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Veröffentlicht am 21.08.2022

A Fairytale of New York

Die Familie
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"Fairytale" heißt Märchen. Und ja, "A Fairytale of New York" ist eigentlich der Titel eines der wohl bekanntesten Songs der irischen Folkpunker The Pogues - ein Weihnachtslied eigentlich, aber gleichzeitig ...


"Fairytale" heißt Märchen. Und ja, "A Fairytale of New York" ist eigentlich der Titel eines der wohl bekanntesten Songs der irischen Folkpunker The Pogues - ein Weihnachtslied eigentlich, aber gleichzeitig ein entlarvender Blick auf das Schicksal unzähliger Immigranten, die es in den letzten 150 Jahren in Richtung Amerika zog: Desillusioniert, zynisch, trotzig. Nie angekommen in der neuen Welt und trotzdem hier zuhause. Es wird schon alles gut. Irgendwann.

Und dann gab es da die Italiener, neben den Iren sicherlich eine der größten Gruppen, die vor den ärmlichen Verhältnissen ihrer alten Heimat flohen und dann an der Ostküste der USA strandeten - verdammt dazu, entweder im Dreck zu wühlen, sich die Finger blutig zu arbeiten oder (wie Joey und Carlo) dem Lockruf der Männer zu folgen, die die Straßen regierten. "La Famiglia" nimmt dich auf, sie beschützt dich, sorgt für dich - und spuckt dich aus, wenn du es dir anders überlegst. Joey schließt einen Pakt mit dem Teufel - Carlo hingegen träumt von einem unabhängigen Leben, von Weizenfeldern und Weinbergen, und verschwindet sehr schnell aus dieser Geschichte, weil er sich für seinen Traum gegen die Familie stellen muss.

Übrig bleiben Frau und Tochter: Lina versinkt in Verzweiflung, und Antonia hinterfragt auf einmal ihre jahrelange Wand-an-Wand-Freundschaft mit Sofia, der Tochter von Joey, der sich angepasst hat und den dunklen Pfad einschlägt. So wachsen die beiden Mädchen nebeneinander auf, doch inzwischen Lichtjahre voneinander entfernt; auch wenn sie sich beide in die Männer mit der Pomade im Haar verlieben, die Typen, vor denen ihre Mütter sie immer gewarnt haben. Das geht nicht lange gut, und die Kluft zwischen Sofia und Antonia wächst, je größer der Einfluss der "Familie" auf ihrer beider Leben wird ...

Naomi Krupitskys "Die Familie" seziert mit gnadenloser Beiläufigkeit den permanenten Schatten, den das organisierte Verbrechen über diejenigen wirft, die sich seinem Einfluss nicht entziehen können. Dabei ist ihr New York eine Stadt, in der jeder unter sich bleibt, im Schutz einer Gemeinschaft, die einen schützt vor all dem, was da draußen passiert. Wir beginnen im Jahre 1928, Sofia und Antonia sind noch Grundschüler, die Depression und der Börsencrash werfen ihre Schatten voraus, und von da an geht es bergab. Antonia verliert beide Eltern, den Vater an die Familie, die Mutter an die Verzweiflung. Sofia verliert Antonia. Und alle anderen verlieren das Vertrauen in eine Welt, die bisher so geordnet erschien, so bescheiden, aber trotzdem lebenswert. Nichts ist mehr so, wie es war. Die "Familie" steht über allem. Und dennoch muss es doch möglich sein, auszubrechen aus diesem Teufelskreis. Der Sehnsucht zu folgen, dem Herzen, dem Kopf. Sie werden es versuchen, Antonia und Sofia - jede auf ihre Art. Am Ende steht (vielleicht) die Freiheit. Oder nur ein weiterer Käfig.

Über die literarische Qualität von "Die Familie" muss man keine Worte verlieren. Erstaunlich für ein Debüt, aber mit ihrem ersten Werk kann sich Naomi Krupitsky bereits nicht nur im Feuilleton, sondern auch beim Publikum etablieren - zu Recht ein Bestseller, in dem das New York der 30er und 40er Jahre (wieder einmal) nicht nur Kulisse ist, sondern ein weiterer Protagonist: Eine Stadt im Ausnahmezustand, die brüllt und sich windet, die Menschen und Schicksale verschluckt, die sicherer Hafen ist, träumerische Nostalgie, aber auch gnadenloser Moloch bar jeden Mitleids. Nur hier kann "Die Familie" im Glanz ihrer wunderbaren Sätze erstrahlen, nur hier wird eine längst vergessene Szenerie so lebendig und greifbar vors geistige Auge geholt - nur hier sind Leben und Tod, Verzweiflung und Hoffnung, Vergangenheit und Zukunft so nah wie niemals zuvor. Nicht seit Mario Puzos "Der Pate" hat ein Roman so scheinbar mühelos die Welt auf den Kopf gestellt. Atemberaubend schön!

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Veröffentlicht am 21.08.2022

Goodfellas in Rhode Island

City on Fire
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Es sind die 80er Jahre in Amerika. In den Straßenschluchten New Yorks steigt unter Reagan der neue Finanzreichtum auf, der schon bald im ersten großen Börsencrash seit sechzig Jahren enden wird, in Los ...

Es sind die 80er Jahre in Amerika. In den Straßenschluchten New Yorks steigt unter Reagan der neue Finanzreichtum auf, der schon bald im ersten großen Börsencrash seit sechzig Jahren enden wird, in Los Angeles regieren Fitnesswahn und die großen Gangkriege zwischen den Bloods und den Crips und Miami hat mit dem legendären Scarface schon längst seinen eigenen exilkubanischen Antihelden gekrönt, auch wenn der im Film nur Al Pacino heißt.

Nur in Rhode Island läuft alles noch eine Nummer kleiner. Der kleinste US-Bundesstaat, ganz oben an der Nordostküste, wacht erst dann so langsam aus seinem Tiefschlaf auf, als inmitten der Fischeridylle zwischen Strandcafé und Urlaubs-Cottage ein Krieg zwischen zwei Clans ausbricht, die vorher eigentlich nur in Ruhe ihren Geschäften nachgehen wollten. Und Danny Ryan, der Sturkopf, der sich aus allem raushalten wollte, hängt jetzt mitten zwischen allen Fronten ...

Mit "City on Fire" beginnt Don Winslow seine (nach eigenen Angaben) letzte Trilogie vor der Autoren-Rente. Das ist eine traurige Nachricht, denn an Winslow detailverliebte Dringlichkeit kommen nur wenige moderne Schriftsteller ran - und am ehesten noch Stephen King, der zwar in anderen Genres zuhause ist, aber eine ähnliche Meisterschaft an den Tag legt, wenn es um genau beobachtete Alltagsrituale in einer von gesellschaftlichen Normen durchdrungenen Gemeinschaft geht. Schon der Einstieg von "City on Fire" tropft atmosphärisch aus allen Seiten, riecht nach Fisch und Schlick und Sonnencreme, nach träger Sommerhitze, Eis am Stiel und schnellem Nachmittagssex. Ein Urlaubstag am Meer, der schon einen dunklen Keim in sich birgt, irgendwo weit hinten, noch unbemerkt, aber schon unheimlich präsent.

Und so wird Don Winslow wieder mal zum Chronisten des beiläufig Bösen - weniger eskalierend als in der Mexiko-Kartell-Trilogie, die auf ewig die Krone seiner Schöpfungen bleiben wird, aber genauso unerbittlich pulsierend in den Untiefen unzähliger, viel zu beiläufig gelebter Leben, die letztlich im Verderben enden. Oder eben jenes Verderben über die bringen, die ihnen am nächsten stehen ...

Wer das lesen soll? Alle. An Winslow kommt keiner vorbei: Ein rastloser Wortkünstler auf dem Höhepunkt seines Schaffens, ein begnadeter Thrillerautor, den man nicht mal verstehen muss, um die Szenerie seiner intensiven Geschichten in sich aufzusaugen, und ein Buch, dass bis zur letzten Seite nichts von seiner Sogwirkung einbüßt. Noir Americaine, hardboiled Bildungsroman und sozialkritische Crime-Saga in einem - exzellent!

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Veröffentlicht am 20.05.2022

Ein Action-Film zum Lesen

Flug 416
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Die Story ist eigentlich schnell erzählt: Der titelgebende Coastal Airways Flug 416 (im englischen Original heißt der Roman kurz und treffend "Falling") ist kaum vom Boden abgehoben, als das Handy von ...


Die Story ist eigentlich schnell erzählt: Der titelgebende Coastal Airways Flug 416 (im englischen Original heißt der Roman kurz und treffend "Falling") ist kaum vom Boden abgehoben, als das Handy von Flugkapitän Bill Hoffman klingelt. Am anderen Ende der Leitung hat ein Erpresser eine unglaubliche Botschaft für den Familienvater: Er wird Hoffmans Frau und Kinder töten, wenn der Kapitän das Flugzeug (mit fast 150 Seelen an Bord) nicht abstürzen lässt. Eine unmögliche Entscheidung für Bill Hoffman, und verzweifelt sucht er nach einem Ausweg ...

T.J. Newmans Romandebüt ist vor allem interessant, weil es für einen Erstling nicht nur ungewöhnlich professionell durchstrukturiert ist, sondern sich tatsächlich der Regeln des Actionkinos bedient: Eine spannende Ausgangssituation samt Helden und Bad Guys wird schnell etabliert, kurze Szenen/Kapitel vermitteln atemloses Tempo, es wird ökonomisch straff auf Höhepunkte zugeschrieben und kleinere bis mittlere Action-Sequenzen setzen detailreiche Glanzlichter und resultieren oft in gar nicht so zimperlichen Gemeinheiten. Die Autorin war ehemals Flugbegleiterin und bringt so einen nicht zu unterschätzenden Erfahrungsschatz hinsichtlich der üblichen Gegebenheiten an Bord ein, der für glaubhafte Figuren und eine authentische Atmosphäre sorgt. Zu guter Letzt wurde das daraus entstandene Werk laut T.J. Newman im Lektorat auf die optimale Spannungskurve getrimmt, und obwohl das Endergebnis somit also fast vollständig aus dem Baukasten für kinoreife High-Concept-Thriller stammt, kann man sich der Sogwirkung dieses hinreißend straff gezogenen Nervenfetzers nicht entziehen.

Mehr Kino als Literatur, und damit tatsächlich ein echter Action-Blockbuster zum Lesen, der trotz der Typisierung seiner Charaktere immer wieder genug Nähe aufbauen kann, um auch emotional mitzureißen, ohne in einer reinen Materialschlacht zu enden. Kompromissloser High-Speed-Thrill für nahezu jeden Urlaubskoffer!

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Veröffentlicht am 01.05.2022

Ultimativ New York!

New York und der Rest der Welt
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Es hat fast fünfzig Jahre gedauert, bis es die scharfzüngige Schreibe von Fran Lebovitz nach Deutschland geschafft hat. "New York und der Rest der Welt" ist die Gesamtveröffentlichung zweier Sammelbände, ...

Es hat fast fünfzig Jahre gedauert, bis es die scharfzüngige Schreibe von Fran Lebovitz nach Deutschland geschafft hat. "New York und der Rest der Welt" ist die Gesamtveröffentlichung zweier Sammelbände, von denen der erste bereits 1978 (und der folgende drei Jahre später) in den Staaten erschien und enthält die besten Essays aus Fran Lebovitz' umfangreichem satirischem Werk - staubtrocken erzählte und gerade deswegen so brüllend witzige Perlen der alltäglichen Beobachtung des Großstadtlebens, die zwischen Anfang der 70er und Anfang der 80er entstanden und dennoch erstaunlich zeitlos sind. Das ist im Prinzip das literarische Äquivalent eines frühen Woody-Allen-Films - eine hemmungslos verklärte Liebeserklärung an die Stadt New York, ihre durchgeknallten Bewohner und deren permanente Neurosen. Wer da nicht sofort ein Ticket in die Stadt, die niemals schläft, buchen möchte, dem ist irgendwie auch nicht mehr zu helfen.

Fran Lebovitz ist wirklich eine ganz Große, nicht erst seit ihrer Netflix-Serie, in der die einstige Weggefährtin von Andy Warhol und spätere Kolumnistin der "Vanity Fair" von ihrem Freund Martin Scorsese über sieben Folgen hinweg liebevoll ruppig porträtiert wird. Stilikone, Komikerin, spröde Muse und resolute Intelligenzlerin - das ist Fran in ihrer Gesamtheit und ihre hier versammelten Stadtvignetten sprühen vor süffisanter Streitbarkeit, Freude an detaillierter Beobachtung und Spaß am Wort. Ihre Begegnungen mit "hörbar braungebrannten" Agenten, sympathischen Großstadtmacken und den ganz normalen Verrücktheiten des urbanen Alltags sind eine Oase kostbaren Wassers in einer Wüste an gleichgeschalteter Problem- und Genreliteratur. Medizin für die Pandemiekrise und Futter fürs Hirn - etwas anderes als eine unbedingte Leseempfehlung braucht hier gar nicht diskutiert zu werden.

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Veröffentlicht am 01.05.2022

Der perfekte Sommer-Roman!

Man vergisst nicht, wie man schwimmt
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Nostalgie pur. Damit lässt sich Christian Hubers "Man vergisst nicht, wie man schwimmt" am einfachsten beschreiben und obwohl sein Buch damit in der Tradition postmoderner Meta-Nostalgie á la Frank Goosen, ...

Nostalgie pur. Damit lässt sich Christian Hubers "Man vergisst nicht, wie man schwimmt" am einfachsten beschreiben und obwohl sein Buch damit in der Tradition postmoderner Meta-Nostalgie á la Frank Goosen, Alina Bronsky oder Sven Regener steht (und in seiner rotzigen Nonchalance mehrfach an Rocco Schamonis "Dorfpunks" und natürlich Herrndorfs "Tschick" erinnert), schafft Huber mit seiner fünfzehnjährigen Hauptfigur Krüger (der eigentlich Pascal heißt) einen völlig eigenständigen Teenager kurz vorm alles entscheidenden Millennium, in der letzten Gluthitze eines langen Sommers. Da trieft die Sonne nur so aus den Seiten, und jeder, der dabei war im Sommer 1999, wird hier jedes authentische Detail der Neunzigerjugend in komprimierter Form erneut begrüßen dürfen.

Da ist die Geschichte an sich, in der Krüger ein faszinierendes Mädchen vom Zirkus trifft, die ihn durch diesen scheinbar endlosen Sommertag begleitet, fast schon reine Nebensache, denn Huber nimmt seine Leser mit auf eine Zeitreise, die so real erscheint, weil es damals wirklich so war. Damals. Es ist noch keine 25 Jahre her, aber nirgendwo scheint die Vergänglichkeit dieser unbeschwerten Jugend greifbarer als hier. Das hat wehmütige Züge, ist gleichzeitig skurril und lauthals fröhlich, aber trotzdem leise genug, wo es angebracht ist. Huber bevormundet seine Leser nicht, er erklärt auch selten die Einzigartigkeit dieses Lebensgefühls, weil er sich letztlich darauf verlassen kann, dass sein Publikum sich in in Krüger und in diesem Sommer wiedererkennt.

Launige Lese-Literatur, die einlullt und Wachmacht zugleich, die Erinnerungen weckt und Träume provoziert. Da verzeiht man selbst einige wenige krumme Formulierungen und den sporadischen Satzfehler hier und da. Einfach nur echt - und schon jetzt ein Klassiker unter den zahllosen Coming-of-Age-Romanen! Danke, Christian Huber. Danke aus tiefstem Herzen.

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