Profilbild von MarionHH

MarionHH

Lesejury Profi
offline

MarionHH ist Mitglied der Lesejury

Melde dich in der Lesejury an, um dich mit MarionHH über deine Lieblingsbücher auszutauschen.

Anmelden

Meinungen aus der Lesejury

Veröffentlicht am 08.12.2023

Selbstliebe statt Bodyshaming: Liebe deinen Nächsten wie dich selbst

Run For Love
0

Luca Schmidt ist Mitte dreißig, selbständige Werbefachfrau und das, was man ein Vollblutweib nennt. Groß und üppig wie sie ist, entspricht sie ihrer Ansicht nach nicht dem gängigen Schönheitsideal. Dass ...

Luca Schmidt ist Mitte dreißig, selbständige Werbefachfrau und das, was man ein Vollblutweib nennt. Groß und üppig wie sie ist, entspricht sie ihrer Ansicht nach nicht dem gängigen Schönheitsideal. Dass ihre Mutter ihr ständig Diäten und Sport aufschwatzen will, macht es nicht besser. Als sie einem Typen, der ihre Freundin Charlotta belästigt, einen auf die Zwölf gibt und angezeigt wird, bekommt sie Sozialstunden aufgebrummt, die sie ausgerechnet in einem Jugendzentrum abarbeiten soll. Ihr dortiger Vorgesetzter entpuppt sich als knackiger Schönling mit kantigem Kinn und Sixpack, der auch noch größer ist als sie. Zu glatt und zu langweilig, befindet Luca, und außerdem überhaupt nicht ihr Typ. Wirklich?

Schöne Liebesgeschichte und vor allem die Geschichte einer Frau, die lernt, ihren Körper wahrhaftig zu akzeptieren und nicht nur so zu tun als ob. Tatsächlich nimmt die Liebesgeschichte gar nicht den größten Raum ein, Luca als Protagonistin mit all ihren Stärken und Schwächen und ihre Interaktion mit ihren Mitmenschen stehen ganz klar im Vordergrund. Ihre Arbeit, ihre Freundschaft mit Charlotta, ihr Hadern mit ihrer Figur und ihr Verhältnis zu ihrer Mutter stehen in etwa dem gleichen Verhältnis, und in dem Maße, wie sie lernt, sich von allen Zwängen zu lösen und sich selbst wirklich zu lieben, in dem Maße kann sie sich auch endlich auf Noël einlassen. Luca ist ein interessanter, wenn auch mitunter schwieriger Charakter, sie propagiert die Unabhängigkeit der Frau und den Feminismus, schwört auf Solidarität unter Frauen, steckt aber ebenso wie ihre vermeintlichen Feindbilder alle in ihren Augen hübschen und schlanken Frauen und ebensolchen Männer in eine Schublade. Um ihre Unsicherheit zu überspielen, stößt sie die Menschen in ihrem Umfeld mehr als einmal ziemlich rüde vor den Kopf.

Ihr Kosmos kreist sehr um sich selbst und damit und durch ihre vorgefertigten Meinungen setzt sie ihre Freundschaft zu Charlotta, ihre Zusammenarbeit mit Amelie für die Kampagne und ihre aufkeimenden Gefühle für Noël aufs Spiel. Die Herausarbeitung ihrer Persönlichkeit fand ich nicht immer hundertprozentig überzeugend und mitunter hatte ich Schwierigkeiten, ihre Handlungen und Reaktionen nachzuvollziehen, selbst im Hinblick auf ihr mangelndes Selbstwertgefühl. Warum man so gänzlich gegen den Ritter auf dem weißen Ross sein muss, erschließt sich mir auch nicht. Meines Erachtens ist es kein Widerspruch und man ist nicht gleich willenlos, wenn man sich von einem Mann helfen lässt. Was ich aber sehr gut fand, war ihre Selbstreflektion und wie sie sich im Laufe der Geschichte von den genormten Idealvorstellungen emanzipiert. Durch ihre Arbeit mit Amelie, die mir mit zunehmender Lektüre immer sympathischer wurde, und auch durch die Jugendarbeit, bei der sie sich als empathische Mädelsversteherin erweist, lernt sie, hinter die Fassaden und Kulissen zu schauen und erkennt, worauf es wirklich ankommt: sich unabhängig zu machen von der Meinung anderer und sich von vorgefertigten Normen und Idealvorstellungen zu lösen.

Fazit: Schöne Lektüre, die sich flüssig herunter lesen lässt und einige Stunden gute Unterhaltung bietet. Wer einen Enemy-to-Lovers-Liebesroman erwartet, wird enttäuscht werden, der Fokus liegt meines Erachtens eher auf Lucas Persönlichkeitsentwicklung, die durch verschiedene Ereignisse in der Geschichte angestoßen wird und die im Laufe des Buches dazu führt, dass sie sich für eine Beziehung zu Noël öffnen kann. Dies ist allerdings schön zu lesen und mit Luca mitleben tut man allemal.

  • Einzelne Kategorien
  • Cover
  • Erzählstil
  • Handlung
  • Charaktere
Veröffentlicht am 16.06.2023

Mythos und Ikone – Greta Garbo

Greta Garbo (Ikonen ihrer Zeit 9)
0

Greta Gustavsson ist Verkäuferin in der Hutabteilung des Kaufhauses PUB. Sie muss Geld verdienen, denn ihr Vater ist gestorben und die Familie kommt kaum über die Runden. Ihr großer Traum, Schauspielerin ...

Greta Gustavsson ist Verkäuferin in der Hutabteilung des Kaufhauses PUB. Sie muss Geld verdienen, denn ihr Vater ist gestorben und die Familie kommt kaum über die Runden. Ihr großer Traum, Schauspielerin zu werden, scheint weit weg. Immerhin darf sie, obwohl blutjung, in Werbefilmen mitspielen. Der Beginn einer beispiellosen Karriere!

Ein wundervoller Roman, der den Karriereweg einer der wohl bekanntesten Schauspielerinnen überhaupt beleuchtet und dabei tiefe Einblicke in ihr Seelenleben gibt. Geheimnisvoll, mysteriös, charismatisch, talentiert, all das war Greta Garbo. Sie ist eine Ikone des Alten Hollywood, eine vielseitige Schauspielerin, die oft romantische Rollen spielte, Rollen, in denen sie Männer um den Verstand brachte, die aber alles spielen konnte. Der kamerascheue Filmstar zu sein war für sie kein Widerspruch, sie war bekannt dafür, dass sie die Medien ablehnte und nichts über ihr Privatleben preisgab.

All das greift die Autorin sehr schön auf. In sehr gefälligem Stil beschreibt sie Garbos Werdegang und ihre Filmografie, ihr Verhältnis zu Familie und Freunden, zu Regisseuren, Mentoren und ihrem Arbeitgeber MGM und zu Männern und Frauen. Dabei bleibt sie gefühlvoll und empathisch mit ihrer Heldin, driftet nicht ins Kitschige ab und hält sich meines Erachtens gut an biografische Tatsachen. Sehr schön fand ich die Herausarbeitung der starken Persönlichkeit Garbos, die einerseits voller Zweifel ob ihrer mangelnden Bildung und ihres Talents ist, sich aber andererseits in schwierigen Momenten stets durchzusetzen weiß und nie aufgibt. Ihre Chancen nutzen, zur richtigen Zeit am richtigen Ort zu sein, auch das war wohl ein großes Talent der Schauspielerin.

Formal unterteilt sich der biografische Roman in vier Teile, die jeweils mit Jahreszeiten überschrieben sind, und setzt am Beginn ihrer Karriere ein. Diese ersten Jahre werden sehr ausführlich beleuchtet, während später, als sie ein Star ist, die Jahre gerafft und die Zeitsprünge größer werden. In dieser ersten Zeit ist alles sehr emotional, Greta macht sich viel Gedanken, vermisst ihre Familie, zweifelt an ihrem Talent. Als sie ein Star ist, tritt mehr der technische Aspekt in den Vordergrund, welche Filme dreht sie mit welchem Regisseur, wie läuft das ab, mit wem kommt sie gut aus, mit wem nicht. Zwischendurch kommt es ein bisschen wie eine Filmografie daher, es wird so aber deutlich, wie viel Greta Garbo gearbeitet hat und welches Vermächtnis sie hinterlässt. Der emotionale Aspekt ist zwar hier auch vorhanden, tritt aber ein wenig in den Hintergrund. Insgesamt ist uns die junge Greta näher als der Star Garbo, die sich als weltbekannte Berühmtheit immer mehr in ihrer selbst gewählten Einsamkeit verschanzt. Die Autorin schafft es aber sehr gut, uns den Menschen Greta nahe zu bringen. Ich habe jedenfalls großen Anteil an ihrem Leben und ihrem Wirken genommen.

Fazit: Man muss kein Garbo-Fan sein, um dieses Buch zu lesen und zu mögen. Eine gewisse Affinität zu Ikonen und starken Frauen schadet aber nicht. Dank des wundervollen Stils lässt sich die Geschichte sehr gut lesen und gewährt tiefe Einblicke in das Filmgeschäft und in die Persönlichkeit einer außergewöhnlichen Frau.

  • Einzelne Kategorien
  • Cover
  • Erzählstil
  • Handlung
  • Charaktere
Veröffentlicht am 01.03.2023

Reise in die Vergangenheit – ein Journalist kehrt zurück zu seinen Wurzeln

Tod in Siebenbürgen
0

Journalist Paul Schwartzmüller aus Köln erhält ein famoses Jobangebot: Chef vom Dienst bei der Zeitung, für die er bislang freischaffend gearbeitet hat. Da holt ihn seine Vergangenheit ein: Seine Tante ...

Journalist Paul Schwartzmüller aus Köln erhält ein famoses Jobangebot: Chef vom Dienst bei der Zeitung, für die er bislang freischaffend gearbeitet hat. Da holt ihn seine Vergangenheit ein: Seine Tante aus Rumänien hat ihm ihr Haus vermacht, in dem er glückliche Kindheitssommer verbracht hat. Für Paul ein Schock, für ihn war sie schon lange verstorben, seit er mit zehn Jahren mit seinem Vater aus Rumänien wegging. Seine Vergangenheit als Siebenbürger Sachse hat er verdrängt. Mit dem festen Vorsatz, das Haus schnell zu verkaufen und dann den neuen Job anzutreten, reist Paul in die alte Heimat. Schnell hat er wieder Kontakt zu seinem alten Freund Sorin. Da geschieht ein Unglück: Bei einer von Sorins Führungen durch das Dracula-Schloss stirbt ein Mann, der als Widersacher Sorins galt und im Dorf allgemein unbeliebt war. Als Sorin verhaftet wird, bittet er Paul ihm zu helfen. Paul fängt an das zu tun, was er am besten kann: recherchieren. Dabei taucht er ein in die Geschichte des Dorfes und der Menschen und muss sich eingestehen, dass er tief mit ihnen verbunden ist.

Kein klassischer Krimi, eher eine Reise in die Vergangenheit und in die Geschichte der Region Siebenbürgen, uns besser bekannt als Transsylvanien. Die sehr schön geschriebene Geschichte beschreibt liebevoll die Umgebung und ihre Menschen und vermittelt dem Leser, dass dieser vielseitige, traditionell geprägte Landstrich so viel mehr ist als der Wohnort des weltbekannten Grafen mit den langen Eckzähnen. Tief verwurzelt sind die Menschen mit ihrer Heimat, und auch Paul lässt sich schnell vereinnahmen vom Flair und vom guten Essen. Seine Streifzüge durch die Region, sein Aufeinandertreffen mit den Menschen und die Aufarbeitung seiner Vergangenheit nehmen denn auch den größeren Raum ein. Mit vielen rumänischen Spracheinschüben, traditionellen Speisen und Getränken und Beschreibungen vom Leben und Feiern kommt sehr viel Lokalkolorit herüber, als Leser taucht man direkt mit ein und fährt mit Paul in seinem klapprigen Mietwagen durch die Pampa. Dabei tritt mitunter die Aufklärung des Todesfalls und die Ermittlungsarbeit doch sehr in den Hintergrund.

Sehr überzeugend gelingen der Autorin die Beschreibungen von Land und Leuten, ihr Leben zwischen Tradition und Moderne, zwischen Aberglaube und Christentum, und man merkt deutlich, wie sehr sie ihr am Herzen liegen. Ihre Charaktere sind gut ausgearbeitete Persönlichkeiten, die authentisch wirken und tiefschichtig sind. Paul ist sympathisch, wenn auch etwas träge, und man lebt mit ihm mit. Ebenso interessant sind Maja und noch mehr das Sinti-Mädchen Pusomori, ohne die Paul rein gar nichts herausgefunden hätte. Pusomori ist es auch, die die Geschichte ordentlich vorantreibt und durch deren eingeschobene Perspektive wir als Leser mitunter mehr erfahren als durch die Hauptgeschichte.

Einiges kommt mir aber leider zu kurz. Ich hätte mir gewünscht, dass es weniger um gutes Essen und viel Schnaps trinken geht und mehr um die Ermittlung und Aufklärung des Falls, der Motive und Persönlichkeit des Toten und seiner Machenschaften. Nicht zuletzt hätte man auch die Hintergründe des politischen Systems und was es mit den Menschen gemacht hat detaillierter beleuchten können. Einiges blieb doch recht oberflächlich. Schön fand ich Pauls Läuterung und Rückbesinnung auf seine alte Heimat und ihrer Werte und sein Auseinandersetzen mit seiner eigenen Geschichte.

Fazit: Wer einen spannenden Krimi erwartet mit knallharter Recherche, Gefahr für Leib und Leben oder spannungssteigernde Cliffhanger, wird eher enttäuscht sein. Die Geschichte lebt vom Lokalkolorit und seinen wunderbaren Figuren. Dennoch lässt sie einen gut eintauchen in eine Welt fernab der Touristenattraktionen und bringt uns eine faszinierende Region und ihre Kultur näher.

  • Einzelne Kategorien
  • Cover
  • Erzählstil
  • Handlung
  • Charaktere
Veröffentlicht am 26.10.2022

Eisige Schönheit – Erster Fall für Hanna Ahlander und Daniel Lindskog

Kalt und still
0

Die Stockholmer Ermittlerin Hanna Ahlander ist am Boden zerstört: Ihr Chef macht ihr klar, dass sie im Revier unerwünscht ist, weil sie einen gewalttätigen Kollegen überführen wollte, und als sie nach ...

Die Stockholmer Ermittlerin Hanna Ahlander ist am Boden zerstört: Ihr Chef macht ihr klar, dass sie im Revier unerwünscht ist, weil sie einen gewalttätigen Kollegen überführen wollte, und als sie nach Hause kommt, verkündet ihr ihr Freund, dass er sie wegen einer anderen verlässt. Tief verletzt zieht sie sich in das Ferienhaus ihrer Schwester Lydia im idyllischen und tief verschneiten Örtchen Åre zurück, dem Ort ihrer Kindheit. Dort wird gerade ein Mädchen vermisst, und um sich abzulenken, beteiligt sich Hanna an der Suche. Als sie einige Informationen an den leitenden Ermittler Daniel Lindskog und sein Team heranträgt, erkennen die Polizisten, sowieso chronisch unterbesetzt, ihr Potential. Ehe sie sich‘s versieht, steckt sie mitten in den Ermittlungen und in einem Fall, der komplexer ist als zunächst angenommen…

Sehr spannender und solide aufgebauter Krimi in den Bergen Nordschwedens. In der eisigen Schönheit der Welt in der Nähe des Polarkreises ist ein Mädchen verschwunden und bei Minus zwanzig Grad empfiehlt sich kein längerer Aufenthalt in der Natur. In bewährter Manier entwirft die Erfolgsautorin ihre Figuren und schafft ein interessantes neues Ermittlerduo, das sich aufs Trefflichste ergänzt und doch sehr individuelle Züge besitzt. Sowohl Hanna als auch Daniel sind zwei hochintelligente Ermittler, die so sehr für ihren Job brennen, dass das Privatleben zur Nebensache wird, die sich aber dennoch innerlich zerreißen, um allem und jedem gerecht zu werden. Und Gerechtigkeit ist immens wichtig für sie. Auf dieser Zerrissenheit zwischen Job und Privatem liegt ein besonderer Fokus in der Geschichte und zeigt sehr gut die hervorstechendsten Charaktereigenschaften, die diese beiden Persönlichkeiten ausmachen. Beide sind mit einem schwierigen Verhältnis zu ihren Eltern belastet und haben Probleme in der Partnerschaft. Zudem wurden und werden beide mit Gewalt konfrontiert, Hanna als – noch immer schwer traumatisiertes – Opfer und Daniel, der gegen sein hitziges Temperament ankämpft und ganz schön austicken kann. Pikanterweise verkörpert Daniel damit genau den Typ Mann, den Hanna aufs Tiefste verabscheut. Dieses Aufreiben zwischen zwei Welten, das Hadern mit sich und der Umgang mit anderen und sich selbst nimmt einen Großteil des Plots ein.

Die Geschichte ist gut aufgebaut und zeigt von Anfang an einen sich stetig aufbauenden Spannungsbogen. Die Spannung wird hierbei sowohl ermittlungstechnisch als auch psychologisch erzeugt und lebt ein großes Stück weit von den verschiedenen Perspektiven, aus denen erzählt wird und die dem Leser Einblicke in zerrüttete Familien und zweifelhafte Gesellschaftsstrukturen gibt und die scheinheilige Doppelmoral in Privat- und Berufsleben aufzeigt. Bis etwa zur Mitte des Buches laufen denn auch zwei Handlungsstränge parallel nebeneinander, einmal Hannas private Situation und ihr eigener Fall um die Reinigungsfrau Zuhra und zum anderen Daniels Ermittlungen im Fall Amanda. Nach und nach verknüpfen sich beider Leben und in dem Maße wird auch immer deutlicher, dass und wie alles zusammenhängt. Ich fand sehr wohltuend, dass die Autorin weitgehend auf blutig-reißerische Action verzichtet und den Leser durch ihre vielschichtigen Charaktere mit sensiblem Innenleben und tiefen Einblicken in menschliche Abgründe fesselt. Ihre sehr bildhaften Beschreibungen der lokalen Verhältnisse lassen alles vor dem geistigen Auge auferstehen und man spürt förmlich die Eiseskälte draußen und in den Herzen. Die Lösung des Kriminalfalls selbst kann man bei aufmerksamem Lesen durchaus erahnen, was aber dem Lesevergnügen keineswegs Abbruch tut.

Fazit: Gut gelungener Auftakt in die neue Reihe vor atemberaubender Kulisse. Die Erfolgsautorin beweist einmal mehr ihr Erzähltalent und legt einen atmosphärisch dichten Krimi mit einen interessanten neuen Ermittlerteam vor, das hohes Entwicklungspotential hat. Meiner Meinung nach dürften die nächsten Fälle gerne verschachtelter und komplexer werden, aber alles in allem ein empfehlenswertes Buch, das Lust auf weitere Fälle macht.

  • Einzelne Kategorien
  • Cover
  • Erzählstil
  • Handlung
  • Charaktere
Veröffentlicht am 21.06.2022

Gesine Felber, die Friesenbrauerin, ermittelt - Gelungener Auftakt zu neuer Reihe

Die Leiche am Deich
0

An sich können die Sünnumer nicht meckern: Sie leben an einem idyllischen kleinen Örtchen, der zwar nicht auf google Maps auftaucht, trotzdem aber von Touristen besucht wird, so dass sie sich mit Wattführungen ...

An sich können die Sünnumer nicht meckern: Sie leben an einem idyllischen kleinen Örtchen, der zwar nicht auf google Maps auftaucht, trotzdem aber von Touristen besucht wird, so dass sie sich mit Wattführungen und anderen Aktivitäten etwas zu ihrer Landwirtschaft hinzu verdienen können. Herz und Mittelpunkt des Örtchens ist die Friesenbrauerin Gesine Felber, wegen ihres gern gesponnenen Seemannsgarns Tüdelbüdel genannt, die sowohl die einzige Gastwirtschaft, den Kroog, als auch das einzige Lädchen in Sünnum betreibt. Die Idylle wird empfindlich getrübt, als der Milchbauer Burmeister große Ländereien der Bauern aufkauft, um eine Milchfabrik zu errichten. Ein Grundstück fehlt ihm noch, doch der Besitzer stellt sich stur. Da wird eine Leiche angespült, und schnell stellt sich heraus: Es ist Burmeisters Ehefrau Kerstin...

Oha da ist mächtig etwas los im gar nicht so beschaulichen Sünnum! Wer einen Cosy Krimi erwartet hat, wird überrascht sein, denn der Fall gestaltet sich wider Erwarten komplexer als gedacht, und die schnell gefundenen und verhafteten Verdächtigen sind keinesfalls eindeutig überführt. Mit viel Wortwitz, norddeutscher Coolness und friesischer Bauernschläue lässt der Autor seine Protagonisten agieren, die zunächst als sympathisch-trottelige Landeier rüberkommen. Aber Obacht! Auch wenn Friesenbrauerin Gesines Tüdelbräu so manches oberflächliche Problem löst, kocht die Stimmung doch ganz schön hoch, und bald geschehen weitere Verbrechen und ein Mob tobt durch Sünnum und will Lynchjustiz üben. Da ist Schluss mit lustig. Aber auch wenn die Verbrechen nicht ohne sind und die Lösung nicht sofort offen auf der Hand liegt, ist der Grundton der Geschichte eher humorvoll. Der Autor versteht es sehr gut, seinen Figuren Leben einzuhauchen und sie bei aller Originalität nicht flach oder zu klischeehaft werden zu lassen.

Der Charakter, auf den sich alles stützt, Hauptfigur und vorrangige Sympathieträgerin ist natürlich die Friesenbrauerin Gesine, die mit viel Herz und Empathie alles zusammenhält. Eine ehemaliger Alt-68erin, die weiß, wie man demonstriert und sich der Obrigkeit gegenüber verhält. Pikant, dass ausgerechnet ihre Tochter Wiebke Ordnungshüterin ist und sich als solche an die Vorschriften halten muss. Gesine ist die dominante Figur, aus deren Sichtweise meist erzählt wird, und man folgt ihr gerne und lebt mit ihr mit, wie sie sich mehr als einmal in brenzlige Situationen bringt. Ich fand aber auch die Perspektive des Bösewichts Burmeister gut, die sehr gut seine Motive und Denke offenbart, und als Sympathieträger hat natürlich der brummige alte Seebär Joris viel Potential, der immer zur Stelle ist, wenn man ihn braucht. Teilweise bleiben die anderen Figuren neben diesen etwas flach, und mir war Gesine oft etwas zu militant und störrisch in ihren Aktionen, die meist wenig durchdacht und sehr von ihren Emotionen geprägt sind. Die Ausarbeitung der Charaktere hat durchaus noch Luft nach oben, und auch das Stilmittel, Sätze unvollendet und von anderen beenden zu lassen, wird mir zu inflationär eingesetzt. Alles in allem aber ein schöner Ostfrieslandkrimi mit liebenswerten Figuren und viel Lokalkolorit.

Fazit: Gelungener Auftakt in die neue Reihe um die Friesenbrauerin Gesine im idyllischen – fiktiven – Sünnum. Eine gewisse Affinität zu Norddeutschland und Platt sollte man haben, es hilft ungemein, die Ausdrücke zu verstehen. Aber gerade das macht die Menschen und die Geschichte authentisch und interessant. Wer akribische Ermittler und handfeste Polizeiarbeit möchte, ist hier falsch, wer aber empathische Figuren und witzige Dialoge mag, eingebettet in friesisch-herber Landschaft mit viel lokalem Flair, wird diese neue Reihe lieben!

  • Einzelne Kategorien
  • Cover
  • Erzählstil
  • Handlung
  • Charaktere