwältin erfolgreich, weiß sie nun nicht mehr recht, was sie tun soll.

Sie hat seinen Tod nicht kommen sehen. In all den Gesprächen, in all den vielen Stunden. Und dann geschieht es, an ihrer Seite und viel zu schnell.

Auch Solène fällt, und sie fällt tief. Arbeit scheint ihr unmöglich, das Haus verlassen ebenso. Sie zieht sich zurück, nimmt Tabletten. Irgendwann empfiehlt ihr Arzt ihr, sich eine ehrenamtliche Arbeit zu suchen. Solène ist skeptisch, doch als sie all die Einträge auf einer Website durchgeht, sticht ihr einer ins Auge. »Öffentliche Schreiberin«. Sie weiß zwar nicht, was sie sich unter diesem Begriff vorzustellen hat, doch das Schreiben ist ihr aus früheren Zeiten vertraut. Und mit einem Mal kehrt eine Sache in Solènes Leben zurück, die sie lange begraben hatte.

»Kindheitsträume zu vergessen ist nicht schwer, man hört einfach auf, daran zu denken. Man bedeckt sie mit einem Schleier, so wie man Laken über Möbelstücke wirft, wenn man ein Haus für längere Zeit verlässt.«

Solène wird zur Öffentlichen Schreiberin im Haus der Frauen. Doch obwohl sie als Anwältin oft die Schattenseiten des Lebens zu sehen bekam, ist sie auf diese Stelle nicht vorbereitet. Vor ihr werden die Leben so vieler unterschiedlicher Frauen sichtbar, die ihr auch noch nachgehen, wenn sie längst Feierabend gemacht hat.

Mehr als einmal muss sie sich den Fragen stellen, ob sie für diese Arbeit geeignet ist und was sie tun kann, um den Frauen zu helfen. Und während Soléne versucht, den Bewohnerinnen des Hauses zu helfen, die im 21. Jahrhundert leben, führt Colombani mit ›Das Haus der Frauen‹ auch in die Zeit zurück, bevor die Idee zu dieser Einrichtung überhaupt geboren wurde. Bis hin zu Blanche, die rund ein Jahrhundert zuvor lebte, und die Armut und Not ihrer Pariser Mitbürger und Mitbürgerinnen nicht hinnehmen wollte.

»Keine andere Spezies liefert sich ein solches Gemetzel. Das Misshandeln von Weibchen kommt in der Natur sonst nicht vor. Warum haben Menschen dieses Bedürfnis, zu zerstören und zu vernichten?«

Wer ›Der Zopf‹ von Laetitia Colombani gelesen hat, weiß um das Talent der Autorin, mehrere Perspektiven und Leben so zu verweben, dass ein gemeinsames, facettenreiches Bild entsteht. Geschah dies in ›Der Zopf‹ durch drei Frauen, die zur gleichen Zeit in unterschiedlichen Ländern leben, sind es in ›Das Haus der Frauen‹ zwei Frauen, die in Paris leben, durch ein Jahrhundert getrennt.

Und das Leben der Frauen im Haus geht unter die Haut, ebenso das von Blanche. Sie träumte von einem ›Haus der Frauen‹ schon in einer Zeit, in der obdachlose Kinder noch auf den Felder erfroren, weil es keinen Platz für sie gab. Doch Blanche träumt nicht nur, sie handelt. Unermüdlich, über die Grenze jeglicher Belastbarkeit.

»Hat Paris kein Herz?, ruft sie ohne Umschweife ins Publikum. Im alten Frankreich herrschte eine Hungersnot, heute ist es die Wohnungsnot. Menschen sterben, weil sie nicht wissen, wo sie schlafen sollen.«

Auf nicht einmal 300 Seiten gelingt es Colombani in ›Das Haus der Frauen‹, die Leben und die Zeit zweier Frauen auferstehen zu lassen. Es schaut dort hin, wo oft weggesehen wird. Zeigt das alltägliche, traurige und zugleich zum Teil hoffnungsvolle Leben im Pariser Haus der Frauen. Was für Solène als Ehrenamt begann, nimmt bald schon größere Dimensionen an. Eindrücklich, bewegend und zum Nachdenken anregend.

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