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Veröffentlicht am 26.04.2024

Eine sehr gelungene Satire

Wo der spitzeste Zahn der Karawanken in den Himmel hinauf fletscht
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Im Hof vom Gratschbacher Hof, dem Gasthaus ihrer Eltern, der Heimat der elfjährigen steht also nun der LKW, der all ihr Hab und Gut in seinem großen Inneren aufnehmen und sie von hier fort bringen wird. ...

Im Hof vom Gratschbacher Hof, dem Gasthaus ihrer Eltern, der Heimat der elfjährigen steht also nun der LKW, der all ihr Hab und Gut in seinem großen Inneren aufnehmen und sie von hier fort bringen wird. Fort von der schönen Luca, die ihr den Rücken zugedreht hat und in ihrer eigenen Landessprache langsam rückwärts zählt. Die Beine der Mutter schreiten großschrittig an ihrem Versteck vorbei, um hier und da einzugreifen, zu korrigieren, sich aber auch auf die Stufen zu setzen und zu stöhnen.

Sie erinnert ein Klassenfoto von neunzehnhundertneunundachtzig, da war der Franzi noch dabei. Zuerst hatte sie ihm eine gepatscht, weil er was blödes zu ihr gesagt hatte. Dann war ihr schlechtes Gewissen so groß, dass sie ihn zum Waldhaus eingeladen hatte. Dort hatte er sich bereit erklärt, sich Kopfüber in den Brunnen zu wagen, während die anderen Kinder ihn abseilten. Dann kam das Seil ohne den Franzi wieder nach oben und sie mussten die Feuerwehr rufen.

Sie hört Luca immer noch zählen und sieht jetzt außerdem, aus ihrer Position, die krampfadrigen Beine der Stubenhofoma das Gatter passieren. Man sieht ihr die schlechte Laune gleich am Gangbild an und da schimpft sie auch schon auf die Mutter und ihre Geldgier, weil sie den Hof verkauft hat.

Die Stubenhofoma, heute zu alt um die Tochter zu watschen, ist mit ihrem fahlen Gesichtsausdruck, die Wurzel der Aversion ihrer Enkelin. S. 36

Im Religionsunterricht hatte sie erfahren, dass das Rotkehlchen ja deswegen die rote Brust habe, weil es bei dem Herrn Jesus am Kreuze verweilt hatte und ein Blutstropfen, der sich, wegen der Dornenkrone von dessen Stirn gelöst hatte, das Rotkehlchen traf.

Fazit: Diese Scharade auf ein Dorf in Österreich hat mir so gut gefallen. Julia Jost macht sich Luft, lässt alles raus. Sie erzählt über die menschlichen Abgründe, die sich in einem Dorf nicht so gut verheimlichen lassen, wie in der Anonymität einer Stadt. Pädophilie in der katholischen Kirche, Homophobie der Dorfbewohner, Bigotterie und Faschismus. Und in all diesen Untiefen, findet ein junges Mädchen, das viel lieber ein Junge wäre, ihren Sinn des Lebens. Die Geschichte ist so lustig und bissig erzählt, dass ich sie als Satiere verstehe. Ein wirklich gut gelungenes Debüt.

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Veröffentlicht am 24.04.2024

Große Erzählkunst

Prima facie
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Tony durchschaut das Gesetz der Straße, hier im Gerichtssaal jedoch, erkennt er keinerlei Zeichen. Er hat Angst. Seine Furcht lässt diesen großen, gewalttätigen Jungen zu ihr aufschauen, seine Sinne sind ...

Tony durchschaut das Gesetz der Straße, hier im Gerichtssaal jedoch, erkennt er keinerlei Zeichen. Er hat Angst. Seine Furcht lässt diesen großen, gewalttätigen Jungen zu ihr aufschauen, seine Sinne sind geschärft. Seine Tatoos hat er, wie empfohlen unter einer Schicht Polyester von Primark verborgen. Er ist gerade fünfundzwanzig Jahre geworden.

Tess steht da, Rücken gerade, guter Stand, kalkuliert und berechnend. Der Richter beobachtet wie sie heranpirscht. Mögen die Spiele beginnen. Tess wiegt den einzigen Zeugen, der glaubt gesehen zu haben, dass Tony zuerst zugeschlagen hat, in Sicherheit, wickelt ihn ein, stellt sich ein wenig ungeschickt an. Er fühlt sich überlegen, wird Wachs in ihren Händen, formbar, unvorsichtig. Und schon verwickelt er sich in Widersprüche.

Tess ist Anwältin, hat sich auf Strafrecht spezialisiert. Sie ist zugleich gefürchtet und geachtet, erlaubt sich einfach keine Fehler. Der Weg hierher war hart. Mit einem Stipendium ehrte man ihre vorherigen Leistungen. Die meisten hielten das für Glück. Sie lässt sich ihre Herkunft nicht anmerken. Den prügelnden Vater, der verschwand, bevor Tess alt genug war, um die Hand auch gegen sie zu erheben. Ihr Bruder Johnny wurde mit siebzehn verurteilt, hatte nicht das Glück, würdig vertreten zu werden. Ihre Ma putzt seit Tess denken kann. Sie hat sie selten ohne Uniform und Namensschild gesehen. Johnny und Ma haben sie nach Cambridge gebracht, damit sie sich einrichten konnte. Da saßen sie zu dritt auf ihrem Bett und schauten zu Boden. Es war eine tiefe Liebe zwischen ihnen, das konnte Tess spüren, nur zeigen konnte sie keiner.

Wärend der ersten Vorlesung sitzt sie zwischen Mia und einem verwegen gutaussehenden Typen. Die Professorin erklärt ihnen, dass jeder dritte im Saal, das Jurastudium vorzeitig abbrechen wird, jeder dritte. Das wird nicht Tess sein, nicht in dieser Sache, aber in einer anderen. Tess wird die eine von jeder dritten sein.

Fazit: Was für ein Debüt. Suzie Miller entführt mich in die Welt der augenscheinlichen Gerechtigkeit. Die Protagonistin ihrer Ich-Erzählung, ist so brilliant, wie perfektionistisch, glaubt alles in ihrem Leben unterliege ihrer Kontrolle und gewinnt daraus eine Sicherheit, die sie in ihrer Herkunftsfamilie nicht hatte. Ihr Ehrgeiz beflügelt sie zu enormen Erfolgen, die ihren Selbstwert heben. Es könnte nicht besser laufen, doch dann erlebt sie einen Kontrollverlust, der alles infrage stellt, ihr Leben, sie selbst, ihre Arbeit, ihr Glaube an Gerechtigkeit. Ich habe ihr die Geschichte in vollem Umfang abgekauft, genau das passiert jeder dritten Frau. Suzie Miller hat intensive Gefühle in mir ausgelöst, mich miterleben lassen, wie sich das Schreckliche anfühlt und was es mit eine*m macht, das ist große Schreibkunst. Eine riesige Leseempfehlung für diesen feministischen Roman.

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Veröffentlicht am 22.04.2024

Grandios erzählt

Service
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Nach dem Gespräch mit Mel wandern Hannahs Gedanken zurück in die Zeit im „T“, vor zehn Jahren. Sie erinnert die besoffenen, anzüglichen, reichen Männer, die niemand zurecht wies. Daniel brüllte oft in ...

Nach dem Gespräch mit Mel wandern Hannahs Gedanken zurück in die Zeit im „T“, vor zehn Jahren. Sie erinnert die besoffenen, anzüglichen, reichen Männer, die niemand zurecht wies. Daniel brüllte oft in der Küche herum, schmiss Töpfe durch den Pass, schrie Unflätigkeiten. Trotzdem war sie für ihn etwas besonderes, das spürte sie. Ihr fallen so viele Momente ein, in denen sie hätte gehen sollen, bevor sie es bereuen würde zu bleiben, sie blieb. Es gab viele gute Zeiten, wenn sie wieder erfolgreich eine Schlacht geschlagen hatten, die Stimmung im Team, alle wie in Trance, das Trinkgeld, das so oft, fast unverschämt viel war, so als hätte man Gott weiß was dafür getan.

Daniel hatte sich seine Karriere über Jahrzehnte hart erarbeitet. Sein Sohn erfuhr es aus dem Internet, noch bevor sie es ihm sagen konnten. Er rief ihn Vergewaltiger. Der Schmerz war gewaltig. Als er wieder atmen konnte versuchte er zu erklären, dass sich Frauen, seit Menschheitsgedenken, zu erfolgreichen Männern hingezogen fühlen. Julie verdrehte die Augen. 80 % Stornierungen, wegen dieser Schlampe, zwingen ihn dazu, sein sonst mehrfach belegtes Restaurant, im Herzen Dublins zu schließen. Es ist ein wirtschaftliches Desaster.

Für die Verhandlung soll er seine Geschichte aufschreiben: Arbeiterfamilie, zwei Brüder, sein Vater verschwand in einem Sarg, als er zehn war. Wie schlecht die Mutter nach ihrem zwölf Stunden Job gekocht hat. Verbranntes Lamm, mit Bohnen an Bohnen auf Bohnen. Kein Wunder, dass er Koch geworden ist.

Die Stimme in seinem Kopf ist derzeit so zornig. S. 48

Fazit: Da hat Sarah Gilmartin großes Kino geschaffen und aus eigener Erfahrung weiß ich, dass sie nicht übertrieben hat. Der enorme Druck, dem alle Mitarbeiterinnen ausgesetzt sind. Sich gegenseitig zu Höchstleistungen aufputschen. Die Stimmung aufgepeitscht von Perfektionismus. So elegant und stilvoll wie im Gastraum ist es hinter den Kulissen ganz und gar nicht. Da wird gebrüllt, Köche und oder Vorgesetzte werden handgreiflich und sexistisch. Ein Hexenkessel. Ich freue mich persönlich, dass Sarah Gilmartin so fachkundig über dieses Metier schreibt. Ebensogut hat mir die Erzählperspektive gefallen, die aus Sicht der drei Protagonistinnen erzählt und jeder Sichtweise bewertungsfrei Raum gibt. Das Erzähltempo während dem Service, spiegelt den Druck gut wieder. Das eigentliche Anliegen, einen feministischen Beitrag zur #metoo Debatte zu leisten, ist absolut gelungen. Von Herzen meine Leseempfehlung.

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Veröffentlicht am 19.04.2024

Großartiges Buch

Toxische Weiblichkeit
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Sophia Fritz zeigt mir ihr Unbehagen, wenn sie auf ihre eigenen Dissonanzen stößt. Wenn sie anderen Frauen auf Instagram gratuliert und sie dann heimlich beneidet. Wenn sie ihren gleichberrechtigten Partner ...

Sophia Fritz zeigt mir ihr Unbehagen, wenn sie auf ihre eigenen Dissonanzen stößt. Wenn sie anderen Frauen auf Instagram gratuliert und sie dann heimlich beneidet. Wenn sie ihren gleichberrechtigten Partner bemuttert und nett zu einer Kollegin ist, über die sie dann lästert. Was wenn wir alle dieses Unbehagen in uns tragen?

Sie pricht über manipulative Partnerinnen, flaky Freundinnen und bitchige Arbeitskolleginnen und erklärt, ohne zu bewerten:

Wir haben bestimmte Eigenschaften übernommen und kultiviert, um in der patriarchalen Gesellschaft vermeintlich bestmöglich zu überleben. S. 15

Wie sehr unterstützen wir, durch unsere Anpassungsfähigkeit, unser Harmoniebedürfnis und unsere manipulativen Fähigkeiten, ein System, das wir eigentlich verändern möchten?

Die stereotype weiblich gelesene Frau hat diverse Möglichkeiten, ihre Ziele zu erreichen. Die fleißigen Arbeitsbienchen, die sich wegen ihrem geringen Selbstwert unentbehrlich machen und um Anerkennung buhlen. Die netten, gefälligen Mädchen (lächeln, nicken, bestätigen, Interesse heucheln), deren größter Wunsch es ist, „unter die Haube“ zu kommen. Die unabhängigen Powerfrauen und Selbstausbeuterinnen, die von Selbstakzeptanz meilenweit entfernt sind und nach Bewunderung streben. Die fürsorglichen Mütter, die zu emotionaler Ausbeutung neigen und mit ihrem kontrollierenden Verhalten Dankbarkeit und Unterordnung einfordern. Sie alle sorgen für Konkurrenzdenken, Konsum, Produktivität und halten das System am Laufen.

Wir brauchen mehr Begegnungen auf Augenhöhe. Kein stundenlanges einseitiges Zuhören und Vorheucheln von Interesse. Konflikte ansprechen, statt Monate mit chronischen Bauchschmerzen zu verbringen. Wir brauchen dringend mehr Selbstwert, um konsequenter sein zu können. Ein neues gesellschaftliches Miteinander sollte auf der Essenz zwischenmenschlicher Werte beruhen: Liebe und Vertrauen.

Wir performen Niedlichkeit als Camouflage, Höflichkeit als Schild und Dankbarkeit als Brücke, aber:

Nettigkeit verbietet mir, die Scheiße beim Namen zu nennen. S. 26

Eine der traurigsten Erkenntnisse ist, dass das primäre Ziel vieler Frauen zu sein scheint, von IHM behalten zu werden.

Viele Frauen nehmen nicht den Raum für sich ein, der ihnen zusteht und den sie bräuchten. Sie machen sich klein, unsichtbar, gewöhnlich, werden taub ihren eigenen Bedürfnissen gegenüber, verschwinden in dem Bestreben, anderen zu gefallen und geben jede Selbstverantwortung ab.

Fazit: Noch in keinem Buch, habe ich eine solche Vielzahl kluger Sätze gelesen. Es fällt mir regelrecht schwer, sie nicht alle zu zitieren. Ein Buch, das soviele Aspekte aufrichtig und konsequent auf den Punkt bringt, zeigt, wie wir uns verändern können. Wie oft habe ich mich selbst widergefunden, in meiner Angst vor Konflikten, meiner zitternden Stimme, wenn ich Grenzen setze, wie ich „Freundinnen“ ghostete, nur um nicht ehrlich und möglicherweise verletzend zu sein. Das Buch ist für mich ein Manifest, für mehr Ehrlichkeit, mir selbst und anderen gegenüber. Ein absolut notwendiges Buch in der Feminismus Debatte, die Männer für alles verantwortlich macht. Ein wichtiger Beitrag zur tatsächlichen Gleichberechtigung. Ich wünsche uns, dass es viele Leser*innen findet.

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Veröffentlicht am 16.04.2024

Großartige Geschichte

Intimitäten
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Nachdem der Vater der namenlosen Ich-Erzählerin von seinen Leiden der Altersschwäche erlöst wurde, geht ihre Mutter, in die Heimat Singapur zurück. Sie selbst, fühlt sich jetzt frei genug, eine weitreichende ...

Nachdem der Vater der namenlosen Ich-Erzählerin von seinen Leiden der Altersschwäche erlöst wurde, geht ihre Mutter, in die Heimat Singapur zurück. Sie selbst, fühlt sich jetzt frei genug, eine weitreichende Entscheidung zu treffen und geht an den Gerichtshof in die Niederlande. Sie mag die Mentalität der Menschen dort, die sich um ihre eigenen Angelegenheiten kümmern. Allerdings ist die Athmosphäre gegenüber New York, ihrem vorherigen Wohnort, eher familiär.

Die einzige Freundin Jana, Kuratorin, bezeichnet sich als Haushälterin einer Nationalgalerie, ist wesentlich aufgeschlossener als sie.

Die Aufgabe der Dolmetscher*innen am Gerichtshof ist deffiziel und erfordert großes Einfühlungsvermögen.

Ein Gerichtsverfahren war eine wohlkalkulierte komplexe Darbietung, an der wir alle beteiligt waren und aus der sich niemand vollkommen heraushalten konnte. Aufgabe der Dolmetschenden war es nicht nur, etwas mitzuteilen oder darzubieten, sondern auch das unaussprechliche zu wiederholen. S. 20

Der Gerichtshof befasst sich ausschließlich mit Genoziden, Verbrechen gegen die Menschlichkeit und verhandelt Kriegsverbrecher.

Während einer Demonsrtration vor dem Gerichtshof, drückt ihr einer der Teilnehmenden ein Flugblatt in die Hand, das sie nachdenklich stimmt. Die Demonstranten sind Anhänger eines afrikanischen Präsidenten, der in den nächsten Monaten verhandelt werden soll. Sie werfen dem Gerichtshof, die Konzentration einzig auf Anklageerhebung gegen afrikanische Machthaber vor. Es sei ein abgekartertes Spiel der Imperialisten Amerika und Frankreich.

Fazit: Die Geschichte ist so glaubhaft, als handele es sich wirklich um den internationalen Gerichtshof. Der Schreibstil ist großartig, jedes Wort sitzt. Die Autorin hat sich in jeden ihrer Charaktere zutiefst eingefühlt. Sie baut langsam auf der Entwurzelung der Protagonistin auf. Ihre Einsamkeit färbt die Stimmung melancholisch. Ihre Moralvorstellungen konterkarieren ihre Arbeit als Übersetzerin. An den charismatischen Machthabern sieht sie ihre eigene Machtlosigkeit. Sie fühlt sich immer mehr als Werkzeug, verliert zunehmend ihre Konturen. Die Hoffnungen, durch den Mann, dem sie ihr Vertrauen schenkte, heimisch zu werden, schwinden. Ein wirklich gut durchdachtes Psychodrama, das ich sehr gerne gelesen habe. Ein Wunder, dass es noch nicht verfilmt wurde.

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