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Veröffentlicht am 02.09.2022

Utopie von sakraler Wucht

Matrix
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Zuallererst: Lauren Groff hat mit "Matrix" keine der üblichen Mittelalter-Romanzen nach modernem Strickmuster geschrieben, in der die Protagonistin sich als starke Frauenfigur nach heutigem Rollenbild ...

Zuallererst: Lauren Groff hat mit "Matrix" keine der üblichen Mittelalter-Romanzen nach modernem Strickmuster geschrieben, in der die Protagonistin sich als starke Frauenfigur nach heutigem Rollenbild versteht. Ihre Heldin ist, trotz aller Radikalität ihrer weltlichen Ansichten, fest im damaligen Mikrokosmos aus Kirche und Obrigkeit verwurzelt - sie bewundert ihre Königin, das entgangene Leben am Hof, die Kunst der Minne und die Frauen, die sich der Etikette ihrer Zeit verschrieben haben. Und doch passt sich Marie dem Leben an, das ihr zuerst aufgezwungen wird: Aus dem ärmlichen Kloster voller hungernder Nonnen macht sie im Laufe der Jahrzehnte, fern der Orte und Ereignisse von wirklich weltpolitischer Bedeutung, eine Trutzburg früher feministischer Selbstverständlichkeit.

Natürlich hat es die Person Marie de France einst wirklich gegeben, doch die niemals eindeutig identifizierte historische Poetin und Visionärin dürfte nur wenig mit Groffs ungelenker und herber Halbamazone zu tun haben, die sich nach Akzeptanz bei Hofe sehnt und ob ihrer wenig attraktiven Erscheinung dennoch, gerade 17 Jahre alt, von ihrer geliebten Königin Eleanore von Aquitanien in die Quasi-Verbannung geschickt wird.

Lange wünscht sich Marie zurück in den wärmenden Schoß ihres einst so privilegierten Lebens. Die Jahre vergehen, die glückliche Vergangenheit erscheint immer ferner und immer noch hält die Äbtissin an ihrem Traum fest. Doch nebenher widmet sie sich unbeirrt und mit immer größerer Leidenschaft ihren Schwestern im Kloster, verbessert ihr Leben, macht die Frauen zu starken Persönlichkeiten und erschafft so auf die ihr einzig mögliche Weise einen Ort, an dem Wissen und Aufklärung gedeihen. Eine Utopie, sicher, aber eine Utopie von einzigartiger Kraft!

Ungewöhnlich ist an "Matrix" auch der Stil. Durchgängig im Präsens und in indirekter Rede erzählt, rafft Groffs Roman oft Jahrzehnte auf wenigen Seiten zusammen, berichtet nüchtern und ohne wirklich erkennbaren Bogen von Geschehnissen, aus denen andere eine ganze Geschichte gewoben hätten und bleibt dennoch dicht an seiner Protagonistin, reflektiert mit seinem sperrigen Sätzen, die bald einen eigenwilligen Sog entfalten, die kantige Persönlichkeit der Äbtissin Marie, die auf angenehm realistische Art nicht in ihre Zeit passt. Andererseits gelingt der Autorin so auch ein Weltenbau, der auf unnachahmliche Weise ein Bild des Mittelalters jenseits aller Klischees entwirft - nicht nur Dreck, Hunger und Krankheiten werden regelrecht greifbar, ohne den typischen "Misery Porn" aktueller Geschichtsschmöker zu wiederholen, sondern auch die Gedankenwelt jener Zeit.

In der kargen Klösterlichkeit (nach außen und auch nach innen), mit denen sich die Kapitel an den immer gleichen Abläufen der Jahreszeiten abarbeiten und damit einen Rhythmus von geradezu sakraler Wucht erlangen, spiegelt sich der Zustand der realen Welt in einer Mischung aus resignierender Schicksalsergebenheit, emotionalem Aufbegehren, Hilflosigkeit, tiefem Gottesglauben und Tatendrang wider und vermittelt zumindest eine ferne Idee davon, wie unsere Vorfahren sich in einer Gesellschaft behauptet haben, in der ein einzelner Mensch nicht zählte.

Das mag einigen Lesern schnell recht zäh und repetitiv erscheinen, aber genau das scheint auch Sinn und Zweck dieser schriftstellerischen Kraftakts - meinen tiefsten Respekt an Lauren Groff: Hut ab vor soviel Fabulierkunst!

Wohl noch über die nächsten Jahre ein Buch zum Mitreden.

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Veröffentlicht am 21.08.2022

Klassische Fantasy frisch erzählt!

Der schwarzzüngige Dieb (Schwarzzunge, Bd. 1)
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"Der schwarzzüngige Dieb" mag mit seinem etwas sperrigen deutschen Titel zwar nicht gerade einen Innovationspreis gewinnen (zumindest ist er relativ originalgetreu aus dem Englischen übertragen worden), ...


"Der schwarzzüngige Dieb" mag mit seinem etwas sperrigen deutschen Titel zwar nicht gerade einen Innovationspreis gewinnen (zumindest ist er relativ originalgetreu aus dem Englischen übertragen worden), aber schon auf den ersten Seiten präsentiert sich der Auftakt der geplanten Trilogie als moderne Fantasy im besten Licht. Dabei erinnert Christopher Buehlmans erfrischend respektloser Umgang mit seinen Figuren bisweilen an die Ursprünge der aktuellen (bzw. schon fast wieder abflauenden) Grim-Dark-Bewegung, bleibt aber im Vergleich zu den bekanntesten Vertretern des Genres wie etwa Joe Abercrombies "First Law"-Saga gerade in der Charakterentwicklung nahbarer und reflektiert seinen Humor eher ironisch als hoffnungslos zynisch.

Inhaltlich geht es natürlich weitestgehend klassisch zu, aber das ist auch durchaus gut so: Schnell fühlt man sich als Leser heimisch zwischen Landstraße und Gasthaus, im altvertrauten Setting mit ähnlichen Archetypen, humorvollen Einwürfen und einem Einstand in ein Abenteuer, das Lust macht auf mehr. Die zusammengewürfelte Truppe hat genügend Reibungspunkte, um interessante Gruppenkonflikte zu garantieren, die Queststruktur passt sich perfekt in die Erzählweise ein und das World Building ist wundervoll bodenständig und versteigt sich nicht in verkopften Versuchen, besonders originell zu sein. Klingt nicht wie ein Lob, ist aber durchaus so gemeint. "Der schwarzzüngige Dieb" erschafft eine Welt, in die man als Leser gern eintaucht - und auf jeden Fall gern zurückkehrt ...

Besondere Erwähnung verdient auch der fast schon selbstverständliche, aber immer wieder erfreuliche Standard der Hobbit-Presse-Veröffentlichungen bei Klett-Cotta: Das Hardcover sieht gut aus, wirkt mit seiner farblich toll gestalteten Front-Illustration extrem hochwertig und hält natürlich auch das übliche Kartenwerk bereit (diesmal hinten statt vorn, aber das sind nur ganz kleine Meckerdetails). Hier fühlt man sich als Fantasy-Fan immer gut aufgehoben, und gar keine Frage - dafür muss es ganz einfach auch die volle Punktzahl geben. Zugreifen!

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Veröffentlicht am 21.08.2022

A Fairytale of New York

Die Familie
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"Fairytale" heißt Märchen. Und ja, "A Fairytale of New York" ist eigentlich der Titel eines der wohl bekanntesten Songs der irischen Folkpunker The Pogues - ein Weihnachtslied eigentlich, aber gleichzeitig ...


"Fairytale" heißt Märchen. Und ja, "A Fairytale of New York" ist eigentlich der Titel eines der wohl bekanntesten Songs der irischen Folkpunker The Pogues - ein Weihnachtslied eigentlich, aber gleichzeitig ein entlarvender Blick auf das Schicksal unzähliger Immigranten, die es in den letzten 150 Jahren in Richtung Amerika zog: Desillusioniert, zynisch, trotzig. Nie angekommen in der neuen Welt und trotzdem hier zuhause. Es wird schon alles gut. Irgendwann.

Und dann gab es da die Italiener, neben den Iren sicherlich eine der größten Gruppen, die vor den ärmlichen Verhältnissen ihrer alten Heimat flohen und dann an der Ostküste der USA strandeten - verdammt dazu, entweder im Dreck zu wühlen, sich die Finger blutig zu arbeiten oder (wie Joey und Carlo) dem Lockruf der Männer zu folgen, die die Straßen regierten. "La Famiglia" nimmt dich auf, sie beschützt dich, sorgt für dich - und spuckt dich aus, wenn du es dir anders überlegst. Joey schließt einen Pakt mit dem Teufel - Carlo hingegen träumt von einem unabhängigen Leben, von Weizenfeldern und Weinbergen, und verschwindet sehr schnell aus dieser Geschichte, weil er sich für seinen Traum gegen die Familie stellen muss.

Übrig bleiben Frau und Tochter: Lina versinkt in Verzweiflung, und Antonia hinterfragt auf einmal ihre jahrelange Wand-an-Wand-Freundschaft mit Sofia, der Tochter von Joey, der sich angepasst hat und den dunklen Pfad einschlägt. So wachsen die beiden Mädchen nebeneinander auf, doch inzwischen Lichtjahre voneinander entfernt; auch wenn sie sich beide in die Männer mit der Pomade im Haar verlieben, die Typen, vor denen ihre Mütter sie immer gewarnt haben. Das geht nicht lange gut, und die Kluft zwischen Sofia und Antonia wächst, je größer der Einfluss der "Familie" auf ihrer beider Leben wird ...

Naomi Krupitskys "Die Familie" seziert mit gnadenloser Beiläufigkeit den permanenten Schatten, den das organisierte Verbrechen über diejenigen wirft, die sich seinem Einfluss nicht entziehen können. Dabei ist ihr New York eine Stadt, in der jeder unter sich bleibt, im Schutz einer Gemeinschaft, die einen schützt vor all dem, was da draußen passiert. Wir beginnen im Jahre 1928, Sofia und Antonia sind noch Grundschüler, die Depression und der Börsencrash werfen ihre Schatten voraus, und von da an geht es bergab. Antonia verliert beide Eltern, den Vater an die Familie, die Mutter an die Verzweiflung. Sofia verliert Antonia. Und alle anderen verlieren das Vertrauen in eine Welt, die bisher so geordnet erschien, so bescheiden, aber trotzdem lebenswert. Nichts ist mehr so, wie es war. Die "Familie" steht über allem. Und dennoch muss es doch möglich sein, auszubrechen aus diesem Teufelskreis. Der Sehnsucht zu folgen, dem Herzen, dem Kopf. Sie werden es versuchen, Antonia und Sofia - jede auf ihre Art. Am Ende steht (vielleicht) die Freiheit. Oder nur ein weiterer Käfig.

Über die literarische Qualität von "Die Familie" muss man keine Worte verlieren. Erstaunlich für ein Debüt, aber mit ihrem ersten Werk kann sich Naomi Krupitsky bereits nicht nur im Feuilleton, sondern auch beim Publikum etablieren - zu Recht ein Bestseller, in dem das New York der 30er und 40er Jahre (wieder einmal) nicht nur Kulisse ist, sondern ein weiterer Protagonist: Eine Stadt im Ausnahmezustand, die brüllt und sich windet, die Menschen und Schicksale verschluckt, die sicherer Hafen ist, träumerische Nostalgie, aber auch gnadenloser Moloch bar jeden Mitleids. Nur hier kann "Die Familie" im Glanz ihrer wunderbaren Sätze erstrahlen, nur hier wird eine längst vergessene Szenerie so lebendig und greifbar vors geistige Auge geholt - nur hier sind Leben und Tod, Verzweiflung und Hoffnung, Vergangenheit und Zukunft so nah wie niemals zuvor. Nicht seit Mario Puzos "Der Pate" hat ein Roman so scheinbar mühelos die Welt auf den Kopf gestellt. Atemberaubend schön!

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Veröffentlicht am 21.08.2022

Goodfellas in Rhode Island

City on Fire
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Es sind die 80er Jahre in Amerika. In den Straßenschluchten New Yorks steigt unter Reagan der neue Finanzreichtum auf, der schon bald im ersten großen Börsencrash seit sechzig Jahren enden wird, in Los ...

Es sind die 80er Jahre in Amerika. In den Straßenschluchten New Yorks steigt unter Reagan der neue Finanzreichtum auf, der schon bald im ersten großen Börsencrash seit sechzig Jahren enden wird, in Los Angeles regieren Fitnesswahn und die großen Gangkriege zwischen den Bloods und den Crips und Miami hat mit dem legendären Scarface schon längst seinen eigenen exilkubanischen Antihelden gekrönt, auch wenn der im Film nur Al Pacino heißt.

Nur in Rhode Island läuft alles noch eine Nummer kleiner. Der kleinste US-Bundesstaat, ganz oben an der Nordostküste, wacht erst dann so langsam aus seinem Tiefschlaf auf, als inmitten der Fischeridylle zwischen Strandcafé und Urlaubs-Cottage ein Krieg zwischen zwei Clans ausbricht, die vorher eigentlich nur in Ruhe ihren Geschäften nachgehen wollten. Und Danny Ryan, der Sturkopf, der sich aus allem raushalten wollte, hängt jetzt mitten zwischen allen Fronten ...

Mit "City on Fire" beginnt Don Winslow seine (nach eigenen Angaben) letzte Trilogie vor der Autoren-Rente. Das ist eine traurige Nachricht, denn an Winslow detailverliebte Dringlichkeit kommen nur wenige moderne Schriftsteller ran - und am ehesten noch Stephen King, der zwar in anderen Genres zuhause ist, aber eine ähnliche Meisterschaft an den Tag legt, wenn es um genau beobachtete Alltagsrituale in einer von gesellschaftlichen Normen durchdrungenen Gemeinschaft geht. Schon der Einstieg von "City on Fire" tropft atmosphärisch aus allen Seiten, riecht nach Fisch und Schlick und Sonnencreme, nach träger Sommerhitze, Eis am Stiel und schnellem Nachmittagssex. Ein Urlaubstag am Meer, der schon einen dunklen Keim in sich birgt, irgendwo weit hinten, noch unbemerkt, aber schon unheimlich präsent.

Und so wird Don Winslow wieder mal zum Chronisten des beiläufig Bösen - weniger eskalierend als in der Mexiko-Kartell-Trilogie, die auf ewig die Krone seiner Schöpfungen bleiben wird, aber genauso unerbittlich pulsierend in den Untiefen unzähliger, viel zu beiläufig gelebter Leben, die letztlich im Verderben enden. Oder eben jenes Verderben über die bringen, die ihnen am nächsten stehen ...

Wer das lesen soll? Alle. An Winslow kommt keiner vorbei: Ein rastloser Wortkünstler auf dem Höhepunkt seines Schaffens, ein begnadeter Thrillerautor, den man nicht mal verstehen muss, um die Szenerie seiner intensiven Geschichten in sich aufzusaugen, und ein Buch, dass bis zur letzten Seite nichts von seiner Sogwirkung einbüßt. Noir Americaine, hardboiled Bildungsroman und sozialkritische Crime-Saga in einem - exzellent!

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Veröffentlicht am 20.05.2022

Ein Action-Film zum Lesen

Flug 416
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Die Story ist eigentlich schnell erzählt: Der titelgebende Coastal Airways Flug 416 (im englischen Original heißt der Roman kurz und treffend "Falling") ist kaum vom Boden abgehoben, als das Handy von ...


Die Story ist eigentlich schnell erzählt: Der titelgebende Coastal Airways Flug 416 (im englischen Original heißt der Roman kurz und treffend "Falling") ist kaum vom Boden abgehoben, als das Handy von Flugkapitän Bill Hoffman klingelt. Am anderen Ende der Leitung hat ein Erpresser eine unglaubliche Botschaft für den Familienvater: Er wird Hoffmans Frau und Kinder töten, wenn der Kapitän das Flugzeug (mit fast 150 Seelen an Bord) nicht abstürzen lässt. Eine unmögliche Entscheidung für Bill Hoffman, und verzweifelt sucht er nach einem Ausweg ...

T.J. Newmans Romandebüt ist vor allem interessant, weil es für einen Erstling nicht nur ungewöhnlich professionell durchstrukturiert ist, sondern sich tatsächlich der Regeln des Actionkinos bedient: Eine spannende Ausgangssituation samt Helden und Bad Guys wird schnell etabliert, kurze Szenen/Kapitel vermitteln atemloses Tempo, es wird ökonomisch straff auf Höhepunkte zugeschrieben und kleinere bis mittlere Action-Sequenzen setzen detailreiche Glanzlichter und resultieren oft in gar nicht so zimperlichen Gemeinheiten. Die Autorin war ehemals Flugbegleiterin und bringt so einen nicht zu unterschätzenden Erfahrungsschatz hinsichtlich der üblichen Gegebenheiten an Bord ein, der für glaubhafte Figuren und eine authentische Atmosphäre sorgt. Zu guter Letzt wurde das daraus entstandene Werk laut T.J. Newman im Lektorat auf die optimale Spannungskurve getrimmt, und obwohl das Endergebnis somit also fast vollständig aus dem Baukasten für kinoreife High-Concept-Thriller stammt, kann man sich der Sogwirkung dieses hinreißend straff gezogenen Nervenfetzers nicht entziehen.

Mehr Kino als Literatur, und damit tatsächlich ein echter Action-Blockbuster zum Lesen, der trotz der Typisierung seiner Charaktere immer wieder genug Nähe aufbauen kann, um auch emotional mitzureißen, ohne in einer reinen Materialschlacht zu enden. Kompromissloser High-Speed-Thrill für nahezu jeden Urlaubskoffer!

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