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Veröffentlicht am 16.09.2020

Opulenter historischer Roman – die Geschichte des ehemaligen Sklavenmädchens Freya

Das Erbe der Päpstin
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Die vierzehnjährige Freya lebt als Sklavin zusammen mit Mutter und Schwester bei den Wikingern, als das Unglück über sie hereinbricht: In Notwehr und weil er ihre Mutter getötet hat, ersticht sie den Stammesfürsten ...

Die vierzehnjährige Freya lebt als Sklavin zusammen mit Mutter und Schwester bei den Wikingern, als das Unglück über sie hereinbricht: In Notwehr und weil er ihre Mutter getötet hat, ersticht sie den Stammesfürsten Björn. Da dies das sichere Todesurteil bedeutet, flieht sie zusammen mit ihrer Schwester Asta, als Junge verkleidet. Sie beschließt, ihren Großvater Gerold zu finden, von dem sie hofft, dass er in der Heimatstadt ihrer Mutter, dem friesischen Dorstadt, noch immer lebt. Auf verschlungenen Wegen, immer in Angst vor Verfolgern, gelangen sie tatsächlich nach Dorstadt, wo sie bei der gutmütigen Jutta unterkommen. Diese verrät Freya, als sie nach einem Überfall der Dänen im Sterben liegt, dass Gerold seinerzeit nach Rom aufgebrochen ist. Und so macht sich Freya mit ihrem Freund Kasimir auf nach Rom. Sie findet Gerold tatsächlich – er ist der Chef der päpstlichen Garde und der engste Vertraute des Papstes, der in Wirklichkeit eine Frau ist…

Ein schlichtweg großartiger, überwältigender Roman über eine junge Frau, die auf ihrem gefahrvollen Weg durch das frühmittelalterliche Europa guten wie schlechten Menschen begegnet, tiefe Freundschaft und alles verzehrenden Hass erfährt, die tötet und heilt, die klug und mutig allen Gefahren und ihrem Schicksal trotzt und dabei die Liebe findet. Dabei trifft Freya auch die Päpstin Johanna, wie sie selbst als Mann verkleidet, um dadurch Wissen zu erwerben und Wege zu gehen, die ihr als Frau verwehrt bleiben. Johanna inspiriert und fördert ihre Leidenschaft für Bücher und vor allem für medizinisches Wissen, das Freya klug und effizient zu nutzen weiß. Trotz aller Gemeinsamkeiten und Parallelen zu Johannas Lebensweg ist Freya doch eine sehr eigenständige Protagonistin, und die Autorin versteht es meisterhaft, aus ihr einen starken, vielfältigen Charakter zu formen, der alles für die Ihren tut, oft mit sich hadert und auch das eine oder andere Mal die falsche Entscheidung trifft. Darüber hinaus zeichnet sie mit bildhafter Sprache ein farbenprächtiges, sehr anschauliches und authentisch anmutendes Bild des frühen Mittelalters – einer Welt, in der Frauen per se dem Manne untertan sein und ihm gehorchen sollen – bestens verkörpert von Freya Schwester Asta. Freya als weibliche Sklavin steht da zunächst am untersten Ende der Skala. Wie sie sich herauskämpft, wie sie widrigen Umständen immer wieder entflieht und Ungerechtigkeiten einfach nicht hinnimmt, ist einfach wahnsinnig spannend und fesselnd.

Formal eingerahmt in einen Prolog und einen Epilog, die jeweils einen größeren Zeitsprung überbrücken, spielt sich die Geschichte ansonsten hauptsächlich während den Jahren 854 bis 867 ab. Aus verschiedenen Perspektiven, wobei Freya jedoch den größten Anteil hat, erzählt die Autorin von den Geschehnissen und beleuchtet nebenbei das politische Geschehen und die Machtverhältnisse jener Zeit. Für eine junge Frau kommt Freya bemerkenswert weit herum und trifft interessante Zeitgenossen. Sie gerät auch häufig in Lebensgefahr, und oft ist es Zufall und ihr Instinkt, der ihr und anderen das Leben retten. Dabei legt die Autorin nicht nur viel Wert auf realistische Beschreibungen der Lebensumstände der Menschen, was zum Beispiel medizinische Behandlungen, Geburten oder auch der Alltag in Dörfern und Städten und die Wikingerüberfälle angeht, sondern auch auf die Gestaltung der anderen Figuren, deren Persönlichkeiten hervorragend herausgearbeitet sind. Ich habe besonders mit Kasimir und auch einigen anderen mitgelebt und musste mich leidvoll von einigen verabschieden. Am meisten jedoch fiebert man mit den Hauptfiguren Freya und später dann auch Aristid mit, und der Fokus der Geschichte liegt dabei ganz klar auf ihr. In diesem Buch passiert einfach immer irgendetwas, lange Zeit der Besinnung ist Freya nicht beschieden, und mehrere überraschende Wendungen führen zu sehr unvorhergesehenen Ereignissen. Wie gut, dass alles doch ein versöhnliches Ende nimmt!

Fazit: ein hervorragend recherchierter, von der Päpstin Johanna inspirierter und inspirierender Roman über eine junge Frau in einer von Gewalt, aber auch von Wissensurst und Aufbruchstimmung geprägten Welt. Das Buch kommt im Übrigen sehr gut gebunden und mit einem sehr schönen Umschlag daher, kleiner Wermutstropfen waren einige Schwächen beim Lektorat – ohne diese wäre es perfekt gewesen. Das tut aber natürlich dem Lesevergnügen keinerlei Abbruch, die Geschichte um Freya ist ein echter Pageturner und für alle Fans des opulenten historischen Romans schlichtweg ein Muss!

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Veröffentlicht am 31.08.2020

Komplexer Kriminalfall mit preußisch-bayrischem Ermittler

Der falsche Preuße
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München, Königreich Bayern, 1894: Seit einem Jahr ist Hauptmann Freiherr Wilhelm von Gryszinski, seines Zeichens Sonderermittler und Brigade-Kommandant des Königlich Bayrischen Gendameriekorps, nun schon ...

München, Königreich Bayern, 1894: Seit einem Jahr ist Hauptmann Freiherr Wilhelm von Gryszinski, seines Zeichens Sonderermittler und Brigade-Kommandant des Königlich Bayrischen Gendameriekorps, nun schon in München und muss sich dort vor allem mit den verschiedenen Möglichkeiten von Körperverletzungen mit dem Maßkrug herumschlagen. Seinen Tatortkoffer hat er bislang noch nicht zum Einsatz gebracht. Das ändert sich, als eine unbekannte Leiche in den Maximiliansanlagen an der Isar gefunden wird, mit zerschossenem Kopf und einem merkwürdigen Federumhang bekleidet. Zusammen mit seinem engagierten Team beginnt Gryszinski zu ermitteln und stößt bald auf den gebürtigen Preußen Lemke. Dieser ist wiederum auch für das Königreich Preußen von Interesse, und so findet sich Gryszinski unverhofft in der Doppelrolle als bayrischer Ermittler und preußischer Spion wieder…

Eine wunderbare, in herrlich schnörkeliger, antiquierter Sprache verfasste Geschichte und ein komplexer Fall! Obwohl der Schreibstil durchaus gehoben ist und sich aufgrund der teilweisen ungewöhnlichen Ausdrücke und Formulierungen nicht locker-flockig herunterlesen lässt, gewöhnt man sich schnell daran und taucht umso tiefer ein in einen ungewöhnlichen Fall mit faszinierenden Figuren und einem Ermittler, den es meines Erachtens so noch nicht gegeben hat. Die ganze Geschichte steckt voller merkwürdiger Dinge, Erfindungen und wundersamer Überraschungen, teilweise skurriler Charaktere und bemerkenswerter Innovationen. Der historische Hintergrund sowie die vielschichtig gezeichneten Figuren machen die Geschichte zu etwas sehr Besonderem, und die Autorin versteht es meisterhaft, diese Zeit aufleben zu lassen und Situationen, Menschen und Hintergründe authentisch und liebenswert darzustellen.
Mit dem Preußen in Bayern, Wilhelm von Gryszinski, prallen zwei Welten aufeinander, die sich in unterschiedlichen Szenen und Dialogen und nicht zuletzt in seiner Person manifestieren. Auf der einen Seite das Preußentum, geprägt von Zurückhaltung, Askese, Pünktlichkeit, Fleiß, militärischem Gehorsam und absoluter Loyalität, auf der anderen Seite die bayrische Gemütlichkeit, die Spezlwirtschaft, die Brauhausmentalität, das gute Essen. Niemand vereint all diese Eigenschaften besser als Hauptmann und Kommandant Gryszinski beziehungsweise weiß, wie sich das Beste aus beiden Welten herauszuholen lässt. Und dennoch gerät er mehrfach in Gewissenskonflikte, ist er doch sowohl in der Preußischen Tradition noch sehr verhaftet als auch der bayrischen Lebensart sehr zugeneigt. Er steht mehrfach vor der Entscheidung sich für eine Seite zu entscheiden, was ihm sichtlich schwerfällt. Zudem treibt ihn sein erster richtiger Mordfall mächtig um, anfangs wirkt er mitunter leicht überfordert, dann jedoch siegt sein (preußischer?) Stolz und Gerechtigkeitssinn, und trotz der bayrisch-preußischen Zwickmühle, in der er steckt, will er den Mord unbedingt aufklären. Sein Konflikt wird verstärkt durch den Hauptverdächtigen Eduard Lemke, ebenfalls von Geburt her Preuße, aber von sehr zweifelhafter Herkunft und zwielichtigem Charakter, und dem Auftrag des preußischen Gesandten, Lemke des Landesverrats zu überführen, was seiner Ansicht nach über dem eigentlichen Mordfall steht. Je tiefer Gryszinski in Lemkes skurrile Welt eindringt, umso mehr verschärft sich seine Zwickmühle. Bei der Aufklärung stehen ihm zum Glück seine eifrigen Mitarbeiter, der herrliche Urbayer Voglmaier mit seinen Spezln und Eberle mit seiner schwäbischen Verbissenheit zu Seite. Auch Amtsarzt Dr. Meyerlein trägt mit seinen Erfindungen und geradezu modernen Methoden sehr zu den Ermittlungen bei. Gryszinski scheut sich auch nicht, seine Haushälterin sowie seine beiden preußischen Freunde einzubinden und wird im Laufe des Falles mutiger und pfiffiger, verzichtet sogar zugunsten wichtiger Befragungen auf sein geliebtes deftiges Essen, reist in die eher ungeliebte Heimatstadt Berlin und erwehrt sich mehrerer Anschläge auf sein eigenes Leben. Man fiebert so sehr mit ihm mit, dass man eigene Überlegungen zum Fall fast vergisst.

Fazit: Herrlicher, gut konstruierter Kriminalfall aus dem alten München des 19. Jahrhunderts, mit liebenswerten Charakteren und einem Ermittler, der seines Gleichen sucht. Wer ist denn nun der „falsche Preuße“? Lemke, Gryszinski oder jemand ganz anderes? Dies ließ sich für mich nicht final klären, weist aber auf die beiden Welten hin, in denen sich die Hauptfiguren in dieser Geschichte bewegen. Die bildhaften Beschreibungen von historischem Umfeld und der Ermittlungsmethoden machen deutlich, in welch einer aufgeklärten Zeit der Innovationen Gryszinski ermittelt, wobei er zwischen Tradition und Moderne hin und her pendelt und doch nie seine Menschlichkeit und Empathie verliert. Ich wünsche mir, bald mehr von ihm zu lesen und kann es kaum erwarten, die lieb gewonnen Figuren wieder zu treffen!

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Veröffentlicht am 24.08.2020

Hochemotionaler dritter Fall für Helle Jespers

Helle und der falsche Prophet
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Kriminalkommissarin Helle Jespers kann selbst im Urlaub im milden Südfrankreich nicht richtig abschalten. Als sie der Anruf ihres Kollegen erreicht, der eine Tote meldet, ist sie beinahe froh, dass etwas ...

Kriminalkommissarin Helle Jespers kann selbst im Urlaub im milden Südfrankreich nicht richtig abschalten. Als sie der Anruf ihres Kollegen erreicht, der eine Tote meldet, ist sie beinahe froh, dass etwas passiert, doch dann ist sie mehr als geschockt, denn die Tote ist Merle, eine alte Schulfreundin ihres Sohnes Leif. Angeblich hat sie Selbstmord begangen. Daran glaubt Helle keine Sekunde und startet deshalb zu ihren berüchtigten Alleingängen. Wo ist Merles Handy, und was hat sie mit einem jungen Pärchen in einem nicht gemeldeten, roten Pickup zu tun? Helles Vorgesetzte pfeifen sie zurück, doch dann wird in Kopenhagen in einer Jugendherberge ein junger Mann tot aufgefunden, und wieder ist das Pärchen involviert…

Dritter Fall für die eigenwillige Kommissarin Helle Jespers aus dem abgelegenen norddänischen Städtchen Skagen. Auch wenn man die Vorgänger-Bände der Kommissarin nicht kennt, kommt man sehr gut in die Geschichte hinein, was vor allem am sehr eingängigen und unprätentiösen Schreibstil der Autorin und ihrer hervorragenden Beschreibung der Charaktere liegt. Die Geschichte lebt meines Erachtens vor allem von der extrem menschlichen und sympathischen Hauptfigur und den generell sehr tiefgründig gezeichneten anderen Figuren. Es gibt eine zwar eine recht klare gut-böse-Aufteilung, dennoch sind die Persönlichkeiten der Figuren vielschichtig und die Autorin versteht es sehr gut, Emotionen zu beschreiben und den Leser diese miterleben zu lassen. Der Fall selbst ist nicht besonders komplex, Helle kommt oft durch Geistesblitze auf die Hintergründe und geht dann diesen nach. Sie hat einfach ein herausragendes Gespür für Menschen und handelt oft intuitiv. Es geht weniger darum, der schrittweisen Aufdeckung, sprich den Ermittlungen der Polizei, zu folgen, oder um ein Psychoduell als vielmehr darum, eine emotionale Verbundenheit mit den Protagonisten herzustellen. Der Leser gewinnt durch die verschiedenen Perspektiven der Leser tiefe Einblicke ins Geschehen und in die Gefühlswelt der Protagonisten und weiß immer mehr als die Kommissarin. Dennoch wird eine gewisse Spannungskurve gehalten, man fiebert vor allem mit den Figuren mit, die persönlich betroffen sind.

Formal ist die Geschichte in drei Teile eingeteilt, die die Geschichte ziemlich genau in drei gleiche Teile gliedert, deren Übergänge wichtige, für den Fortgang der Handlung einschneidende Ereignisse markieren. Die drei Hauptperspektiven Helle/Polizei, das Pärchen beziehungsweise Nick und Jemi sowie der Polizist Willem sind jede für sich spannend und der Leser weiß dadurch immer mehr als die Kommissarin, was ebenfalls einen Teil der Spannung ausmacht. Sehr gut sind die Zerrissenheit und die Zweifel der Personen dargestellt, die Grundstimmung ist zwar nicht düster, aber dennoch spürt man oftmals die Verzweiflung und den Kampf, den die Protagonisten ausfechten. Mir hat hier besonders Polizist Willem gefallen, der das Bindeglied zwischen beiden Welten darstellt und sich als äußerst mutig erweist. Bei ihm war man sich manchmal nicht sicher, wie er sich entscheiden wird, und es war spannend zu beobachten wie er sich behauptet. Mitunter hätte ich mir bei einigen anderen Figuren wie beispielswiese Jemi oder Hiob noch tiefere Einblicke gewünscht. Einiges an Motivationen und Hintergründen bleibt offen, und so bietet der Schluss zwar eine gute Auflösung, die Entwicklung der Figuren hätte aber meines Erachtens umfassender sein können.

Fazit: Gelungener dritter Band um die supersympathische Kommissarin mit den oftmals eigenwilligen Methoden. Für Fans natürlich ein Muss, doch auch Einsteiger können die Geschichte gut lesen. Wer einen komplexen Kriminalfall mit ausgeklügelten Ermittlungsmethoden erwartet, wird eher enttäuscht sein. Wer jedoch emotionale Verstrickungen und lebendige Charaktere mag, wird diesen Band verschlingen.

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Veröffentlicht am 12.08.2020

Herausragender Triller mit Suchtgarantie

Geburtstagskind (Ewert Grens ermittelt 1)
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Kriminalkommissar Ewert Grens von der Stockholmer Mordkommission steht ein halbes Jahr vor der Rente, vor der ihm graut. Der Polizeidienst ist alles, was er hat, und er schleppt sowieso schon einiges an ...

Kriminalkommissar Ewert Grens von der Stockholmer Mordkommission steht ein halbes Jahr vor der Rente, vor der ihm graut. Der Polizeidienst ist alles, was er hat, und er schleppt sowieso schon einiges an Altlasten mit sich herum. Vor allem ein alter Fall macht ihm zu schaffen, bei der die Familie eines fünfjährigen Mädchens ausgelöscht wurde und das kleine Mädchen als einzig Überlebende eine neue Identität bekam. Als ihn seine Mitarbeiterin Hermansson von einem Einbruch berichtet, der an der ihm nur allzu bekannten Adresse stattgefunden hat, beginnt er zu wühlen und stellt fest, dass höchst vertrauliche Akten aus dem Zeugenschutzprogramm fehlen. Als dann noch der ehemals verdeckte Ermittler Piet Hoffmann in seiner Küche auftaucht und ihm von der Bedrohung seiner eigenen Familie berichtet, erkennt Grens, dass alles viel komplexer ist als angenommen und dass die beiden einander vertrauen und zusammenarbeiten müssen, um Licht ins Dunkel zu bringen.

Superspannender, packender Thriller, der von der ersten Zeile an fesselt und süchtig macht! Schonungslos kehrt der Autor das Innerste nach außen und verlangt seinen Protagonisten alles ab. Dabei bedient er sich einer rigorosen, manchmal sehr nüchternen Sprache, die dennoch viele mehr oder weniger versteckte Emotionen frei- und vor allem Abgründe offenlegt. Formal aufgeteilt in neun Teile, die hier wie Kapitel anmuten, wechselt er gekonnt die Perspektiven zwischen Grens und Hoffmann und Einschüben eines Ich-Erzählers sowie die verschiedenen Örtlichkeiten, bis sich die Fäden und losen Enden ineinander verweben wie ein sehr kompliziertes Strickmuster. Die Spannung wird zwar schon zu Beginn konstant aufgebaut, erfährt aber einen ungeheuren Kick mit dem Beginn des Countdowns von 72 Stunden - die Zeit, die ein Verdächtiger ohne Beweise festgehalten werden darf.
Der zunächst behäbig und verbittert wirkende, korpulente und alternde Grens ist eher ein Antiheld, dem man nicht unbedingt Großtaten zutraut. Er ist jedoch ein Mann voller Gegensätze und überraschenden Tiefgangs: Er lebt sehr in der Vergangenheit und ihm graut vor der Zukunft, er hat keine Familie und kaum Freunde, ist aber einigen wenigen Kindern und Menschen, die er im Rahmen seiner Laufbahn getroffen hat, sehr zugetan. Er wirkt brummig und einsiedlerhaft, riskiert aber für fremde Kinder sein Leben. Im Laufe der Ereignisse macht er außerdem eine Entwicklung durch, wird zum Wohltäter und durchbricht dadurch seine Einsamkeit. Wenn auch der alte Fall erneut traumatisierend ist, so wird er doch zu Ende gebracht.
Ebenso ist Piet Hoffmann ein Mann voller Überraschungen und einer, der schon mehr zum Helden taugt. Obgleich er manchmal undurchsichtig ist, mit illegalen Methoden arbeitet und ohne zu zögern Menschen tötet, steht sein Gerechtigkeitssinn und die Liebe zu seiner Familie immer im Vordergrund seines Handelns. Da sich auf diese beiden die Handlung konzentriert, sind ihre Persönlichkeiten am intensivsten, doch auch die anderen Figuren sind vielschichtig und führen oftmals zu sehr überraschenden Wendungen in der Geschichte.

Fans des Autors kennen die Hauptfiguren Grens und Hoffmann natürlich aus seiner Trilogie, die er zusammen mit dem Kollegen Börge Hellström verfasst hat. Und in der Tat hat der vorliegende Band einige Andeutungen und Verweise auf die Vergangenheit der beiden. Man hat als Leser, der die Trilogie nicht kennt (so wie ich), immer das Gefühl, dass die Verbindung der beiden tiefer geht und dass die Vergangenheit stark in die Geschichte mit hineinspielt. Das tut aber dem Lesevergnügen bei weitem keinen Abbruch, man kann diesen Band getrost ohne jegliche Vorkenntnisse lesen. Dass Anders Roslund schreiben kann, hat er sowieso hinlänglich bewiesen, stammen doch aus seiner Feder außerdem noch weitere Thriller, die er in Zusammenarbeit mit Stefan Thunberg verfasst hat.

Fazit: Ich bin sowieso ein schwerer Fan der skandinavischen Krimi- und Thrillerliteratur und der Autor muss sich auch als alleiniger Urheber nicht vor seinen Kollegen verstecken. Für mich ist der Thriller eine sehr gelungene Einzelleistung, die Lust auf Mehr macht, eine hochkomplexe, verworrene Geschichte, von der man natürlich weiß, dass alles irgendwie zusammenhängt, aber das Wie lange nicht durchschaut bis hin zu dem schockierenden, aber durchaus konsequenten Finale. Zwar nichts für Zartbesaitete, für Fans des Genres jedoch ein Muss, eine hochspannende Geschichte mit tiefgründigen Charakteren.

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Veröffentlicht am 08.07.2020

Liebesgeschichte in schwedischer Natur

Nur noch ein bisschen Glück
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Bei der Stockholmerin Stella läuft es gerade so gar nicht rund: Ihr Freund hat sie betrogen, sie verlässt ihn und verliert dadurch sowohl Wohnung als auch Job. Ihr einziges Ziel ist nun, ihr Erbe, ein ...

Bei der Stockholmerin Stella läuft es gerade so gar nicht rund: Ihr Freund hat sie betrogen, sie verlässt ihn und verliert dadurch sowohl Wohnung als auch Job. Ihr einziges Ziel ist nun, ihr Erbe, ein Grundstück auf dem platten Land in Südschweden, zu verkaufen, um mit dem Geld ihren großen Traum zu verwirklichen: ein Modestudium in New York. Das Grundstück erweist sich als Alptraum, ein völlig verwilderter Acker mit einer Bruchbude ohne Strom und fließend Wasser. Eigentlich will Stella so schnell wie möglich verschwinden, wäre da nicht der nette Nachbar Thor, Biobauer auf dem Nachbarhof, der sich mehr und mehr um sie bemüht und eine magische Anziehungskraft auf sie ausübt…

Dies ist eine gefällige und gut zu lesende Liebesgeschichte mit super sympathischen Figuren und einem Hang zu deftigen Liebesszenen. Stella und ihre Geschichte gehen einem sofort zu Herzen, man lebt mit ihr mit und wünscht ihr alles Glück der Welt. Aber auch Thor ist ein super Sympathieträger, auch wenn er phasenweise doch sehr das kerniger-Naturbursche-Klischee verkörpert. Da aus ihrer beider Sicht erzählt wird, erhält der Leser in beider Gefühlswelt intime Einblicke. Das ist aus dem Grund interessant, weil beide sich selbst und einander immer wieder versichern, dass ihr Zusammensein nichts Festes sein kann. Beide reflektieren viel über ihr Leben, über vergangene Beziehungen und über sich, beide haben einiges an Vergangenheitsbewältigung zu betreiben und kommen außerdem aus gänzlich verschiedenen Welten. Aber für seine Gefühle kann man ja bekanntlich nichts…

Stella ist ein recht spannender Charakter und gefiel mir wirklich gut. Als Halbinderin entspricht sie schon optisch keiner sogenannten schwedischen Norm und erfuhr dadurch Rassismus, als Stockholmerin ist sie außerdem städtisch durch und durch und sie musste schon früh auf eigenen Beinen stehen, ist also alles andere als das „kleine Weibchen“, für das sie viele halten. Sie weiß sich durchzusetzen und ist clever und ehrgeizig, aber auch emotional, sehr loyal und treu zu ihren Freunden und hilfsbereit und empathisch - eine Menschenfreundin, die das Beste bei Menschen hervorheben will. Besonders diese Gegensätze und ihr Kulturschock im ländlichen Südschweden wurden sehr humorvoll und bildhaft erzählt. Auch die anderen Charaktere – hier besonders Thor und seine Familie - sind durchaus schön herausgearbeitet, und die Autorin versteht es, sie und die schwedische Landschaft vor dem geistigen Auge auferstehen zu lassen. Der locker-flockige Schreibstil tut sein Übriges, um das Buch in einem Rutsch herunterlesen zu können. Mir persönlich war er allerdings manchmal zu locker und wenig romantisch und glitt besonders bei den doch sehr häufigen Liebesszenen ins Vulgäre ab. Diese traten in einer für meine Begriffe sehr konstruierten Häufigkeit auf, wohingegen manch andere Ereignisse und Wendungen abrupt geschahen und nicht nachvollziehbar waren. Ich hätte mir mitunter weniger zahl- und detailreiche Beschreibungen von Liebespraktiken und Orgasmen gewünscht und stattdessen mehr Hintergründe z.B. über Familienthemen und -geheimnisse oder über die Dorfbevölkerung erfahren.

Fazit: Durchaus gelungener Liebesroman mit sympathischen Charakteren und viel schwedischem Lokalkolorit. Die detailreichen Liebesszenen muss man in der Häufigkeit mögen und dafür Abstriche in der Logik der Handlung machen, dann erhält man ein vergnügliches Buch mit einem dann doch sehr romantischen Schluss und mit einer reizenden Hauptfigur, die authentisch ist und sich selbst treu bleibt.

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