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Monsieur

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Veröffentlicht am 16.04.2025

Ein Geflecht zwischenmenschlicher Beziehungen

Drei Wochen im August
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In „Drei Wochen im August“ versammelt Nina Bussmann ihre Figuren in einem abgelegenen Ferienhaus an der französischen Atlantikküste. Was auf den ersten Blick wie ein klassischer Familienroman anmutet, ...

In „Drei Wochen im August“ versammelt Nina Bussmann ihre Figuren in einem abgelegenen Ferienhaus an der französischen Atlantikküste. Was auf den ersten Blick wie ein klassischer Familienroman anmutet, erweist sich schnell als Versuch, das Genre auf unkonventionelle Weise neu zu denken. Im Mittelpunkt steht Elena, die sich in einer kriselnden Ehe befindet. Um Abstand zu gewinnen, reist sie ohne ihren Mann, aber mit ihren drei Kindern und zwei familienfremden Personen in den Urlaub.
Bussmann interessiert sich weniger für äußere Handlung als für das feine Geflecht der zwischenmenschlichen Beziehungen. Sie seziert das Zusammensein auf engem Raum mit präzisem Blick, besonders Elenas ambivalentes Verhältnis zu ihren Kindern. Im Zentrum dieser Entwicklung steht die bislang eher verschlossene, dickliche Tochter, die im Verlauf des Aufenthalts zögerlich beginnt, sich zu öffnen.
Spannungen entstehen schleichend und bleiben oft unter der Oberfläche – ein erzählerischer Kniff, der die Atmosphäre unterschwellig auflädt, ohne sie zu dramatisieren. Der Reiz dieses Ansatzes liegt darin, dass der vermeintlich idyllische Rückzugsort zur Projektionsfläche für verdrängte Emotionen wird. Elena, gezwungen zur Innenschau, entdeckt dabei nicht nur ihre Rolle als Mutter, sondern auch sich selbst neu.
Trotz dieser vielversprechenden Anlage gelingt es Bussmann nicht durchgehend, ihre Figuren greifbar zu machen. Sie bleiben distanziert, fast austauschbar. Diese emotionale Unnahbarkeit erschwert die Identifikation und lässt die literarische Auseinandersetzung mit den Charakteren unbefriedigend wirken. Gerade weil der Roman beinahe vollständig auf seine Figuren baut und Handlung nur als Hintergrundrauschen dient, wiegt dieser Mangel schwer.
Auch stilistisch bleibt Bussmann hinter den Erwartungen zurück: Ihr knapper, teils abgehackter Schreibstil wirkt oft spröde und schafft es nicht, über die gesamte Länge zu tragen.
„Drei Wochen im August“ ist ein ambitionierter, aber letztlich blasser Roman. Er hinterlässt kaum Spuren – weder inhaltlich noch emotional. Nach der letzten Seite sind Elena und ihre Familie schnell vergessen.

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Veröffentlicht am 12.04.2025

Ein Spiel mit Erinnerung, Wahrheit und literarischer Fiktion

Das Haus der Türen
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Mit „Das Haus der Türen“ legt Tan Twan Eng einen Roman vor, der sich zwischen Fiktion und Wirklichkeit bewegt. Im Zentrum der Handlung steht kein Geringerer als der berühmte englische Schriftsteller W. ...

Mit „Das Haus der Türen“ legt Tan Twan Eng einen Roman vor, der sich zwischen Fiktion und Wirklichkeit bewegt. Im Zentrum der Handlung steht kein Geringerer als der berühmte englische Schriftsteller W. Somerset Maugham, der hier zumeist schlicht „Willie“ genannt wird. Im Jahr 1921 besucht er mit seinem Sekretär Malaysia, zu einer Zeit, in der er zwar weltweiten Ruhm genießt, jedoch mit erheblichen finanziellen Problemen zu kämpfen hat – eine fatale Fehlinvestition zwingt ihn dazu, dringend neues literarisches Material für einen Kurzgeschichtenband zu finden. Es ist der Beginn eines Spiels mit Erinnerung, Wahrheit und literarischer Fiktion.
Willie ist zu Gast bei Lesley Hamlyn und ihrem Ehemann Robert. Während Robert durch seine gesellschaftlichen Verpflichtungen häufig abwesend ist, verbringen Willie und Lesley viel Zeit miteinander. Die anfangs unverbindlichen Gespräche zwischen Gastgeberin und Gast nehmen zunehmend eine tiefere Wendung, als Lesley beginnt, ihre Vergangenheit zu offenbaren. Dabei geht es nicht nur um ihre persönliche Geschichte, sondern auch um heikle politische und gesellschaftliche Themen der damaligen Zeit: Unterstützung chinesischer Rebellen, Affären beider Eheleute und insbesondere das dramatische Schicksal ihrer Freundin Ethel, die wegen Mordes an ihrem Mann vor Gericht stand.
Tan Twan Eng gelingt es, diese Enthüllungen als gezielte literarische Strategie Lesleys darzustellen – sie füttert den erfolgsverwöhnten, aber ideenlosen Maugham bewusst mit Material. Der Schriftsteller, geplagt von Selbstzweifeln und dem Druck, einen neuen Bestseller zu liefern, wird zur Projektionsfläche für ihre Geschichten. Dass sich diese nicht nur im Roman, sondern auch im realen Werk Maughams wiederfinden, verleiht dem Buch eine reizvolle Doppelbödigkeit: „Das Haus der Türen“ balanciert gekonnt auf dem schmalen Grat zwischen historischer Realität und erzählerischer Ausschmückung.
Die größte Stärke des Romans liegt zweifelsohne in der ruhigen, feinfühligen Erzählweise, mit der Tan Twan Eng die Atmosphäre des Hauses der Hamlyns schildert. Die Handlung schreitet gemächlich voran, begleitet von den täglichen Ritualen der Figuren, ihren abendlichen Drinks, dem rhythmischen Dahinfließen ihrer Gespräche. Fast wie eine Urlaubslektüre lässt sich der Roman anfangs lesen – wohltuend entschleunigt, dabei stets getragen von einer leisen Melancholie. In dieser Stimmung entfaltet sich eine große Nähe zu den Figuren, deren innere Konflikte und Ambivalenzen Tan Twan Eng mit großem Feingefühl offenlegt. Besonders Willie erscheint als komplexer Charakter: selbstbewusst und zugleich verunsichert, berühmt, aber gezeichnet von existenziellen Sorgen, getrieben von der Angst vor dem kreativen Stillstand.
Doch nach etwa einem Drittel des Romans verändert sich der Ton merklich. Mit Lesleys Rückblick auf ihre Vergangenheit beginnt ein zweiter, dramatischerer Erzählstrang, der mit politischen Aufständen, Rebellion, Mord und Verrat aufwartet. Zwar vermag Tan Twan Eng auch diese Passagen souverän zu gestalten, doch sie rauben dem Roman seine bis dahin besondere Qualität – nämlich die stille Intimität, das psychologische Gespür für Zwischentöne. Stattdessen dominieren handlungsreiche Rückblicke, die in ihrer Art eher solide als herausragend wirken. Ethels Geschichte, so tragisch sie auch sein mag, bleibt im Vergleich zur Auseinandersetzung mit Maughams innerer Zerrissenheit eher konventionell und in Teilen zu langatmig.
Diese stilistische und inhaltliche Zäsur reißt den Roman gewissermaßen entzwei. Man hat das Gefühl, zwei Bücher auf einmal zu lesen: eine fein komponierte, literarische Momentaufnahme auf der einen Seite und ein historisch-politisches Drama auf der anderen. Beide Teile für sich genommen haben ihre Qualitäten – gemeinsam aber harmonieren sie nur bedingt. Die Rückblicke unterbrechen den erzählerischen Fluss der Haupthandlung, und obwohl sie wichtige Kontextualisierung bieten, hätte ihnen eine stärkere Straffung gutgetan.
Auch das Ende des Romans wirkt überladen. Anstatt in der Gegenwart der Erzählung zu verbleiben und Maughams Besuch in Malaysia ruhig ausklingen zu lassen, springt Tan Twan Eng plötzlich in die Zukunft, als wolle er noch schnell ein finales Resümee nachreichen. Dieser abrupte Zeitsprung wirkt überhastet und stört die zuvor so fein aufgebaute Atmosphäre. Gerade weil der Roman auf knapp 350 Seiten genügend Raum gehabt hätte, um seine Themen organisch auszuerzählen, erscheint dieser Abschluss unnötig forciert.
„Das Haus der Türen“ ist ein lesenswerter Roman, vor allem wegen seiner ersten Hälfte, in der sich Tan Twan Eng auf das konzentriert, was er besonders gut beherrscht – das Spiel mit Figuren, Spannungen und psychologischer Tiefe auf engem Raum. Die leisen Beobachtungen, die klugen Dialoge und das Porträt eines Schriftstellers in der Krise hinterlassen Eindruck. Umso bedauerlicher ist es, dass der Roman am Ende den Mut verliert, sich auf diese Stärken zu verlassen, und stattdessen in konventionellere Gefilde ausweicht.
Vielleicht hätte Das Haus der Türen als kürzere Novelle – mit einem Umfang von 150 bis 200 Seiten – sein volles Potenzial entfalten können. So aber bleibt ein Werk, das in Teilen glänzt, insgesamt jedoch etwas unausgewogen wirkt – lesenswert, aber nicht unvergesslich.

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Veröffentlicht am 10.04.2025

Drei Geschwister und ein dubioses Familienerbe

Wo wir uns treffen
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Mit ihrem neuen Roman „Wo wir uns treffen“ begibt sich die britische Autorin Anna Hope auf das Terrain des Familienromans. Im Mittelpunkt steht ein großes Anwesen, das nach dem Tod des Vaters an die nächste ...

Mit ihrem neuen Roman „Wo wir uns treffen“ begibt sich die britische Autorin Anna Hope auf das Terrain des Familienromans. Im Mittelpunkt steht ein großes Anwesen, das nach dem Tod des Vaters an die nächste Generation übergehen soll – ein klassisches Szenario, das in der Literatur seit jeher als Ausgangspunkt für innerfamiliäre Konflikte und die Aufarbeitung einer gemeinsamen Vergangenheit dient. Hope bedient sich dabei bekannter Motive, versucht jedoch einen eigenen Weg zu finden, indem sie nicht auf überzeichnete Dramatik oder familiäre Zerwürfnisse setzt, sondern auf leisere Töne – mit wechselhaftem Erfolg.
Im Zentrum stehen die drei Geschwister Frannie, Milo und Isa, die nach dem Tod des Vaters in ihr Elternhaus zurückkehren – ein Haus, das sie aus unterschiedlichen Gründen längst hinter sich gelassen hatten. Der Anlass ist die Beerdigung des Vaters und die Frage, wie es mit dem geerbten Anwesen weitergehen soll. Bereits hier zeigt sich, dass das Erbe nicht nur eine finanzielle Belastung darstellt, sondern tiefere Konflikte innerhalb der Familie an die Oberfläche bringt.
Dabei folgt Hope einem bewährten literarischen Muster: Die Zusammenkunft anlässlich eines Trauerfalls wird zur Bühne für unausgesprochene Konflikte, alte Verletzungen und tief sitzende Spannungen. Doch anstatt diese auf eskalierende Weise auszuspielen, konzentriert sich die Autorin stärker auf die Auswirkungen, die das Anwesen selbst auf das Leben der Geschwister hat – und auf die Geschichte, die es in sich trägt.
Der Roman entfaltet sich dabei in einem gemächlichen Tempo. Vieles wird in Rückblenden erzählt, Erinnerungen an die Kindheit im Haus wechseln sich ab mit Gesprächen in der Gegenwart, in denen die Geschwister über das weitere Vorgehen diskutieren. Frannie, die als Haupterbin im Zentrum der Handlung steht, ist diejenige, die sich für den Erhalt des Hauses einsetzt. Unterstützt wird sie dabei von ihrer kleinen Tochter Rowan, für die sie sich ein behütetes Aufwachsen an jenem Ort wünscht, an dem auch sie selbst groß geworden ist.
Milo hingegen bildet den Widerpart. Er hat schon zu Lebzeiten des Vaters geheime Absprachen getroffen, deren Ziel nicht im Erhalt des Hauses, sondern vielmehr in dessen Verwertung liegt. Isa, die dritte im Bunde, bleibt im Hintergrund – mit sich selbst beschäftigt und durch Beziehungsprobleme abgelenkt, wirkt sie häufig wie eine Randfigur.
Trotz der bemühten Charakterzeichnung gelingt es Anna Hope nicht, die Figuren mit echtem Leben zu füllen. Zwar werden ihre inneren Konflikte ausführlich beschrieben, und auch ihre Vergangenheiten werden aufgerollt – doch die emotionale Bindung bleibt aus. Besonders Frannie, obwohl sie die meiste Präsenz aufweist, bleibt merkwürdig ungreifbar. Ihre Motive erscheinen nachvollziehbar, aber nicht fesselnd. Milo und Isa sind zwar als Kontrastfiguren angelegt, doch auch sie können dem Roman kaum mehr als eine oberflächliche Dynamik verleihen.
Hinzu kommt, dass der große thematische Umschwung im letzten Drittel des Romans beinahe ungeschickt eingeführt wird. Ohne eine wirkliche Vorwarnung offenbart sich eine düstere Vergangenheit des Anwesens – eine Verbindung zur britischen Kolonialgeschichte, die das Ansehen der Familie tief erschüttert. Was auf den ersten Blick wie ein spannendes erzählerisches Element wirkt, erweist sich rasch als enttäuschend unausgereift. Der koloniale Kontext, der in der britischen Literatur ohnehin nur selten aufgegriffen wird, bleibt hier eine Randnotiz. Die Diskussion darüber zwischen den Geschwistern wirkt gezwungen und oberflächlich, das Potenzial dieses Themas wird nicht einmal ansatzweise ausgeschöpft. Hopes Schreibstil indes trägt nicht dazu bei, das erzählerische Defizit auszugleichen. Ihre Sprache ist nüchtern, beinahe blass, und die Dialoge wirken häufig gestelzt oder belanglos. Die Erzählstruktur folgt einem klaren Plan, doch genau dieser Plan ist zu deutlich spürbar. Die Geschichte bleibt auf diese Weise zu sehr ein literarisches Konstrukt – und zu wenig ein lebendiges Familiendrama.
Insgesamt hinterlässt „Wo wir uns treffen“ den Eindruck eines Romans, der viel versucht, aber wenig erreicht. Die Idee, das Erbe eines geschichtsträchtigen Anwesens als Katalysator für familiäre Auseinandersetzungen zu nutzen, ist nicht neu – und Hope gelingt es nicht, dieser Konstellation neue Facetten abzugewinnen. Die Figuren sind zu blass, die Konflikte zu gezähmt, die historische Dimension zu oberflächlich.
Wer nach einem eindrucksvollen Familienroman sucht, der Generationenkonflikte, emotionale Tiefe und historische Verflechtungen miteinander zu verknüpfen weiß, wird bei diesem Buch enttäuscht. „Wo wir uns treffen“ bleibt hinter seinen Möglichkeiten zurück – ein Roman, der mehr verspricht, als er hält, und dabei letztlich kaum über Mittelmaß hinauskommt.

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Veröffentlicht am 25.03.2025

Mimos steiniger Weg

Was ich von ihr weiß
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Am 1. April 2025 bringt der Luchterhand Literaturverlag den mit dem Prix Goncourt 2023 ausgezeichneten Roman "Was ich von ihr weiß" des französischen Autors Jean-Baptiste Andrea endlich auch in deutscher ...

Am 1. April 2025 bringt der Luchterhand Literaturverlag den mit dem Prix Goncourt 2023 ausgezeichneten Roman "Was ich von ihr weiß" des französischen Autors Jean-Baptiste Andrea endlich auch in deutscher Übersetzung heraus. Dieses literarische Werk, das sich als ambitioniertes Epos über die erste Hälfte des 20. Jahrhunderts versteht, vereint mehrere Genres in sich: Es ist zugleich Künstlerroman, Historienbuch, Bildungs- und Gesellschaftsroman – ein komplexes Unterfangen, das hohe Erwartungen weckt.
Im Zentrum der erzählten Geschichte steht Michelangelo Vitaliani, kurz Mimo, der in bescheidenen Verhältnissen aufwächst und schon früh mit der Bildhauerei in Berührung kommt. Sein Talent offenbart sich schnell, doch der Weg an die Spitze ist lang und voller Rückschläge. Mimo hat nicht nur mit Armut zu kämpfen, sondern muss sich auch gegen Anfeindungen seiner Umgebung zur Wehr setzen. Als Kleinwüchsiger hat er es in dem körperlich anstrengenden Beruf des Bildhauers schwerer als andere. Trotz zahlreicher Rückschläge und Phasen des Scheiterns behauptet er sich schließlich und avanciert zu einem gefeierten und begehrten Künstler.
Eine zentrale Rolle im Roman spielt auch Viola, die Mimo während eines Bildhauerauftrags in ihrer gemeinsamen Kindheit kennenlernt. Im Gegensatz zu ihm stammt sie aus wohlhabenden Verhältnissen, empfindet ihre Startbedingungen jedoch keineswegs als ideal. Als junge Frau im frühen 20. Jahrhundert fühlt sie sich von den gesellschaftlichen Erwartungen eingeengt und strebt nach größerer Freiheit. Ihr Traum, das Fliegen zu lernen, symbolisiert ihren Wunsch nach Unabhängigkeit. Gemeinsam mit Mimo widmet sie sich in ihrer Jugend der Erforschung und dem Bau von Flugmaschinen, doch ihre Bemühungen enden tragisch in einem schweren Unfall.
Jean-Baptiste Andrea erzählt die Geschichte von Mimo und Viola über viele Jahre hinweg. Der Roman verweilt lange in der Kindheit und Jugend der Protagonisten, bevor er sich Mimos Reifeprozess als junger Mann widmet und schließlich zum Wiedersehen der beiden nach vielen Jahren springt. Die latente Liebesgeschichte zwischen Mimo und Viola wird dabei immer wieder von langen Trennungen und den Wirren der Zeitgeschichte unterbrochen. Die politischen Entwicklungen, insbesondere die beiden Weltkriege, bilden den Hintergrund der Handlung, geraten jedoch erst im letzten Drittel des Romans in den Vordergrund. Hier wird Mimo unmittelbar in die politischen Fronten verwickelt, was der Geschichte eine zusätzliche Dimension verleiht.
Bis dahin bleibt der Roman jedoch überraschend einfach gestrickt. Wer anhand des Klappentextes eine tiefgehende Auseinandersetzung mit gesellschaftlichen und politischen Fragestellungen erwartet, könnte zunächst enttäuscht sein. Der Schwerpunkt liegt vor allem auf der Schilderung von Mimos Kindheit, seiner Ausbildung in der ersten Werkstatt, seiner Freundschaft mit Viola und seinem kämpferischen Streben nach einem Platz in der Welt. Auch die Figur Viola, die aufgrund ihres rebellischen Wesens und ihrer Suche nach Freiheit eine vielversprechende Protagonistin hätte sein können, bleibt eher im Hintergrund. Sie wird zur Nebenfigur degradiert, während Mimos Lebensweg klar im Mittelpunkt steht.
Dieser Fokus auf Mimo und die teilweise nur oberflächliche Behandlung der anderen Themen führen dazu, dass "Was ich von ihr weiß" insgesamt weniger komplex wirkt, als man es von einem Prix-Goncourt-Gewinner erwarten würde. Der Roman erinnert stellenweise fast an einen Trivialroman, wenngleich er auf einem höheren Niveau unterhält. Jean-Baptiste Andreas Stärke liegt vor allem in der erzählerischen Gestaltung der Geschichte selbst – mit spannenden Wendungen, viel Tragik, Leidenschaft und Drama – weniger jedoch in der Tiefe seiner Themen. Diese bleiben oft unausgearbeitet und bieten wenig neue Einsichten.
Auch die Darstellung von Mimos Ausbildung und Leben als Bildhauer ist zwar zweckmäßig und zufriedenstellend, aber nur bedingt authentisch. Zwar fügen sich historische Details sauber in die Handlung ein, doch die Darstellung des Handwerks und der Zeit bleibt insgesamt eher durchschnittlich. Mimo ist eine vielschichtige Figur, der man gerne durch die Geschichte folgt, doch über die Stationen seines Lebens hinaus fehlt ihm das gewisse Etwas, das eine tiefere Auseinandersetzung mit seinem Charakter spannend machen würde. Dasselbe gilt für Viola, die trotz ihres Potentials nicht über die Rolle einer Nebenfigur hinauskommt.
Als Unterhaltungsroman kann "Was ich von ihr weiß" dennoch überzeugen. Die spannende Geschichte, die zahlreichen dramatischen Wendungen und die tragischen Momente dürften viele Leser ansprechen und bis zum Schluss fesseln. Wer jedoch auf eine tiefere Auseinandersetzung mit den gesellschaftlichen und politischen Themen der Zeit hofft, könnte eher ernüchtert sein. Jean-Baptiste Andreas Roman bleibt hinter seinen Erwartungen zurück und bietet letztlich wenig neue Erkenntnisse in seinen zentralen Themen.

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Veröffentlicht am 14.03.2025

Eine Brücke zwischen den Generationen, zwischen Vergangenheit und Gegenwart

Flusslinien
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Katharina Hagenas vierter Roman "Flusslinien" entführt die Leser in die vielschichtige Welt dreier Protagonisten, die sich in völlig unterschiedlichen Lebensstadien befinden: Margit, Luzie und Arthur. ...

Katharina Hagenas vierter Roman "Flusslinien" entführt die Leser in die vielschichtige Welt dreier Protagonisten, die sich in völlig unterschiedlichen Lebensstadien befinden: Margit, Luzie und Arthur. Mit einer einzigartigen Erzählweise, die von Erinnerungen, Gedankenfragmenten und scheinbar zufälligen Einsprengseln durchzogen ist, erschafft Hagena eine literarische Atmosphäre, die sowohl sanft als auch eindringlich wirkt.
Margit Raven ist mit über hundert Jahren die älteste der Hauptfiguren und lebt in einer Seniorenresidenz. Wie so oft in Hagenas Werk dient dieses hohe Alter als Gelegenheit, in die Geschichte Deutschlands einzutauchen. Margit hat den Krieg miterlebt, die Wirren der Nachkriegszeit durchstanden und schließlich ihre Berufung als Stimmbildnerin gefunden. Ihre Erinnerungen tauchen nicht als chronologische Nacherzählung auf, sondern fließen bruchstückhaft in die Erzählung ein. Mal sind es kurze Momente aus ihrer Kindheit, mal Episoden über ihre Beziehung zu ihrer Mutter oder über ihre Schulzeit. Dabei vermeidet Hagena den Fehler vieler anderer Autoren, die sich in pathetischen Dramen und übermäßigen historischen Recherchen verlieren. Stattdessen werden die geschichtlichen Ereignisse aus einer individuellen Perspektive geschildert – so, wie Margit sie damals empfunden hat. Dadurch fühlt sich der Roman nicht wie eine Geschichtsstunde an, sondern wie das gelebte Leben einer Frau, die das 20. Jahrhundert mit all seinen Höhen und Tiefen erlebt hat.
Trotz ihrer bewegten Vergangenheit strahlt Margit in der Gegenwart eine angenehme Ruhe aus. Ihre Erinnerungen sind nicht voller Bitterkeit, sondern erscheinen als fragmentierte Gedanken, die mal aufleuchten und wieder verblassen. Es ist ein leiser, aber eindrucksvoller Blick auf ein Jahrhundert deutscher Geschichte.
Auch Luzie, eine junge Frau, die sich gerade erst vom Abitur abgemeldet hat, kämpft mit ihrer Vergangenheit. Nach einer Vergewaltigung durch einen Mitschüler ist sie auf der Suche nach einem Weg, mit ihrer schmerzhaften Erfahrung umzugehen. Ihre Flucht in die Kunst des Tätowierens gibt ihr Halt, und sie beginnt, nicht nur Margits Körper, sondern auch die Haut anderer Senioren mit kunstvollen Motiven zu verzieren. Sie lebt abgeschieden in einer Hütte an der Elbe, meidet Menschen, doch ihre künstlerische Auseinandersetzung mit Schmerz und Vergangenem hilft ihr, sich selbst zu finden. Hagena zeichnet Luzie dabei nicht als reines Opfer, sondern als eine ambivalente, vielschichtige Figur. Luzie leidet unter ihrer Vergangenheit, aber sie wächst auch an ihr. Ihre Entschlossenheit, sich als Tätowiererin zu etablieren, verleiht ihr eine beeindruckende innere Stärke.
Arthur, die dritte Hauptfigur, erscheint zunächst als unauffällige Randgestalt: ein Fahrer, der Senioren zu ihren Terminen bringt. Doch auch er trägt eine Geschichte mit sich, die sich erst nach und nach offenbart. Er wirkt orientierungslos, seine Lebensziele sind unklar, doch er besitzt Eigenheiten, die ihn faszinierend machen – unter anderem seine Leidenschaft für das Erfinden fiktiver Sprachen. Besonders prägend ist für ihn die Erinnerung an seinen verschwundenen Zwillingsbruder, über den er nur vage spricht. Arthur dient in "Flusslinien" nicht nur als Brücke zwischen Margit und Luzie, sondern auch als Verbindung zwischen Vergangenheit und Zukunft. In der wachsenden Beziehung zwischen ihm und Luzie zeigt sich schließlich die Hoffnung auf eine gemeinsame Zukunft, in der beide vielleicht aus ihrer inneren Isolation ausbrechen können.
Hagena beweist in diesem Roman ein besonderes Geschick im Umgang mit ihren Charakteren. Sie sind nicht nur tiefgründig und facettenreich, sondern entwickeln sich organisch über die Seiten hinweg. Die Art und Weise, wie sie ihre Leser an den Erinnerungen und Gedanken der Figuren teilhaben lässt, zeugt von außergewöhnlicher schriftstellerischer Raffinesse. Diese Einschübe wirken niemals deplatziert oder konstruiert, sondern fügen sich fließend in die Erzählung ein – manchmal so sanft, dass man kaum merkt, wenn die Handlung in eine Erinnerung hinübergleitet.
Trotz der schweren Themen, die "Flusslinien" behandelt, ist der Roman von einer bemerkenswerten Sanftheit geprägt. Die Sprache ist poetisch, aber nicht überladen; die Stimmung melancholisch, aber nicht erdrückend. Hagena zeigt auf beeindruckende Weise, dass die Konflikte der Vergangenheit und Gegenwart gleichermaßen drängend und individuell sind. Ihre Geschichte offenbart, dass jede Generation ihre eigenen Herausforderungen zu bewältigen hat – und dass es Wege gibt, mit diesen umzugehen.
"Flusslinien" ist somit sowohl ein Gegenwarts- als auch ein Historienroman, der sich nicht in übertriebener Dramatik verliert, sondern mit leisen Tönen überzeugt. Der Roman erinnert daran, dass Erinnerungen nie vollständig verblassen und Vergangenheit und Gegenwart auf eine gewisse Weise miteinander verbunden sind. Die Begegnungen zwischen Margit, Luzie und Arthur zeigen, wie wichtig es ist, sich anderen zu öffnen und dass aus unerwarteten Verbindungen neue Wege entstehen können.
Mit "Flusslinien", erschienen am 13. März 2025 bei Kiepenheuer & Witsch, gelingt Katharina Hagena ein bemerkenswerter deutschsprachiger Roman, der in diesem Bücherfrühling definitiv zu beachten ist.

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