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Meinungen aus der Lesejury

Veröffentlicht am 09.08.2023

Unterhaltsam und anspruchsvoll

Der Zauberer vom Cobenzl
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Obwohl Bettina Balàka mit „Der Zauberer vom Cobenzl“ ihr 21. (!) Buch veröffentlicht, ist es (soweit ich mich erinnere) mein erster Roman dieser preisgekrönten österreichischen Schriftstellerin.
Es wird ...

Obwohl Bettina Balàka mit „Der Zauberer vom Cobenzl“ ihr 21. (!) Buch veröffentlicht, ist es (soweit ich mich erinnere) mein erster Roman dieser preisgekrönten österreichischen Schriftstellerin.
Es wird aber nicht mein letzter bleiben, denn dieser feinsinnige historische Roman hat mir ziemlich gut gefallen!

In der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts ist Europa in Aufbruchsstimmung. Erfindungen und Entdeckungen werden gemacht, und die westliche Menschheit wähnt sich kurz vor den Enthüllung der letzten Geheimnisse des Universums.
Neue Wissenschaften sollen alten Aberglauben ersetzen und neue Techniken das Leben erleichtern anstatt der Religion. Aus dieser Zeit lässt Balàka ihre Ich-Erzählerin Hermine aus ihrem Leben und aus weiblichen Blickwinkel berichten.
Sie und ihre Schwester Ottone wachsen nach dem frühen und qualvollen Tod ihrer Mutter bei ihrem Vater auf. Carl Ludwig Freiherr von Reichenbach ist ein typisches Kind seiner Zeit und wird Zeit seines Lebens auf der Suche nach einem Beweis für die Existenz von „Od“ [Alles in der gesamten Natur druchdringendes Dynamid] sein.

Auch Balàkas Erzählerin brennt leidenschaftlich für die Naturwissenschaften und hilft ihrem Vater bei ihren Forschungen. Doch wie kann eine Frau zu dieser Zeit, in der die Gesellschaft einen anderen Platz für Frauen vorsieht, in diesem Feld eigenständig bestehen?

„Ich war ein seltsames Tier, ein Fabelwesen, eine Chimäre. Es machte mich stolz und einsam zugleich.“

Dieser Roman bietet mir auf vielen Ebenen Zugangsmöglichkeiten. Balàka beleuchtet nicht nur das Verhältnis Mensch und Wissenschaft sondern auch die zwischenmenschlichen Beziehungen zwischen Vater und den Töchtern und das Band der Schwestern untereinander.
Besonders gefiel mir das Gefühl sehr authentisch in eine ganz andere Zeit und eine andere Gedankenwelt einzutauchen.

Unterhaltsam und anspruchsvoll zugleich, ein toller literarischer und historischer Roman!

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Veröffentlicht am 04.08.2023

Vielfältige und lesenswerte Kurzgeschichtensammlung

Kleine Kratzer
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Lest ihr gerne Kurzgeschichten?
Ich muss sagen, ich greife nur in Ausnahmefällen zu dieser Form. Oft sind sie mir zu intensiv, zu stark verdichtet, zu hart in ihrer Pointe.
Als ich in der Herbstvorschau ...

Lest ihr gerne Kurzgeschichten?
Ich muss sagen, ich greife nur in Ausnahmefällen zu dieser Form. Oft sind sie mir zu intensiv, zu stark verdichtet, zu hart in ihrer Pointe.
Als ich in der Herbstvorschau des Kjona Verlag diese Sammlung von Kurzgeschichten sah, wusste ich, es ist Zeit für eine solche Ausnahme.

Denn in diesen Kurzgeschichte stehen ausnahmslos Menschen im Mittelpunkt, die sonst viel zu oft unsichtbar und unbeachtet bleiben: alte Heldinnnen. Die Autorin selbst ist eine von ihnen, den diese Sammlung ist ihr Debüt, das sie als über 80-Jährige veröffentlichte.

In diesen 13 Kurzgeschichten behandelt Campbell eine unglaubliche Vielfalt an Themen. Einige Themen sind direkt an das Alter geknüpft, mehr jedoch an das Menschsein an sich, das mit dem älter werden nicht endet.

Der Tod spielt in vielen Geschichten eine naheliegende und große Rolle, doch auch das Leben hat seinen Platz. Es wird begehrt, es wird geliebt, es wird gehasst, es wird gelitten und verziehen.

Ein wiederkehrendes Thema bei Campbell sind im Rückblick auf das Leben die verpassten Möglichkeiten („Lamia“, „Lacrimae Rerum“), die Reuegefühle und der Umgang damit. Doch nicht alle Figuren finden Frieden.

Mich begeistert vor allem die Vielfalt, nicht nur im Inhalt, sondern auch stilistisch und in der Tonart.

Manche Geschichten wiegen schwer, andere triefen vor abgründigem Humor, manchmal übt Campbell scharfe Gesellschaftskritik, manchmal will sie einfach nur unterhalten.
Ich habe unter den Geschichten natürlich auch meine Lieblinge, die mir besonders gefallen haben.
Besonders hervorheben möchte ich hier „Der Kiskadee“, eine stilistisch wie inhaltlich unglaublich starke und intensive Missbrauchsgeschichte, die ganz klassisch gearbeitet ist und mir sehr gut gefallen hat.

Ziemlich versöhnlich ist die letzte Geschichte “Vom Allein sein”, und es ist gut, dass die Sammlung mit dieser Geschichte endet, denn sie ist hoffnungsvoll und voller Liebe.

Wenn ihr nach besonderen Kurzgeschichten sucht, findet ihr hier einen tollen, diversen kleinen Band, mit Geschichten und Heldinnen, die es wert sind, entdeckt zu werden und die mich sehr gut unterhalten haben.

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Veröffentlicht am 31.07.2023

Bewegend und intensiv - ein tolles Romandebüt

Vatermal
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Die Leseprobe übte einen derartigen intensiven Sog und Faszination auf mich aus, dass ich das Buch unbedingt lesen wollte.
Das Eingangskapitel ist gleichzeitig klassisch und neuartig. Und verdammt catchy.
Klassisch, ...

Die Leseprobe übte einen derartigen intensiven Sog und Faszination auf mich aus, dass ich das Buch unbedingt lesen wollte.
Das Eingangskapitel ist gleichzeitig klassisch und neuartig. Und verdammt catchy.
Klassisch, weil sich Öziri an einem bekannten Stilmittel der Literatur bedient, das ich kenne: der Abrechung oder Aussprache per Brief auf dem Sterbebett
Neuartig, weil Öziri dieses Stilmittel so modern, wütend und verletzlich neu interpretiert, das es für mich zu einer neuen Leseerfahrung wird.

Öziri lässt seinen todkranken Ich-Erzähler Arda abrechnen, und zwar mit seinem Vater Metin, der die Familie früh verlassen hat und immer nur eine Leerstelle in seinem Leben war.
Es ist mehr als nur eine Abrechnung. Arda erzählt von seinem Aufwachsen, seiner Jugend und seinem jungen Erwachsenenleben.
Und er erzählt von seiner Familie. Es ist auch die Geschichte von Ümran, Ardas Mutter und Aylin, seiner Schwester. Von den Frauen der Familie, die ebenfalls vom Vater und Ehemann verlassen wurden.
In Öziris Roman stecken unglaublich viele Aspekte, angefangen vom Leben der in Deutschland geborenen Kinder türkischer Einwandererfamilien und die rassistischen und bürokratischen Hürden auf die sie treffen. Die Suche nach Identität, die jedes Erwachsenwerden begleitet, und ungleich schwieriger ausfällt, wenn die Familie zerrissen ist und die Menschen, die Halt und Orientierung geben sollten, selbst am kämpfen sind.

Was mich aber am meisten berührt und was mir auch noch länger bleiben wird, ist der laute und dringliche Ruf Ardas nach seinem Vater in den schwersten und verzweifelten Stunden seines Lebens. Dieser Mann, den er nie kennengelernt hat, dem er nur das Schlimmste wünscht und den er doch auch in seiner ganzen Fehlbarkeit als Menschen erkennt.
Das ist ein zeitloses, generationen- und kulturenübergreifendes Thema, das Öziri mit „Vatermal“ in eine literarische und intensive Form gießt.

Für den Kulturschaffenden Necati Öziri ist es der erste Roman und „In seinen Texten ist natürlich immer alles wahr“ (Umschlagtext).
Ob wahr oder nicht, ein tolles und dringend empfehlenswertes Debüt!

P.S.: schaut euch auch den Wahnsinns-Buchtrailer dazu an….

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Veröffentlicht am 31.07.2023

Vielschichtig und überraschend!

Die Einsamkeit der Ersten ihrer Art
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Seht ihr dieses Wahnsinns Cover? Wer würde nicht herausfinden wollen, was hinter diesem rätselhaften Bild und diesem assoziationsreichen Titel steckt?

Jetzt, nach Beenden des Romans, bewundere ich die ...

Seht ihr dieses Wahnsinns Cover? Wer würde nicht herausfinden wollen, was hinter diesem rätselhaften Bild und diesem assoziationsreichen Titel steckt?

Jetzt, nach Beenden des Romans, bewundere ich die Vieldeutigkeit und die Passgenauigkeit von beidem.

Die Einsamkeit der Ersten ihrer Art.
Meine erster, naheliegender Schluss ist, dass damit Grubers Protagonistin Arielle gemeint ist, und das ist sie sicher auch. Denn Arielle ist 14 und hat eine seltene Chromosomenanomalie. Diese Anomlie hat ihre Schweißdrüsen verschwinden lassen und sie häßlich gemacht, wie ihre Mutter und ihre Großmutter sagen. Arielle hat keine Haare und (fast) keine Zähne. Im Zeitalter von Social Media und der begrenzten Aufmerksamkeitsspanne möchte jede*r etwas besonderes sein. Aber besonders häßlich?
Arielle findet in dem aussortierten Müll, den sie zusammen mit ihrem Vater aus Wohnungen von Verstorbenen räumt, ein gebrauchtes Handy mit unzähligen Fotos eines Mädchens mit sozial gewünschterem Aussehen in ihrem Alter.
Sie erstellt sich eine Social Media Profil und lädt die Bilder dort mit ausgedachten Unterschriften hoch. Und hat damit Erfolg
Bald schon mischt Arielles psychisch labile Mutter mit und wird schnell von der digitalen Bestätigung abhängig.

„Weil es wichtig war, was wir dachten. Weil es von Bedeutung war, das es uns gab.“

Gruber skizziert äußerst treffend und teilweise witzig die Faszination und Mechanismen von Social Media ohne dabei mit dem moralischen Zeigefinger zu deuten. Ich erkenne in allen seinen unterschiedlichen Figuren eine große Sehnsucht und Verletzlichkeit. Manchmal hätte ich mir mehr psychologischen Tiefgang v.a. Bei Arielle gewünscht, aber im Nachgang setzt sich der Roman zu einem Ganzen mit Ecken und Kanten zusammen.
Der Roman liest sich äußerst flüssig und täuscht dadurch manchmal über seine Vielschichtigkeit hinweg. Manchmal deutet Gruber etwas nur mit wenigen Worten an und lässt es mich mit meinen abgespeicherten Stereotypen selbst ergänzen. Das finde ich sehr raffiniert.
Genauso wie den Schluss, der den vorangegangenen Roman merkwürdig rund macht und stilistisch märchenhaft veredelt (jo, das klingt schon komisch, ich kann es nicht besser ausdrücken).

Die Einsamkeit der Ersten ihrer Art. Das lässt eine Vielzahl an Deutungen zu.

Hat mir richtig gut gefallen, dieser Roman mit diesem passenden und widersprüchlichen Cover. Für mich gab es viele interessante Ansätze über die ich nachdachte und mehr Tiefgang als es der lockere Unterhaltungsfaktor vermuten ließ.
Toll!

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Veröffentlicht am 28.07.2023

Großartige und gesellschaftskritische Unterhaltung

Intimleben
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Nein, dieses Ende habe ich nicht kommen sehen. Ich muss vor Überraschung laut lachen.
Da hat mir Niccolò Ammaniti zum Schluß noch eine große Freude gemacht.

But first things first: Niccolò Ammaniti ist ...

Nein, dieses Ende habe ich nicht kommen sehen. Ich muss vor Überraschung laut lachen.
Da hat mir Niccolò Ammaniti zum Schluß noch eine große Freude gemacht.

But first things first: Niccolò Ammaniti ist einer der erfolgreichsten und international renommiertesten Autoren Italiens. Nachdem ich seinen dystopischen Roman „Anna“ gelesen hatte (mittlerweile als Serie verfilmt) war ich sehr auf weitere Romane des Schriftstellers gespannt.

Mit „Intimleben“ hat Ammaniti einen gleichermaßen unterhaltsamen wie gesellschaftlich analytischen Roman geschrieben.

Wie in „Anna“ hat Ammaniti wieder eine interessante weibliche Hautfigur geschaffen. Maria Cristina Palma ist die schönste Frau der Welt und die Ehefrau des amtierenden italienischen Ministerpräsidenten. Mit ihrem perfekten Aussehen, den operierten Brüsten und ihrem oberflächlichen Wesen ist sie zweifellos eine Männerfantasie und die Öffentlichkeit liegt ihr zu Füßen.
Jeder ihrer Schritte wird genau beobachtet, mit den anstehenden Neuwahlen wird es immer schwieriger ihr Intimleben zu wahren.
Dennoch passieren auch in ihrem Leben noch unvorhergesehene Ereignisse: Zufällig trifft sie einen Freund aus ihrer Jugend wieder, der mittlerweile ein sehr attraktiver, erfolgreicher Luxushotelier ist: Nicola Sarti. Nach einem eigentlich vom Beraterstab nicht erlaubten Austausch von privaten Handynummern schreiben sich die beiden. Nicola schickt Maria Cristina alte Bilder von einem lange zurückliegenden gemeinsamen Urlaub, denn die beiden verband mehr als nur eine platonische Freundschaft.
Doch warum schickt Nicola plötzlich ein mehr als 20 Jahre altes, pornöses Video, das die beiden beim Geschlechtsverkehr zeigt. Ein vergessenes, selbst aufgenommenes Sextape…

Die Kaskade an Handlungen, die Ammaniti jetzt beschreibt, wechselt und vermischt sich zwischen komisch, gesellschaftskritisch und dramatisch. Und im Zentrum dieses verworrenen und äußerst unterhaltsamen Reigens steht Maria Cristina, die sich erst einmal die Haare färben lässt.

Mit ihren verzweifelten Versuchen die Kontrolle über die öffentliche Inszenierung ihres Leben zu behalten, zeigt Ammaniti die Menschlichkeit und Verletzlichkeit seiner Figur. Die Frau Maria Cristina bleibt mir letztendlich aber doch ein Rätsel, ihr wahres Intimleben, z.b. ihre Gefühle für ihren Ehemann, enthüllt mir Ammaniti nicht, sondern er lässt einen Rest Mysterium.

Das ist großartige und gesellschaftskritische Unterhaltung, mit einem für mich nicht vorhersehbaren mega Plottwist am Ende, den ich sehr mochte.

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