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Monsieur

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Veröffentlicht am 17.12.2024

Ihr bislang bester Roman – eine Reise zwischen Traum und Wirklichkeit

Unmöglicher Abschied
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Han Kang, die diesjährige Nobelpreisträgerin, beweist erneut ihre Vielseitigkeit in ihrem neuen Roman „Unmöglicher Abschied“, in welchem sie mit einer beeindruckenden Bandbreite die wichtigsten Themen ...

Han Kang, die diesjährige Nobelpreisträgerin, beweist erneut ihre Vielseitigkeit in ihrem neuen Roman „Unmöglicher Abschied“, in welchem sie mit einer beeindruckenden Bandbreite die wichtigsten Themen ihres bisherigen Schaffens vereint.
Bereits zu Beginn besticht der Roman durch seine leisen, fast zarten Töne. Im Mittelpunkt steht die Beziehung der beiden Freundinnen Inseon und Gyeongha, zwei Kunstschaffende, die in unterschiedlichen Krisen gefangen sind. Gyeongha, die Protagonistin, ist Schriftstellerin und wird von ihrer Migräne zur Isolation gezwungen. Zwischen ihr und der Außenwelt steht eine imaginäre Barriere, die durch Han Kangs geschickte Formulierungen spürbar gemacht wird. Gyeongha tastet wie durch einen Schleier nach der Welt um sie herum, und dieser Schleier wird zum prägenden Motiv ihrer Wahrnehmung. Und Inseon, früher eine wenig erfolgreiche Dokumentarfilmerin, hat sich als Tischlerin von der Außenwelt abgeschottet, als sie durch einen verheerenden Unfall einige Finger verliert. Ihre innere Versehrtheit ist nun auch körperlich sichtbar. Zudem lastet die Vergangenheit ihrer Familie schwer auf ihr – ein Aspekt, der dem Leser nur schrittweise offenbart wird.
Die Handlung nimmt Fahrt auf, als Inseon ihre Freundin Gyeongha bittet, ihren weißen Vogel zu füttern, da sie selbst dazu nicht in der Lage ist. Diese scheinbar banale Bitte wird zum Ausgangspunkt einer tiefgreifenden, vielschichtigen Reise. Gyeonghas Weg zum Haus ihrer Freundin erweist sich als metaphorischer Türöffner – zu anderen Welten, Träumen und einer bisher verborgenen Vergangenheit. Die Grenzen zwischen Realität und Traum verschwimmen zunehmend, während sich Gyeongha auch der Familiengeschichte ihrer Freundin und damit einem wichtigen Kapitel koreanischer Geschichte nähert.
Ein zentraler Bezugspunkt des Romans ist das Jeju-Massaker von 1948, ein historisches Trauma, das im kollektiven Gedächtnis Koreas tief verankert ist. Han Kang gelingt es, die Grausamkeiten dieses Ereignisses in die Handlung zu integrieren und dabei ein europäisches Publikum auf ein selten literarisch behandeltes Thema aufmerksam zu machen. Gyeongha entdeckt Berichte und Zeugnisse, die Inseon in ihrem Haus gesammelt hat. Diese Dokumente dienen als Schlüssel zu einer verdrängten Vergangenheit und verknüpfen die persönlichen Schicksale der Figuren mit den politischen Umwälzungen Koreas.
Gleichzeitig ist Gyeonghas Reise durch das Schneetreiben zum Vogel ihrer Freundin von höchster symbolischer Bedeutung. Die Beschwerlichkeit des Weges spiegelt die inneren Kämpfe der Protagonistin wider, während Gedanken und Erinnerungen wie ein Sturm über sie hereinbrechen. Die Erzählung wird zunehmend fragmentierter, Anekdoten und Episoden durchziehen den Text wie Schneeflocken, die sich zu einem dichten Teppich verweben. Hier zeigt sich Han Kangs Feinsinn: Sie rückt scheinbar Nebensächliches ins Zentrum, lässt kleine Details aus Gyeonghas Leben eine immense Bedeutung gewinnen. Als Leser erkennt man bald, dass die wahre Odyssee nicht die physische Reise ist, sondern diejenige, die sich in Gyeonghas Kopf abspielt. Die geschickte Verflechtung von inneren und äußeren Welten erzeugt eine Sogwirkung, der man sich kaum entziehen kann.
Ein weiterer Höhepunkt des Romans ist Han Kangs Umgang mit Symbolen und Doppeldeutigkeiten. Der weiße Vogel, der Traum, der Gyeongha heimsucht, oder das abgeschiedene Haus, in dem Inseon lebt – all diese Elemente sind reich an Interpretationsmöglichkeiten. Die Farbe Weiß spielt dabei eine zentrale Rolle. Sie ist nicht nur durch den Schnee allgegenwärtig, sondern bildet auch die Grundstimmung des Buches. Han Kang gelingt es, weiße Flächen als Leerstellen zu inszenieren, die der Leser mit eigenen Deutungen füllen kann. Dies erinnert an ihr früheres Werk „Weiß“, doch hier ist die Farbmetaphorik noch prägnanter und atmosphärisch dichter umgesetzt.
Trotz aller Stärken bleibt der Roman nicht ohne Schwächen. Besonders die Darstellung des Jeju-Massakers verliert im Vergleich zum restlichen Text an Intensität. Die historische Aufarbeitung wirkt sachlich, fast dokumentarisch, und erreicht nicht die emotionale Tiefe, die man von einem Prosatext erwarten würde. Gyeonghas Zugang zu diesem Thema erfolgt vor allem über Berichte und Materialien, die Inseon zusammengetragen hat. Diese Passagen erinnern eher an ein Geschichtsbuch als an einen literarischen Text. Obwohl deutlich wird, dass Han Kang umfangreiche Recherchen betrieben hat, bleibt die Darstellung merkwürdig distanziert. Weder erreicht sie das Niveau eines informativen Sachbuchs noch gelingt es ihr, die Grausamkeiten dieses historischen Ereignisses literarisch vollständig greifbar zu machen. Dies untergräbt die ansonsten durch Nuancen und Symbolik bestechende Erhabenheit des Romans.
Nichtsdestotrotz ist „Unmöglicher Abschied“ vielleicht Han Kangs bislang stärkstes Werk. Ihr bisheriges literarisches Schaffen, das eher im oberen Mittelfeld anzusiedeln ist , erfährt durch diesen Roman eine neue Höhe. Die Vielschichtigkeit der Erzählung, die kunstvolle Verknüpfung von Traum und Wirklichkeit sowie die reichhaltigen Symbole laden zur wiederholten Lektüre ein. Besonders beeindruckend ist die narrative Doppelstruktur, die auf zwei Ebenen erzählt wird – eine offensichtliche und eine, die nur unterschwellig spürbar ist. Han Kang hat in diesem Werk ihre narrativen Ambitionen voll zur Entfaltung gebracht. Ständig hat man als Leser das Gefühl, dass nichts ist, wie es scheint, und dass jedem Detail eine tiefere Bedeutung zukommt.

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Veröffentlicht am 03.12.2024

Ihr letzter Roman

Vilhelms Zimmer
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Schon seit längerem habe ich mir vorgenommen, mich mit dem Werk der einflussreichen dänischen Schriftstellerin Tove Ditlevsen zu beschäftigen. Als Einstieg habe ich mich für ihren letzten Roman, „Vilhelms ...

Schon seit längerem habe ich mir vorgenommen, mich mit dem Werk der einflussreichen dänischen Schriftstellerin Tove Ditlevsen zu beschäftigen. Als Einstieg habe ich mich für ihren letzten Roman, „Vilhelms Zimmer“ entschieden, der bereits 1975 veröffentlicht wurde, und den Verlauf einer zerrütteten Ehe aufzeichnet.
Die Geschichte setzt an einem Punkt ein, an dem die Ehe zwischen Lise und Vilhelm bereits zerbrochen ist. Vilhelms leeres Zimmer steht als ein Sinnbild für die Tragödie, die ihr Verhältnis geprägt hat.
Ditlevsen beschreibt eine Beziehung, die zwischen Abhängigkeit, Unterdrückung und Verletzung pendelt. Die Rollenbilder der Protagonisten sind einerseits typisch für die 1970er Jahre, andererseits durch ihre Feinheiten überraschend modern.
Vilhelm ist ein dominanter Charakter, roh und selbstgerecht. Er trinkt, hat Affären und bemüht sich stets, die Kontrolle über Lise und sein Umfeld zu behalten. Seine Frau Lise hingegen ist eine komplexere Figur; sie ist sowohl Hausfrau und Mutter als auch Schriftstellerin, die Gedichte und Kinderbücher verfasst – Parallelen zu Ditlevsen selbst sind hier kaum zu übersehen. Trotz Vilhelms Grausamkeiten bleibt sie ihm emotional verbunden.
Ditlevsen verwendet eine Vielzahl narrativer Werkzeuge, um den Verfall dieser Ehe zu illustrieren. Eine zentrale Rolle spielt Kurt, ein Mieter, der nach Vilhelms Auszug in Lises Wohnung einzieht. Durch ihn wird der Leser mit den Spuren des Chaos konfrontiert, die Vilhelm hinterlassen hat. Kurts Perspektive erlaubt es, nach und nach die Vergangenheit des Ehepaars zu rekonstruieren. Ebenso bedeutend ist Vilhelms Tagebuch, das eine Chronik der unglücklichen Beziehung liefert, sowie Lises Artikel in einer Zeitung, die ihre Ehe öffentlich machen. Letzteres wirkt wie ein Spiegel des eigentlichen Romans: Ditlevsen, so scheint es, erzählt hier unter dem Deckmantel der Fiktion von ihrem eigenen leidvollen Eheleben.
Obwohl der Text fast fünfzig Jahre alt ist, liest er sich erstaunlich zeitlos. Allerdings ist Ditlevsens dichter Stil gewöhnungsbedürftig, beinahe jeder Satz liefert eine neue Information, und die Sprache wirkt oft distanziert, fast wie in einer Reportage. Diese nüchterne Darstellungsweise, gepaart mit der Perspektivvielfalt, vermittelt den Eindruck, die Autorin habe die Ehe von Lise und Vilhelm aus unterschiedlichen Blickwinkeln beleuchtet und anschließend zu einem Gesamtbild verdichtet. Dadurch erhält die Beziehung eine enorme Wirkkraft, als sei sie von außergewöhnlicher Bedeutung – ein Eindruck, der auch durch das unverhältnismäßige Interesse der Nebenfiguren, etwa des Chefredakteurs, zum Ausdruck kommt.
Vollends überzeugen konnte mich der Roman jedoch nicht. Zum einen kann das Thema einer gestörten Ehe nicht den gesamten Text tragen. So intensiv die Schilderung auch sein mag, toxische Beziehungen, Alkoholismus und psychische Erkrankungen sind keine gesellschaftlichen Tabus mehr. In Literatur und Medien sind derartige Themen allgegenwärtig, und die dargestellte Härte wirkt weniger schockierend, als sie vermutlich beabsichtigt war. Zum anderen fehlt es der Geschichte wegen des dokumentarischen Stils an emotionaler Tiefe. Lises und Vilhelms Seelenleben bleibt oft im Hintergrund, wodurch es schwerfällt, echte Nähe oder Empathie zu entwickeln.
Auch hätte der Roman zweifelsohne von einer Reduktion des Personals profitieren können. Während Figuren wie Lise, Vilhelm, ihr Sohn Tom, Mieter Kurt und die integrante Nachbarin Frau Thomsen in einer spannenden Dynamik stehen, erscheinen andere Charaktere eher überflüssig. Sie lenken ab und untergraben manchmal die Ernsthaftigkeit des Textes.
Zusammenfassend ist „Vilhelms Zimmer“ ein lesenswertes Werk, das die thematische und stilistische Bandbreite Tove Ditlevsens zeigt, wenngleich meine Erwartungen nicht vollständig erfüllt wurden. Die narrative Dichte und die distanzierte Sprache erschweren den Zugang, und die Schilderung der unglücklichen Ehe bleibt zu oberflächlich, um wirklich zu berühren. Dennoch hat der Roman mein Interesse an Ditlevsens Werk geweckt. Vielleicht offenbart sich mir durch die „Kopenhagen-Trilogie“ noch ein tieferes Verständnis für diese bedeutende dänische Autorin.

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Veröffentlicht am 02.12.2024

Eine Fortsetzung? Eine Hommage? Eine Kopie?

Zauberberg 2
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Pünktlich zum 100. Geburtstag von Thomas Manns „Der Zauberberg“ präsentiert Heinz Strunk seinen Roman „Zauberberg 2“ – eine augenscheinliche Hommage, die gleichzeitig an eine Imitation oder gar an eine ...

Pünktlich zum 100. Geburtstag von Thomas Manns „Der Zauberberg“ präsentiert Heinz Strunk seinen Roman „Zauberberg 2“ – eine augenscheinliche Hommage, die gleichzeitig an eine Imitation oder gar an eine literarische Plünderung denken lässt. Mit diesem Werk wagt sich Strunk an eines der bedeutendsten und literarisch anspruchsvollsten Bücher des 20. Jahrhunderts.
In „Zauberberg 2“ überträgt Strunk das zentrale Thema von Manns Klassiker – die Suche nach Sinn und Identität – in die Gegenwart. Im Mittelpunkt steht Jonas Heidbrink, ein Prototyp des modernen Erfolgsmenschen, dessen glänzende Karriere hinter ihm liegt. Er begibt sich freiwillig in ein schlossartiges Sanatorium in Mecklenburg-Vorpommern, um sich seiner Depression und existenziellen Leere zu stellen. Schon bald verschmilzt er mit der Welt anderer Patienten, die allesamt auf ihre Weise vom Weltschmerz zermürbt sind.
Die Monotonie des Kliniklebens und die Begegnungen mit psychisch labilen Figuren bilden das Zentrum der Erzählung. Strunk schildert die Charaktere mit einer ironischen Überzeichnung, die manchmal an Karikaturen erinnert. Die Patienten wirken grotesk, als verzerrte Spiegelbilder moderner Gesellschaftstypen, und ihre Gespräche schwanken zwischen tiefgründiger Selbstdarstellung und heiterem Unsinn. Fast jedes ernste Wort wird durch satirischen Witz entwertet.
Heidbrinks Zustand spiegelt das Sanatorium selbst wider. Die Klinik, einst ein Ort der Hoffnung und Genesung, verkommt zusehends – ein Sinnbild für Heidbrinks inneren Zerfall. Strunk zeigt dies meisterhaft, indem er die Organisation der Klinik allmählich ins Chaos gleiten lässt: Patienten kommen und gehen, Beziehungen verflachen, und der Protagonist verliert mehr und mehr den Kontakt zur Außenwelt.
Parallel dazu vertieft sich Heidbrinks Isolation. Ohne Ziel und ohne Menschen, die ihn vermissen, versinkt er in einer existenziellen Leere. Das Sanatorium wird zu seiner neuen Realität, und die Außenwelt wird bedeutungslos. Diese Entwicklung ist nicht neu; sie erinnert stark an Hans Castorps schleichende Entfremdung im Original. Doch während Thomas Manns Figur eine gewisse innere Reise durchlebt, bleibt Heidbrink weitgehend passiv. Seine depressive Perspektive verstärkt die düstere Atmosphäre, ohne jedoch eine wirklich neue Dimension hinzuzufügen.
Einen wesentlichen Unterschied macht Strunks satirischer Erzählton. Während Manns „Zauberberg“ von intellektueller Ernsthaftigkeit geprägt ist, brilliert Strunk mit zynischem Humor. Die Dialoge und Monologe seiner Figuren, allen voran des Patienten Zeissner, sind oft bewusst überzeichnet. Zeissner, der sich als philosophischer Lebensberater inszeniert, wird zur Parodie moderner Weltweisheiten. Seine Phrasen, die zeitgenössische Bücher und Selbsthilferatgeber widerspiegeln, werden von Heidbrink konsequent entlarvt.
Diese ironische Brechung zeigt, wie Strunk das Thema Depression und Sinnsuche in die heutige Zeit transportiert. Während diese Themen heute allgegenwärtig sind, erscheinen manche Aussagen schon abgedroschen – ein Effekt, den Strunk geschickt einsetzt. Er entlarvt die Oberflächlichkeit moderner Selbstoptimierungsparolen und zeigt, dass diese für Heidbrink ebenso wenig Erleichterung bieten wie die traditionellen Antworten aus Manns Zeit.
Strunk bleibt in vielen Aspekten erstaunlich nah an der Vorlage. Der Aufbau des Romans, bei dem die ersten Tage im Sanatorium detailliert in Echtzeit geschildert werden, ehe die Zeit plötzlich gerafft wird, ist ein methodischer Kniff, den er aus „Der Zauberberg“ übernimmt. Auch das Gefühl der Vertrautheit, das zu Beginn zwischen den Figuren entsteht, und später der zunehmende Verlust von Nähe und Identität, sind bekannte Elemente aus Manns Werk.
Doch während Thomas Mann eine unterschwellige Misanthropie durchscheinen lässt, ist Strunks Bild vom Menschen explizit zynisch. Die Charaktere sind weder tiefgründig noch wirklich liebenswert, sondern bewusst übertrieben und oft lächerlich. Diese überzeichnete Darstellung lässt keinen Zweifel daran, dass „Zauberberg 2“ als Satire gelesen werden muss – ein Kontrast zum intellektuellen Ernst von Manns Text.
Die Frage, ob „Zauberberg 2“ einen Mehrwert gegenüber Manns Original bietet, ist schwer zu beantworten. Strunk hat die Geschichte unbestreitbar in die Gegenwart geholt: Die Figuren sind Vertreter moderner Gesellschaftsschichten, und Themen wie Depression und Isolation erscheinen relevanter denn je. Trotzdem bleibt vieles, was Strunk erzählt, bereits aus „Der Zauberberg“ bekannt. Man könnte argumentieren, dass Strunk keinen neuen Zugang zur Thematik findet, sondern vielmehr eine moderne Version des Klassikers schafft. Dieser Ansatz mag für Leser, die sich vor Manns anspruchsvollem Stil scheuen, attraktiv sein. Doch wer das Original kennt, wird sich fragen, ob eine Neuinterpretation wirklich notwendig war – insbesondere, da „Der Zauberberg“ zeitlos bleibt.
„Zauberberg 2“ löst gemischte Gefühle aus. Einerseits gelingt es Heinz Strunk, mit seinem humorvollen Stil einen zugänglichen und unterhaltsamen Roman zu schaffen, der die Grundideen von Manns Klassiker respektiert. Andererseits bleibt der Eindruck, dass dieses monumentale Werk keine moderne Adaption benötigt.
Strunk bietet eine neue Perspektive, die durch Satire und Ironie besticht, aber die Tiefe und Komplexität von Manns Text nicht erreicht. Sein Roman ist lesenswert, vor allem für jene, die sich von Manns Werk überfordert fühlen. Doch als Ersatz für das Original kann „Zauberberg 2“ nicht dienen. Vielmehr bleibt es ein amüsanter, manchmal nachdenklicher, aber letztlich sekundärer Kommentar zu einem der größten Romane des 20. Jahrhunderts.

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Veröffentlicht am 29.11.2024

Juno ist online

Hey guten Morgen, wie geht es dir?
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Jedes Jahr löst die Verleihung des Deutschen Buchpreises bei vielen Leserinnen und Lesern zunächst Skepsis aus. Auch Martina Hefters Roman „Hey guten Morgen, wie geht es dir?“ fällt in diese Kategorie ...

Jedes Jahr löst die Verleihung des Deutschen Buchpreises bei vielen Leserinnen und Lesern zunächst Skepsis aus. Auch Martina Hefters Roman „Hey guten Morgen, wie geht es dir?“ fällt in diese Kategorie – ein Werk, das thematisch und methodisch auf den ersten Blick ungewöhnlich erscheint. Doch bei genauerer Betrachtung offenbart es eine tiefere, nachdenklich stimmende Ebene, die sich den Lesern erst nach und nach erschließt.
Ohne die Nominierung für den Buchpreis wäre das Buch wahrscheinlich an einem breiten Publikum vorbeigegangen. Das Thema, in das Martina Hefter ihre Leser mitnimmt, wirkt auf den ersten Blick wenig einladend: Es geht um Love-Scamming, eine Art des Internetbetrugs, bei dem Männer versuchen, Frauen durch gefälschte romantische Absichten auszunehmen. Die Hauptfigur Juno, eine Performance-Künstlerin, fällt jedoch nicht auf diese Maschen herein. Stattdessen nutzt sie die anonymen Chatgespräche als Spiel, eine Art Bühnenauftritt in einem digitalen Raum. Hier kann sie Rollen annehmen, sich inszenieren und eine Art Kontrolle ausüben, die ihr im Alltag oft verwehrt bleibt.
Juno entspricht nicht dem typischen Opferbild, das oft mit Love-Scamming verbunden wird. Sie ist weder naiv noch verzweifelt auf der Suche nach Liebe. Im Gegenteil: Ihr Leben erscheint auf den ersten Blick stabil. Sie ist nicht reich, kommt jedoch mit ihrer sparsamen Lebensweise gut zurecht. Sie betreibt regelmäßig Sport, hat Ambitionen im Ballett und führt ein künstlerisch bereicherndes, wenn auch nicht erfolgreiches Leben. Doch bei genauerem Hinsehen offenbart sich, dass der Alltag sie stark fordert. Die Pflege ihres Ehemannes, der auf einen Rollstuhl angewiesen ist, zehrt an ihrer Energie. Sie ist ständig unterwegs, gehetzt von einem Termin zum nächsten. Diese Überforderung, die sich schon seit längerem schleichend in ihrem Leben eingeschlichen hat, mag für viele Leser nachvollziehbar sein – sie ist keine Ausnahme, sondern ein Abbild der Realität vieler Menschen.
Doch warum lässt sich Juno, die weder verzweifelt noch mittellos erscheint, auf dieses Internetspiel ein? Martina Hefter nähert sich dieser Frage in kleinen, unaufdringlichen Schritten. Ist es einfach ein Zeitvertreib? Oder steckt eine tiefere Sehnsucht dahinter? Juno scheint sich selbst einzureden, dass sie die Männer durchschaut. Doch immer wieder lässt der Text erahnen, dass auch in ihr eine gewisse Hoffnung aufkeimt: Vielleicht sind die Dinge am Ende doch anders, als sie scheinen. Diese Ambivalenz macht die Figur so vielschichtig – Juno ist stark und verletzlich, kontrolliert und suchend zugleich.
Interessant ist auch, wie Hefter Junos Leben abbildet. Es gibt kaum Dialoge oder intensive menschliche Interaktionen. Der Text wirkt nüchtern und fast kalt, was den monotonen Alltag der Protagonistin treffend widerspiegelt. Doch gerade diese nüchterne Erzählweise erlaubt es Hefter, tief in Junos Gefühlswelt einzudringen. Die Handlung schreitet kaum voran, die Geschichte scheint auf der Stelle zu treten – eine literarische Reflexion von Junos stagnierendem Alltag. Und doch entsteht dabei keine Langeweile. Vielmehr schafft es die Autorin, die Leser in die scheinbare Leere von Junos Leben hineinzuziehen, die gleichzeitig voller leiser Konflikte und emotionaler Nuancen ist.
Ein wiederkehrendes Motiv des Romans ist Junos Fähigkeit, Rollen zu spielen – beruflich wie privat. Als Performance-Künstlerin ist sie es gewohnt, sich zu inszenieren, und im Internet kann sie diese Fähigkeit voll ausleben. Doch das Leben ist kein Drehbuch, und so stößt sie immer wieder an ihre Grenzen. In einer Szene am Ende des Romans wird sie Zeugin, wie Jugendliche gegen die Scheibe einer Bahn spucken, in der sie sitzt. Diese willkürliche Aggression überfordert sie, und sie bleibt passiv. Gleichzeitig zeigt der Roman auch ihre Stärke: So hindert sie einen Zug minutenlang an der Abfahrt, um sicherzustellen, dass der Rollstuhl ihres Mannes eingeladen wird. Diese Ambivalenz – zwischen Stärke und Hilflosigkeit, Kontrolle und Ohnmacht – macht Juno zu einer faszinierenden, vielschichtigen Figur.
Der Roman stellt immer wieder die Frage, was Juno wirklich antreibt. Ist es Liebe, die sie im Internet sucht? Oder einfach nur eine Flucht aus dem monotonen Alltag? Vielleicht ist es auch etwas Dunkleres: eine Sehnsucht nach dem Ende. Der wiederkehrende Verweis auf Lars von Triers Film „Melancholia“, in dem die Erde durch einen Kometen zerstört wird, legt nahe, dass Juno sich von der Vorstellung eines absoluten Endes angezogen fühlt. Diese morbide Faszination verleiht dem Roman eine zusätzliche Tiefendimension und öffnet Raum für Interpretationen.
„Hey guten Morgen, wie geht es dir?“ ist kein Buch, das durch große Dramatik oder tiefschürfende Konflikte besticht. Vielmehr lebt es von seiner ruhigen, unaufgeregten Erzählweise, die die Leser schrittweise in Junos Welt zieht. Der Text ist leicht zugänglich, aber keineswegs oberflächlich. Hefter hat es geschafft, eine ungewöhnliche Protagonistin zu schaffen, die auch skeptische Leser für sich einnehmen kann.
Doch trotz aller Qualitäten bleibt die Frage, ob dieses Buch den Ansprüchen des Deutschen Buchpreises gerecht wird. Die Thematik ist sperrig, die Erzählweise monoton, und die Tiefe erreicht nicht die Intensität, die man von einem preisgekrönten Roman erwarten könnte. Es ist ein stimmiges, nachdenkliches Werk, das sicherlich seine Leser finden wird – doch ein Meilenstein der deutschsprachigen Literatur ist es nicht. Dennoch bleibt es ein ungewöhnliches literarisches Projekt, das nachhallt und zeigt, wie vielseitig moderne Literatur sein kann.

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Veröffentlicht am 28.11.2024

Ivan und Peter

Intermezzo
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In ihrem neuen Roman „Intermezzo“ widmet sich Sally Rooney der komplexen Beziehung zwischen zwei Brüdern, deren Lebenswege kaum unterschiedlicher sein könnten. Ivan, der Jüngere der beiden, ist ein introvertierter, ...

In ihrem neuen Roman „Intermezzo“ widmet sich Sally Rooney der komplexen Beziehung zwischen zwei Brüdern, deren Lebenswege kaum unterschiedlicher sein könnten. Ivan, der Jüngere der beiden, ist ein introvertierter, sozial unbeholfener Schachspieler. Trotz seines Talents fehlt ihm das Selbstbewusstsein, sein Können anzuerkennen oder sich in sozialen Situationen wohlzufühlen. Peter hingegen verkörpert den selbstbewussten Erfolgsmenschen: charismatisch, aber auch überheblich und egozentrisch. Die beiden Männer, die nach dem Krebstod ihres Vaters auf verschiedene Weise mit ihrer Trauer umgehen, stehen im Mittelpunkt dieses Romans – sowohl in ihrer Gegensätzlichkeit als auch in ihrer Brüchigkeit als Geschwister.
Rooney setzt einen klaren Schwerpunkt auf die Beziehungen der Brüder zu Frauen. Ivan verliebt sich in die zehn Jahre ältere Margaret, eine Beziehung, die vor allem für sie von Unsicherheit und gesellschaftlicher Skepsis geprägt ist. Peters Umgang mit Frauen ist ebenfalls unkonventionell: Er fühlt sich gleichermaßen zu zwei Frauen, Sylvia und Naomi, hingezogen, ohne sich festlegen zu wollen. Dieser Kontrast in den Liebesbeziehungen der Brüder dient als Spiegel für ihre unterschiedlichen Persönlichkeiten und Lebensansätze. Während Ivan sich seiner Gefühle rückhaltlos öffnet, bleibt Peter verschlossen und versucht, seine Zweifel allein zu bewältigen.
Der Roman ist gleichermaßen eine Analyse von modernen Beziehungen wie auch eine Studie einer unharmonischen Bruderbeziehung. Ivan und Peter kämpfen jeweils auf ihre Weise mit den Erwartungen der Gesellschaft, wobei sie sich mal anpassen, mal dagegen auflehnen. Ivan, der sich von Normen eingeschüchtert fühlt, sucht Halt in Margaret, während Peter sich in seiner Überheblichkeit unbeeindruckt von äußeren Meinungen gibt – und doch innerlich zerrissen ist.
Rooney zeigt dabei ein beeindruckendes Gespür für die Psychologie ihrer Charaktere. Ihre Beschreibungen dringen tief in die Innenwelten der Brüder ein und enthüllen, wie stark sie von ihrer Vergangenheit und ihrem Umfeld geprägt sind. Der Roman zeichnet nach, wie die Schatten der gemeinsamen Kindheit ihre Gegenwart belasten und ihre Beziehung in eine tiefe Krise stürzen. Mit präzisen Dialogen und einer facettenreichen Erzählweise gelingt es der Autorin, diese Spannungen greifbar zu machen. Besonders hervorzuheben ist die emotionale Tiefe, die Ivan in seiner Beziehung zu Margaret offenbart – ein starker Kontrast zu Peters egozentrischer Art, mit seinen Gefühlen umzugehen.
Stilistisch ist „Intermezzo“ ein zweischneidiges Schwert. Rooney setzt auf einen fragmentarischen Schreibstil, der zwar modern und populär ist, jedoch den Lesefluss gerade zu Beginn erschwert. Die zahlreichen unvollständigen Sätze mögen als literarisches Mittel gedacht sein, wirken aber mitunter wie ein Ausdruck erzählerischer Unsicherheit. Dieses Stilmittel dürfte Geschmacksache sein, doch es könnte bei manchen Lesern den Eindruck erwecken, die Autorin vermeide bewusst eine elegantere Ausdrucksweise.
Inhaltlich bleibt die Darstellung unkonventioneller heterosexueller Beziehungen nicht ganz überzeugend. Die Problematik einer Altersdifferenz von zehn Jahren oder die komplexen Gefühle in Dreiecksbeziehungen wirken im Vergleich zu realen gesellschaftlichen Herausforderungen fast trivial. Dennoch beweist Rooney ihre Stärke darin, die Ambivalenz menschlicher Beziehungen glaubhaft zu inszenieren.
Trotz kleinerer Schwächen in der erzählerischen Methodik zählt „Intermezzo“ zu Rooneys stärksten Werken. Im Gegensatz zu ihren früheren, teils mittelmäßig bewerteten Büchern wie „Gespräche mit Freunden“ gelingt es ihr hier, die Gegensätzlichkeit zweier Persönlichkeiten und ihre Beziehung zueinander auf ansprechende Weise darzustellen. Die Idee, zwei unterschiedliche Brüder ins Zentrum des Geschehens zu rücken, gibt dem Roman eine solide Grundlage, die durch die präzise Figurenzeichnung gestützt wird.

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