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Veröffentlicht am 15.02.2021

Coming of Age im ostdeutschen Plattenbau

Nur vom Weltraum aus ist die Erde blau
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Im Jahr 2019 kehrt Juri nach Klein Krebslow zurück, um die Wohnung ihrer verstorbenen Mutter aufzulösen. Dort findet die einen an sie adressierten Stapel Papier, der sie ins Jahr 1994 mitnimmt. In diesem ...

Im Jahr 2019 kehrt Juri nach Klein Krebslow zurück, um die Wohnung ihrer verstorbenen Mutter aufzulösen. Dort findet die einen an sie adressierten Stapel Papier, der sie ins Jahr 1994 mitnimmt. In diesem Jahr ist sie mit ihrer Mutter neu hergezogen, sehr zur Verwunderung ihrer Mitschüler der 7b, denn zuletzt haben immer mehr Famlien die zu DDR-Zeiten errichtete Plattenbausiedlung verlassen. Sascha hat die Geschichte aus seiner Perspektive niedergeschrieben und erzählt, wie es dazu kam, dass er sich in Juri verliebt hat. Doch vom Tag ihres Kennenlernens bis zur Monsterkatastrophe sind es nur 102 Tage...

Zu Beginn des Buches findet Juri einen dicken Stapel Papier von Sascha. Der beiliegende Brief erklärt, dass er sie im Jahr 1996, zwei Jahre nach Juris Verschwinden, aufgeschrieben hat. Einige Fotos vermitteln die Atmosphäre von Klein Krebslow, das von den Anwohnern meist nur „die Siedlung“ genannt wird und das stellvertretend für verschiedene tatsächlich existierende Plattenbausiedlungen auf dem ehemaligen Gebiet der DDR steht, deren Verfall nach der Wende begann. Dann folgt in 20 Kapiteln Saschas Geschichte. Das Wissen um Juris Verschwinden und die anstehende Monsterkatastrophe machte mich neugierig, zu erfahren, was die beiden im Sommer 1994 erlebt haben.

Zunächst lernte ich Sascha besser kennen, der mit seinen Eltern und seiner Schwester einige Jahre zuvor in die neuerrichtete Siedlung gezogen ist. Nach der Wende hat sein Vater wie viele andere Anwohner jedoch seinen Job verloren. Wie der schweigsame Mann nun Nahrungsergänzungsmittel verkauft ist Sascha schleierhaft, Gespräche mit ihm versucht er zu vermeiden. Die Siedlung wurde nach der Wende nicht wie ursprünglich geplant erweitert und immer mehr Anwohner ziehen weg. Laut Saschas Mutter, die als Lehrerin arbeitet, wohnen dort sonst nur noch Assis. Angst hat Sascha vor den Pawelke-Brüdern, die angeblich Faschos sind und die er eines Tages dabei beobachtet, wie sie einen alten Mann verprügeln.

Dieser Vorfall ist es, der Juri und Sascha näher zusammenbringt. Ihre furchtlose, blitzgescheite Art und ihr Interesse für Kosmonauten, Raketen und das Weltall fasziniert ihn. Während sein bester Freund Sonny sich in den Sommerferien zu Hause vergräbt und an seiner Musikkarriere arbeitet, verbringen die beiden immer mehr Zeit miteinander. Durch Juri sieht er Dinge aus einer anderen Perspektive und macht neue Erfahrungen. Bei ihrem Vorhaben, den Pawelkes nachzuspionieren, hat er allerdings ein ungutes Gefühl.

Die Geschichte ist sehr atmosphärisch und authentisch erzählt. Sascha als Erzähler ließ die Siedlung vor meinem inneren Auge lebendig werden und ich konnte mich gut in ihn hineinversetzen. Trotz einiger Andeutungen, was in dem Sommer alles passiert ist, erlebte ich zum Schluss noch einige Überraschungen. Neben den beiden Protagonisten ist mir besonders Herr Reza ans Herz gewachsen, den Sascha zunächst in die Schublade „alter Irrer“ einsortiert. Er erweist sich als vielschichtiger Charakter, der in seinem Leben viel mitgemacht hat und den beiden Jugendlichen mit seiner besonnenen Art und Ratschlägen zur Seite steht.

Das Debüt „Nur vom Weltraum aus ist die Erde blau“ kann nicht nur mit Titel und Cover überzeugen. Zwischen den Buchdeckeln steckt auch eine überzeugende und authentische Coming of Age Geschichte im ostdeutschen Plattenbau, die ich gerne weiterempfehle!

Veröffentlicht am 11.02.2021

Wie wäre dein Leben verlaufen, wenn...

Die Mitternachtsbibliothek
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Nora macht gerade eine schwere Phase durch: Ihre geliebte Katze Voltaire ist gestorben, sie hat ihren Job im Musikladen verloren, ihr einziger Klavierschüler hört auf zu spielen und ihr Bruder nimmt ihr ...

Nora macht gerade eine schwere Phase durch: Ihre geliebte Katze Voltaire ist gestorben, sie hat ihren Job im Musikladen verloren, ihr einziger Klavierschüler hört auf zu spielen und ihr Bruder nimmt ihr immer noch übel, dass sie vor Jahren aus der gemeinsamen Band ausgetreten ist. Mit Tabletten und Wein will sie sich von der Welt verabschieden, denn niemand braucht sie mehr. Doch statt zu sterben landet sie in einem Dazwischen, der Mitternachtsbibliothek. Dort erhält sie die Chance, Leben auszuprobieren, in denen sie in der Vergangenheit andere Entscheidungen getroffen hat, um das zu finden, das am Besten zu ihr passt. Wie fühlt sich das Leben an, in dem sie ihren Verlobten nicht verlassen hat? Oder das, in dem sie nach dem Philosophiestudium einen anderen Job angetreten hat? Oder gar nicht studiert, sondern eine Schwimm- oder Musikkarriere verfolgt hat? Ob Nora ein Leben finden wird, in dem sie weiterleben will?

Wer denkt nicht ab und zu darüber nach, wie sein Leben verlaufen wäre, wenn er sich an diesem oder jenem Punkt anders entschieden hätte? Das eigene Leben ist das Resultat Tausender und Abertausender von Entscheidungen und komplexer Zusammenhänge. Mit der Mitternachtsbibliothek schafft der Autor einen magischen Ort zwischen Leben und Tod, in dem Nora die einzigartige Chance erhält, zu erfahren, wie Leben aussehen, in denen sie andere Pfade eingeschlagen hat.

Die Atmosphäre zu Beginn des Buches ist gedrückt, denn in Noras Leben läuft wirklich vieles schief. Beim Betreten der Mitternachtsbibliothek ist sie zunächst skeptisch und weiß nicht, was sie vom dem Angebot halten soll, das ihr von ihrer alten Schulbibliothekarin Mrs Elm gemacht wird, die immer noch so aussieht wie bei ihrer letzten Begegnung vor neunzehn Jahren. Die ältere Frau erweist sich als Beraterin, die Nora allmählich auf den Geschmack des Ausprobierens all der Leben bringt, die in der riesigen Bibliothek auf sie warten.

Nora erlebt spannende und aufregende Momente, aber auch viele herbe Enttäuschungen, die sie immer wieder in die Bibliothek zurückbringen. Dort reflektiert sie in Gesprächen mit Mrs Elm das Erlebte und kommt zu Erkenntnissen, was das Leben als solches eigentlich wertvoll macht. Der Handlungsverlauf ist vorhersehbar, das hat mich in diesem Fall jedoch nicht gestört, denn die Botschaft, die dabei gesendet wird, fand ich sehr schön.

Mit „Die Mitternachtsbibliothek“ hat Matt Haig einen philosophisch geprägten Roman geschaffen, der nachdenklich stimmt und gleichzeitig wunderbar unterhalten kann. Ich bin überzeugt davon, dass jeder aus diesem Buch etwas mitnehmen kann, weshalb ich es wirklich jedem empfehlen kann!

Veröffentlicht am 06.02.2021

Jetzt DAVE!

DAVE - Österreichischer Buchpreis 2021
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Ein Forschungskomplex in der Zukunft: Hier arbeiten Tausende an der Erschaffung von DAVE, einer allmächtigen künstlichen Intelligenz, die alle Probleme der Menschheit lösen soll. Syz ist einer der unzähligen ...

Ein Forschungskomplex in der Zukunft: Hier arbeiten Tausende an der Erschaffung von DAVE, einer allmächtigen künstlichen Intelligenz, die alle Probleme der Menschheit lösen soll. Syz ist einer der unzähligen Programmierer, die Entscheidungsbäume, sogenannte SCRIPTs wie „Einen Nagel in die Wand schlagen“ entwickeln, die in DAVE eingespielt werden. Doch um ein menschliches Bewusstsein zu entwickeln, fehlt noch etwas. Syz wird ausgewählt, um DAVE als Vorbild zu dienen und seine Erinnerungen auf ihn zu übertragen. Die Beförderung bringt allerlei Annehmlichkeiten mit sich und verschafft ihm gleichzeitig Zugang zu neuen Informationen. Diese wecken allmählich Zweifel in ihm, welche Absichten die Entwickler wirklich haben.

Zu Beginn des Buches lernt der Leser den Programmierer Syz kennen. Wie viele andere schreibt er jeden Tag stundenlang SCRIPTs und arbeitet in seiner Freizeit an seiner Doktorarbeit. Doch seine Anträge auf Beförderung werden seit langem abgelehnt. Das Kennenlernen mit der Ärztin Khatun durchbricht seine Routine, doch nach ihrer ersten Begegnung scheint sie spurlos verschwunden. Ein Fehler löst kurz darauf einen Anstieg der Temperaturen und chaotische Zustände aus, welche die Instabilität des Systems deutlich werden lassen.

Schon auf den ersten Seiten passiert allerhand Aufregendes, gleichzeitig wird Syz Leben im Forschungskomplex erklärt. Ein Leben auf der Erde außerhalb des riesigen Gebäudes ist nicht mehr möglich, und innerhalb der Mauern hat sich eine klare Hierarchie entwickelt. Im Mittelpunkt der Gesellschaft steht DAVE, ein in der Entwicklung befindliches transzendentes Bewusstsein und die Hoffnung aller. Die Frage, wozu er nach seiner Vollendung genutzt werden soll, hat zur Bildung unterschiedlicher religionsartiger Strömungen geführt hat: Die Neoterraner wollen die Erde wieder besiedelbar machen und dann ins Weltall ausströmen, während die Transhumanisten an die Überkommenheit des Menschen glauben und eins werden wollen mit der Maschine.

Syz kommt bald einigen Ungereimtheiten auf die Spur, durch welche die Handlung an Spannung gewinnt. Warum kann er Khatun nicht wiederfinden? Wer schreibt ihm heimlich Nachrichten? Und was ist mit der Person geschehen, die vor Syz als Vorbild für DAVE dienen sollte? Die Suche nach Antworten wird allerdings häufig ausgebremst, um dem Leser das relevante Wissen zum Verständnis der Handlung zu vermitteln. Mit zahlreichen Ideen und Theorien der Philosophie und IT, die beschrieben und debattiert werden, stellt das Buch einen großen Anspruch an den Leser. Die Handlung ist komplex, für meinen Geschmack an manchen Stellen zu komplex, und schafft viel Diskussionspotenzial und Raum für Interpretation. Der subtile Humor hat mir sehr gut gefallen. Die Autorin schafft starke Bilder, die im Gedächtnis bleiben.

„DAVE“ ist ein anspruchsvoller Roman für alle, die Lust haben, sich auf intellektuell anregende und kreative Weise mit der Idee eines künstlichen Bewusstseins auseinanderzusetzen.

Veröffentlicht am 30.01.2021

Ein Schimpanse, der wie ein Mensch aufwächst

Sprich mit mir
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Aimee lebt allein und kommt mit ihrem Studium nur mühsam voran. Doch dann sieht sie eines Tages im Fernsehen den Auftritt von Professor Schermerhorn und des Schimpansen Sam, die sich miteinander in Gebärdensprache ...

Aimee lebt allein und kommt mit ihrem Studium nur mühsam voran. Doch dann sieht sie eines Tages im Fernsehen den Auftritt von Professor Schermerhorn und des Schimpansen Sam, die sich miteinander in Gebärdensprache unterhalten können. Als sie feststellt, dass Schermerhorn ausgerechnet an ihrer Uni lehrt und neue studentische Hilfskräfte für Sams Betreuung sucht, meldet sie sich sofort.

Was als Teilzeitjob geplant war wird schnell zu einer Beschäftigung rund um die Uhr und Aimee damit Teil einer ungewöhnlichen Art Familie. Doch auch wenn Sam wie ein Mensch erzogen wird neigt er zu gelegentlichen aggressiven Ausbrüchen. Deshalb werden Projekte wie seines meist nach einigen Jahren abgebrochen, wenn die Schimpansen zu groß und gefährlich geworden sind. Aimee weiß das und ist dennoch wild entschlossen, Sam niemals in einem Käfig enden zu lassen.

In den 1960er und 1970er Jahren erlebte die Forschung zum Spracherwerb bei Menschenaffen ihren Höhepunkt. In dieser Zeit spielt auch die Geschichte des fiktiven Schimpansen Sam, der auf einer Ranch lebt und der Forschungsgegenstand des Professors Guy Schermerhorn ist. Aimees Faszination für Sam und seine Gebärdensprache springt auch auf den Leser über und so lebt sie schon bald mit Sam und Guy auf der Ranch - als Pflegerin, Familienmitglied, Schimpansenmutter.

Aimee geht es von Anfang an vor allem darum, eine Beziehung zu Sam aufzubauen und zu verstehen, wie er denkt. An den Forschungsaktivitäten ist sie kaum beteiligt. Auch das Verhältnis von Guy zu Sam und von Aimee zu Guy wird intensiv beleuchtet. Dem Leser wird ein komplexes Beziehungsgeflecht offenbart, in der Liebe, Loyalität und die völlige Vermischung von Berufs- und Privatleben eine wichtige Rolle spielen. Aimee und Guy werden schließlich mit einem Dilemma konfrontiert, bei dem ihre Meinungen, was die richtige Entscheidung ist, auseinandergehen.

Nach jedem Kapitel aus der Sicht der Menschen folgt ein Kapitel aus der Sicht von Sam. Der allwissende Erzähler gibt Sams Erleben und Empfindungen wieder. Dabei unterscheidet er zwischen Eindrücken, die Sam nicht benennen kann und solchen, für die er ein Wort gelernt hat. Bis heute streiten Forscher über die Frage, wie gut Schimpansen wirklich sprechen lernen können und wie weit ihre Denkprozesse ausgereift sind. Als Autor wagt Boyle hier eine Prognose, die sich durchaus plausibel liest.

Die Geschichte erstreckt sich über mehrere Jahre und von Beginn an kennen die Beteiligten die verschiedenen Richtungen, in die sich das Projekt rund um Sam entwickeln kann. Bereits nach dem ersten Kapitel erfährt man als Leser außerdem, dass Sam sich in der Zukunft an einem Ort befindet, an dem er nicht sein möchte. Der Spannungsbogen ist gelungen und ich wurde von Handlungsverlauf immer wieder überrascht. T.C. Boyle legt mit „Sprich mit mir“ eine beeindruckende Geschichte vor, die mich emotional packte, gespannt mitfiebern ließ und nachdenklich stimmen konnte.

Veröffentlicht am 30.01.2021

Auf den Spuren der Tiger vom englischen Zoo in die russische Taiga

Tiger
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Frieda, die seit Jahren das Verhalten von Bonobos erforscht, ist durch ein einschneidendes Ereignis aus der Spur geraten und verliert deswegen schließlich ihren Job. In einem Zoo findet sie eine Anstellung ...

Frieda, die seit Jahren das Verhalten von Bonobos erforscht, ist durch ein einschneidendes Ereignis aus der Spur geraten und verliert deswegen schließlich ihren Job. In einem Zoo findet sie eine Anstellung als Tierpflegerin. Warum Gabriel, der Sohn des Chefs, sich viel mehr für den Tiger als für die Bonobos interessiert, kann sie nicht nachvollziehen. Doch dann erhält der Zoo ein neues Sibirisches Tigerweibchen, um das sich ausgerechnet Frieda kümmern soll. Weit weg von England, in der russischen Taiga, hat sich Tomas vor Jahren gegen eine Familie und für ein Leben an der Seite seines Vaters entschieden, der ein Tigerreservat aufbauen will. Eines Tages trifft er mitten in der Wildnis auf die zehnjährige Sina, die dort draußen aufgewachsen ist.

Zu Beginn des Buches lernt man Frieda kennen, die eine schwere Zeit durchgemacht hat und am Tiefpunkt angekommen ist. Ihre Kündigung und ein neuer Job machen ihr klar, dass es so nicht weitergehen kann. Während sie sich am Anfang gar nichts anderes als die Arbeit mit Bonobos vorstellen kann wächst ihre Faszination für den Tiger allmählich. Ich habe eine emotionale Bindung zu ihr aufgebaut und war deshalb ein wenig enttäuscht, als der erste Teil des Buches mit einem dramatischen Cliffhanger endet und die Geschichte zu Tomas und Sina schwenkt. Ihr Leben in der Taiga, in der man jederzeit einem Tiger begegnen könnte, ist kalt und wenig luxuriös. Doch Tomas hat sich bewusst dafür entschieden und Sina kennt es gar nicht anders. Aufgrund der vielen Zeitsprünge fühlte ich mich den beiden aber nicht so nah wie Frieda. Die Geschichte spielt zu unterschiedlichen Zeiten, bis im vierten und letzten Teil alle Fäden auf gelungene Weise zusammenlaufen. Wer Nature Writing mag und in das Leben der Sibirischen Tiger und der Menschen in ihrer Umgebung eintauchen möchte, der ist hier genau richtig!