Kluge Aufarbeitung unserer Geschichte
Dünnes EisMarietta wird morgen Einhundert Jahre alt, jetzt ist es 24 Uhr, sie liegt unruhig im Bett. Nicht wegen ihres Geburtstags, sondern wegen der Schatten, die die Dunkelheit wirft. Sie setzt sich an ihren Schreibtisch ...
Marietta wird morgen Einhundert Jahre alt, jetzt ist es 24 Uhr, sie liegt unruhig im Bett. Nicht wegen ihres Geburtstags, sondern wegen der Schatten, die die Dunkelheit wirft. Sie setzt sich an ihren Schreibtisch und kramt ein paar Fotos aus der Schublade hervor, so, wie sie es immer macht, wenn sie nicht schlafen kann. Sie dreht ein Bild um und schaut auf ihren Heinrich, “den der russische Winter verschluckt hat”. Zwei Jahre hatten sie miteinander gehabt und daraus war ihr Johann entstanden. Ihr Johann …ganz dünnes Eis.
An Gisela denkt sie, als sie das Foto mit Emil umdreht, Giselas Wellensittich. Sie hatte neben ihr gewohnt in der Residenz, wo sie nun schon seit zwanzig Jahren wohnt. Damals, als Elias sie verließ, ihr zweiter Mann, Psychoanalytiker.
Als sie sich fühlte wie ein verlassenes Haus, durch dessen zerbrochene Fenster und leere Räume der Wind fegt. S. 48
Ihr Elias, der so bestrebt war herauszufinden, warum sie beim Sex mit ihm, immer, die Augen schloss, aber sie konnte es ihm nie sagen. Nach Elias hatte sie 250 Quadratmeter gegen diese 45 getauscht, in denen sie nun lebt. Zuerst war sie als freiwillige grüne Dame von Zimmer zu Zimmer gegangen und hatte das Gespräch angeboten, das lag ihr einfach.
Wenn sie jetzt aus dem Fenster schaut sieht sie die Container mit den Flüchtlingen, die von weit übers Meer hirher, zu uns gekommen sind. Neulich erzählte ihr jemand, dass ein fünfzehnjähriges syrisches Mädchen und ihr kleiner Bruder von Männern durch den Park gejagt wurden. Da packte es sie wieder, der Druck in den Schläfen, Augen flackern, Knie wie Pudding. Atmen, ruhig, atmen.
Fazit: So eine wichtige Geschichte, so gut egemacht. Die Autorin hat klug erzählend, unsere Geschichte aufgearbeitet und mit großer Sensibilität, die Auswirkungen des Krieges, anhand von Marietta gezeigt. Wir vergessen nicht, dass wir einen völlig sinnlosen Krieg angezettelt und Völkermord begangen haben. Aber wir haben vergessen, was wir unseren Großeltern und damit den folgenden Generationen angetan haben. Unsere Frauen, die wie Vieh behandelt, gedemütigt und vergewaltigt wurden, ihre Männer und Kinder ganz verloren, oder versehrt und verändert zurück bekommen haben. All dieser unnötige Schmerz, das macht was mit einem. Ich hoffe, das passiert tatsächlich: Nie wieder!