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Meinungen aus der Lesejury

Veröffentlicht am 02.08.2023

Ein atmosphärisches Highlight!

Das Meer der endlosen Ruhe
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Habt ihr „Das Licht der letzten Tage“ (jetzt wohl „Station Eleven“?) von der Autorin gelesen? Ich las es vor einigen Jahren und es ist mir als Highlight im Gedächtnis geblieben und das wird „Das Meer der ...

Habt ihr „Das Licht der letzten Tage“ (jetzt wohl „Station Eleven“?) von der Autorin gelesen? Ich las es vor einigen Jahren und es ist mir als Highlight im Gedächtnis geblieben und das wird „Das Meer der endlosen Ruhe“ auch.

Emily St. John Mandel schafft mit ihren Romanen einen ganzen literarischen Kosmos, ich treffe Bekannte aus dem „Glashotel“ wieder und sehe die Parallelen und Anspielungen zum Licht der letzten Tage. Vieles entgeht mir sicher auch.

Und was die Romane von St. John Mandel so einzigartig macht und sie ganz wesentlich von vielen anderen abhebt, ist diese unglaublich melancholische Endzeitstimmung, die ich während dem Lesen verspüre.
In den ersten Kapitel durchlebe ich fast transzendente Ahnungen von etwas Größerem, von Verknüpfungen und Zusammenhänge die ich (noch) nicht richtig greifen kann.
Ich springe in den Kapiteln durch die Zeit, in die Jahre 1912, 2020, 2203 und 2401. Anfangs verschleiert St. John Mandel sehr geschickt, wer ihr Protagonist sein wird. Später wird Mandel Gaspery-Jaques Roberts als Ich-Erzähler enthüllen und ich begleite ihn in den nächsten Kapiteln auf seinen Zeitreisen. Der Roman entschlüsselt sich langsam und überraschend.

Ja, wir reden hier von einem Zeitreiseroman.
Doch genauso wie „Das Licht der letzten Tage“ kein typischer dystopischen Endzeit-Pandemie-Roman war, so ist „Das Meer der endlosen Ruhe“ kein typischer Zeitreise-Pandemie-Roman. Mandes Stil ist poetisch und zart. Er kann als sehr metaphorisch oder konkret gelesen werden oder als Mischung aus beidem, je nach eigenem persönlichem Kontext.
Das futuristische Setting und erzeugte Atmosphäre spiegelt und verfremdet gleichzeitig mein aktuelles Lebensgefühl und überführt es in einen ganz anderen Kontext.
Ich rede vom meinem omnipräsenten und apokalyptischen Gedanken: das Ende der Welt, wie wir sie kennen, ist nah.

Genau dieses Lebensgefühl finde ich konzentriert in diesem großartigen Roman. Gleichzeitig ist er eine clever und intelligent konstruierte Zeitreisegeschichte mit dezenten Sci-Fi Anklängen.

Ein absolutes Lesehighlight für mich und für euch eine Empfehlung, falls euch diese Besprechung anspricht!

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Veröffentlicht am 31.07.2023

Bewegend und intensiv - ein tolles Romandebüt

Vatermal
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Die Leseprobe übte einen derartigen intensiven Sog und Faszination auf mich aus, dass ich das Buch unbedingt lesen wollte.
Das Eingangskapitel ist gleichzeitig klassisch und neuartig. Und verdammt catchy.
Klassisch, ...

Die Leseprobe übte einen derartigen intensiven Sog und Faszination auf mich aus, dass ich das Buch unbedingt lesen wollte.
Das Eingangskapitel ist gleichzeitig klassisch und neuartig. Und verdammt catchy.
Klassisch, weil sich Öziri an einem bekannten Stilmittel der Literatur bedient, das ich kenne: der Abrechung oder Aussprache per Brief auf dem Sterbebett
Neuartig, weil Öziri dieses Stilmittel so modern, wütend und verletzlich neu interpretiert, das es für mich zu einer neuen Leseerfahrung wird.

Öziri lässt seinen todkranken Ich-Erzähler Arda abrechnen, und zwar mit seinem Vater Metin, der die Familie früh verlassen hat und immer nur eine Leerstelle in seinem Leben war.
Es ist mehr als nur eine Abrechnung. Arda erzählt von seinem Aufwachsen, seiner Jugend und seinem jungen Erwachsenenleben.
Und er erzählt von seiner Familie. Es ist auch die Geschichte von Ümran, Ardas Mutter und Aylin, seiner Schwester. Von den Frauen der Familie, die ebenfalls vom Vater und Ehemann verlassen wurden.
In Öziris Roman stecken unglaublich viele Aspekte, angefangen vom Leben der in Deutschland geborenen Kinder türkischer Einwandererfamilien und die rassistischen und bürokratischen Hürden auf die sie treffen. Die Suche nach Identität, die jedes Erwachsenwerden begleitet, und ungleich schwieriger ausfällt, wenn die Familie zerrissen ist und die Menschen, die Halt und Orientierung geben sollten, selbst am kämpfen sind.

Was mich aber am meisten berührt und was mir auch noch länger bleiben wird, ist der laute und dringliche Ruf Ardas nach seinem Vater in den schwersten und verzweifelten Stunden seines Lebens. Dieser Mann, den er nie kennengelernt hat, dem er nur das Schlimmste wünscht und den er doch auch in seiner ganzen Fehlbarkeit als Menschen erkennt.
Das ist ein zeitloses, generationen- und kulturenübergreifendes Thema, das Öziri mit „Vatermal“ in eine literarische und intensive Form gießt.

Für den Kulturschaffenden Necati Öziri ist es der erste Roman und „In seinen Texten ist natürlich immer alles wahr“ (Umschlagtext).
Ob wahr oder nicht, ein tolles und dringend empfehlenswertes Debüt!

P.S.: schaut euch auch den Wahnsinns-Buchtrailer dazu an….

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Veröffentlicht am 31.07.2023

Lesenswerter Roman über eine unkonventionelle Familie

Die Mütter
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Die Mosuo sind ein kleines chinesisches, matrilinear organisiertes Volk und nach meiner Recherche real existent.
Ihre Kultur spielt eine wesentliche Rolle im neuen Roman von Stefan Györke.
Denn hier sind ...

Die Mosuo sind ein kleines chinesisches, matrilinear organisiertes Volk und nach meiner Recherche real existent.
Ihre Kultur spielt eine wesentliche Rolle im neuen Roman von Stefan Györke.
Denn hier sind Männer und Väter nur Randfiguren, die Gesellschaftt wird von den Frauen dominiert und definiert. Die stärksten Bande gibt es unter Schwestern, die in gemeinsam in Familienbünden leben und die Kinder großziehen.

Györke transfereriert ein solches unkonventionelles Familienkonstrukt direkt ins wohlsituierte Schweizer Bürgertum. Drei Schwestern werden von einer chinesischen Nanny aus dem Volk der Mosuo großgezogen und leben später selbst in einer Lebensgemeinschaft nur aus Schwestern.
Sie bekommen Kinder von verschiedenen Männer, die aber sonst keine weitere Rolle im Leben der Frauen spielen.
Die Töchter können sich am Lebensmodel der Mütter orientieren, aber was wird aus den Söhnen? Wo finden sie Orientierung und Vorbilder?

Ich lese die Geschichte im Wechsel aus der Ich-Erzähler Perspektive von Anton, ein Sohn der Mütter, und aus auktorialler Perspektive. Das bringt Spannung und Abwechslung in den Roman und lässt mich locker über die Seiten fliegen. Ich lese ihn sehr gerne und verfolge sehr interessiert die Konsequenzen dieser ungewöhnlichen Lebensform, die auch auf mich einen großen Reiz ausübt.

„Ein generationenübergreifender, unkonventioneller Liebesroman“ blurbt Dirk Fuhrig vom Deutschlandfunk auf dem Klappentext und dem stimme ich zu.

Doch wie und wo Liebe entsteht und wie es mit dem Lebensmodel der Mütter und Schwestern (und dem Bruder) weitergeht, das empfehle ich euch selbst heraus zu finden.
Manchmal mäanderte mir die Handlung ein bißchen zu undefiniert, hier wären weniger, dafür stärker definierte Erzählthemen besser gewesen. So verwischt mir der Fokus und bleibt oben auf Unterhaltungslevel hängen. In der Story wäre noch mehr gesellschaftshinterfragendes Potential gewesen. Auch für die Figurenzeichnung hätte ich mir ein wenig mehr psychologische Ergründung gewünscht.

Oh ja, aber was für einen zufrieden stellenden Schluss Györke nach einigen unerwarteten Handlungskapriolen noch liefert.
Finde ich schon sehr nice…und auch empfehlenswert, falls ihr euch für unkonventionelle Familienformen oder auch einfach nur für einen guten Roman interessiert!

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Veröffentlicht am 31.07.2023

Vielschichtig und überraschend!

Die Einsamkeit der Ersten ihrer Art
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Seht ihr dieses Wahnsinns Cover? Wer würde nicht herausfinden wollen, was hinter diesem rätselhaften Bild und diesem assoziationsreichen Titel steckt?

Jetzt, nach Beenden des Romans, bewundere ich die ...

Seht ihr dieses Wahnsinns Cover? Wer würde nicht herausfinden wollen, was hinter diesem rätselhaften Bild und diesem assoziationsreichen Titel steckt?

Jetzt, nach Beenden des Romans, bewundere ich die Vieldeutigkeit und die Passgenauigkeit von beidem.

Die Einsamkeit der Ersten ihrer Art.
Meine erster, naheliegender Schluss ist, dass damit Grubers Protagonistin Arielle gemeint ist, und das ist sie sicher auch. Denn Arielle ist 14 und hat eine seltene Chromosomenanomalie. Diese Anomlie hat ihre Schweißdrüsen verschwinden lassen und sie häßlich gemacht, wie ihre Mutter und ihre Großmutter sagen. Arielle hat keine Haare und (fast) keine Zähne. Im Zeitalter von Social Media und der begrenzten Aufmerksamkeitsspanne möchte jede*r etwas besonderes sein. Aber besonders häßlich?
Arielle findet in dem aussortierten Müll, den sie zusammen mit ihrem Vater aus Wohnungen von Verstorbenen räumt, ein gebrauchtes Handy mit unzähligen Fotos eines Mädchens mit sozial gewünschterem Aussehen in ihrem Alter.
Sie erstellt sich eine Social Media Profil und lädt die Bilder dort mit ausgedachten Unterschriften hoch. Und hat damit Erfolg
Bald schon mischt Arielles psychisch labile Mutter mit und wird schnell von der digitalen Bestätigung abhängig.

„Weil es wichtig war, was wir dachten. Weil es von Bedeutung war, das es uns gab.“

Gruber skizziert äußerst treffend und teilweise witzig die Faszination und Mechanismen von Social Media ohne dabei mit dem moralischen Zeigefinger zu deuten. Ich erkenne in allen seinen unterschiedlichen Figuren eine große Sehnsucht und Verletzlichkeit. Manchmal hätte ich mir mehr psychologischen Tiefgang v.a. Bei Arielle gewünscht, aber im Nachgang setzt sich der Roman zu einem Ganzen mit Ecken und Kanten zusammen.
Der Roman liest sich äußerst flüssig und täuscht dadurch manchmal über seine Vielschichtigkeit hinweg. Manchmal deutet Gruber etwas nur mit wenigen Worten an und lässt es mich mit meinen abgespeicherten Stereotypen selbst ergänzen. Das finde ich sehr raffiniert.
Genauso wie den Schluss, der den vorangegangenen Roman merkwürdig rund macht und stilistisch märchenhaft veredelt (jo, das klingt schon komisch, ich kann es nicht besser ausdrücken).

Die Einsamkeit der Ersten ihrer Art. Das lässt eine Vielzahl an Deutungen zu.

Hat mir richtig gut gefallen, dieser Roman mit diesem passenden und widersprüchlichen Cover. Für mich gab es viele interessante Ansätze über die ich nachdachte und mehr Tiefgang als es der lockere Unterhaltungsfaktor vermuten ließ.
Toll!

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Veröffentlicht am 28.07.2023

Großartige und gesellschaftskritische Unterhaltung

Intimleben
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Nein, dieses Ende habe ich nicht kommen sehen. Ich muss vor Überraschung laut lachen.
Da hat mir Niccolò Ammaniti zum Schluß noch eine große Freude gemacht.

But first things first: Niccolò Ammaniti ist ...

Nein, dieses Ende habe ich nicht kommen sehen. Ich muss vor Überraschung laut lachen.
Da hat mir Niccolò Ammaniti zum Schluß noch eine große Freude gemacht.

But first things first: Niccolò Ammaniti ist einer der erfolgreichsten und international renommiertesten Autoren Italiens. Nachdem ich seinen dystopischen Roman „Anna“ gelesen hatte (mittlerweile als Serie verfilmt) war ich sehr auf weitere Romane des Schriftstellers gespannt.

Mit „Intimleben“ hat Ammaniti einen gleichermaßen unterhaltsamen wie gesellschaftlich analytischen Roman geschrieben.

Wie in „Anna“ hat Ammaniti wieder eine interessante weibliche Hautfigur geschaffen. Maria Cristina Palma ist die schönste Frau der Welt und die Ehefrau des amtierenden italienischen Ministerpräsidenten. Mit ihrem perfekten Aussehen, den operierten Brüsten und ihrem oberflächlichen Wesen ist sie zweifellos eine Männerfantasie und die Öffentlichkeit liegt ihr zu Füßen.
Jeder ihrer Schritte wird genau beobachtet, mit den anstehenden Neuwahlen wird es immer schwieriger ihr Intimleben zu wahren.
Dennoch passieren auch in ihrem Leben noch unvorhergesehene Ereignisse: Zufällig trifft sie einen Freund aus ihrer Jugend wieder, der mittlerweile ein sehr attraktiver, erfolgreicher Luxushotelier ist: Nicola Sarti. Nach einem eigentlich vom Beraterstab nicht erlaubten Austausch von privaten Handynummern schreiben sich die beiden. Nicola schickt Maria Cristina alte Bilder von einem lange zurückliegenden gemeinsamen Urlaub, denn die beiden verband mehr als nur eine platonische Freundschaft.
Doch warum schickt Nicola plötzlich ein mehr als 20 Jahre altes, pornöses Video, das die beiden beim Geschlechtsverkehr zeigt. Ein vergessenes, selbst aufgenommenes Sextape…

Die Kaskade an Handlungen, die Ammaniti jetzt beschreibt, wechselt und vermischt sich zwischen komisch, gesellschaftskritisch und dramatisch. Und im Zentrum dieses verworrenen und äußerst unterhaltsamen Reigens steht Maria Cristina, die sich erst einmal die Haare färben lässt.

Mit ihren verzweifelten Versuchen die Kontrolle über die öffentliche Inszenierung ihres Leben zu behalten, zeigt Ammaniti die Menschlichkeit und Verletzlichkeit seiner Figur. Die Frau Maria Cristina bleibt mir letztendlich aber doch ein Rätsel, ihr wahres Intimleben, z.b. ihre Gefühle für ihren Ehemann, enthüllt mir Ammaniti nicht, sondern er lässt einen Rest Mysterium.

Das ist großartige und gesellschaftskritische Unterhaltung, mit einem für mich nicht vorhersehbaren mega Plottwist am Ende, den ich sehr mochte.

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