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Veröffentlicht am 09.06.2021

Viel unausgeschöpftes Potenzial

Nelkenblatt
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Nach einer Herzoperation braucht Seniorin Elsa eine Rundumbetreuung und so kommt Pina als ihre Pflegerin ins Haus. Die ist eigentlich Studentin und musste aus politischen Gründen aus ihrem Heimatland fliehen. ...

Nach einer Herzoperation braucht Seniorin Elsa eine Rundumbetreuung und so kommt Pina als ihre Pflegerin ins Haus. Die ist eigentlich Studentin und musste aus politischen Gründen aus ihrem Heimatland fliehen. Elsas Tochter Luzia gängelt die alte Frau geradezu und Pina soll all ihre Regeln durchsetzen. Dennoch verstehen die beiden Frauen sich von Beginn an gut und erzählen sich gegenseitig aus ihrem Leben.

Für mich ist „Nelkenblatt“ das erste Buch des kurdisch-schweizerischen Autors Yusuf Yeşilöz; umso trauriger, dass es mich leider nicht überzeugen konnte. Mit Pina und Elsa stehen sich zwei Frauen an unterschiedlichen Ausgangspunkten gegenüber, die junge Pflegerin steht am Anfang ihres neuen Lebens in der Schweiz, die Seniorin am Ende ihres Lebens – mit dem Tod hat Elsa sich bereits abgefunden, was für Pina und Luzia oft schwer zu ertragen ist. Selbstbestimmtes Sterben, das ist nur eines der Themen im Roman.

Die Gespräche zwischen Pina und Elsa nehmen großen Raum im Text ein, wirken aber ungemein gekünstelt und literarisiert, so dass ich mir unweigerlich dachte: „Wer spricht so?“ Mir ist durchaus bewusst, was erreicht werden sollte, aber wenn zwei Frauen beim ersten Kennenlernen darüber sprechen, ob „Granatapfelbäume lachen können“ oder Pinas Vater „weich wie Baumwolle“ war, wenn er Lust auf ihre Mutter verspürte, dann ist das doch etwas absurd und gewollt philosophisch.

Offen bleibt für mich – und das erschwert mir auch den Zugang zu den Protagonistinnen – wer diese beiden Frauen eigentlich sind. Sie scheinen sich nur über die Beziehung zu anderen zu definieren: zu ihren Liebhabern oder dem Ehemann, zur ihrer Familie, den Kindern und Enkelkindern. Aber wer war Elsa? Was hat sie ausgemacht? Über sie erfahren wir kaum etwas und auch Pinas Emigration scheint mehr schmückendes Beiwerk zu sein. Sie war immerhin nach Studentenprotesten vier Monate im Gefängnis, aber kein Wort davon? Dann sind da noch Andeutungen zu Feminismus, dem Pflegenotstand, zur Sexualität einer Figur, aber nichts davon wird ausgeschöpft – sehr schade!

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Veröffentlicht am 04.06.2021

Herrlich skurril

Die einsame Bodybuilderin
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Eine Frau entschließt sich spontan, Bodybuilderin zu werden, doch auch nach Monaten intensiven Trainings bemerkt ihr Ehemann noch nicht einmal, wie sehr sie sich verändert hat. Eine Verkäuferin wartet ...

Eine Frau entschließt sich spontan, Bodybuilderin zu werden, doch auch nach Monaten intensiven Trainings bemerkt ihr Ehemann noch nicht einmal, wie sehr sie sich verändert hat. Eine Verkäuferin wartet schon seit Stunden vor einer Umkleidekabine auf ihre Kundin, die bereits alle Kleidungsstücke im Laden anprobiert hat. Warum kann sie einfach nicht das Richtige für sich finden? Ein Mann wird aus heiterem Himmel von seiner Freundin zu einem Duell herausgefordert. Auf dem Weg zum Duellplatz strömen von überall her weitere Paare herbei, die dasselbe vorhaben.

Diese Szenarien beschreiben den Inhalt von nur drei Erzählungen von insgesamt elf, die in Yukiko Motoyas „Die einsame Bodybuilderin“ zu finden sind. Es ist das erste Werk der mehrfach preisgekrönten Autorin, welches ins Deutsche übertragen wurde – übrigens von Ursula Gräfe, die auch Haruki Murakami oder Hiromi Kawakami übersetzt. Das zentrale Element dieser Sammlung von Kurzgeschichten ist das Alltägliche, in das sich das Skurrile, Surreale, Bizarre einschleicht. Die Texte sind dabei oft dialoglastig, die Formulierungen klar und in kurzen Sätzen.

Thematisch kreist Yukiko Motoya um Beziehungen, die Rolle der Frau in diesen bzw. der Gesellschaft im Allgemeinen, das Berufsleben sowie die Folgen all dieser Dinge: Überforderung, Depression, der Wunsch, auszubrechen bis hin zur völligen Entfremdung. Die Geschichten sind von unterschiedlicher Länge, mal nahezu fragmentarisch, mal sehr ausführlich. Mal ist die Handlung wirklich verstörend und bricht Tabus, mal geschieht kaum etwas.

Grundsätzlich lese ich gerne Erzählungen, wobei natürlich immer die Tatsache bestehen bleibt, dass sie nur einen kleinen Ausschnitt präsentieren. Über viele Szenarien im Buch hätte ich gerne mehr gewusst, den Ausgangs- oder Endpunkt gekannt. Wenn man diese Situation jedoch einfach als gegeben hinnimmt, warten herrlich skurrile Erzählungen aus einer frischen, weiblichen Perspektive, die mir deutlich besser gefallen als diejenigen Murakamis, in denen er doch oft nur um sich selbst kreist. Meine Favoriten: „Die Hunde“ und „Was raschelt im Stroh?“

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Veröffentlicht am 02.06.2021

Über die Macht der Erinnerung

Weiches Begräbnis
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Endlich hat Qinglin genug Geld verdient, um seiner Mutter ein Haus zu kaufen, die ihn nach dem frühen Tod des Vaters allein großziehen musste. Als Ding Zitao jedoch in der neuen Villa ankommt, verhält ...

Endlich hat Qinglin genug Geld verdient, um seiner Mutter ein Haus zu kaufen, die ihn nach dem frühen Tod des Vaters allein großziehen musste. Als Ding Zitao jedoch in der neuen Villa ankommt, verhält sie sich zunehmend seltsam. Sie spricht Sätze aus, an die sie sich später nicht erinnern kann, ganz so, als sei sie eine völlig andere Person und schließlich fällt sie ganz ins Wachkoma. Qinglin macht sich auf die Suche nach Hinweisen, um seine Mutter aus ihrem Zustand zurückzuholen und taucht dabei tief in ihre Vergangenheit, die seines Vaters und vieler anderer Menschen um ihn herum ein. Im Verlauf seiner Recherchen muss er sich jedoch fragen, ob Vergessen nicht manchmal auch ein Segen sein kann.

Die chinesische Schriftstellerin Fang Fang wurde für ihr 2016 erschienenes Buch „Weiches Begräbnis“ mit dem renommierten Literaturpreis Lu Yao ausgezeichnet. Da sie sich darin jedoch mit der Bodenreform ab 1948 beschäftigt, die Millionen von Menschen das Leben kostete, landete der Roman schnell auf dem Index, wie übrigens auch ihr neuestes Werk „Wuhan Diary“. „Weiches Begräbnis“ wird aus unterschiedlichen Perspektiven erzählt. Aus dem, was sich in Ding Zitaos Unterbewusstsein im Wachkoma abspielt sowie Tagebüchern ihres Ehemannes Dr. Wu und Gesprächen, die Qingli mit Überlebenden und ihren Nachkommen führt, beginnt sich nach und nach ein Bild zusammenzusetzen.

Als junge Frau wurde Ding Zitao schwer verletzt und ohne Erinnerung aus einem Fluss geborgen. Später heiratete sie ihren damaligen Arzt Dr. Wu und bekam mit ihm Sohn Qinglin. Was sich im Laufe der Handlung über die Vergangenheit offenbart, ist ungemein grausam und als Leserin versteht man sehr schnell, warum die Protagonistin sich so lange geradezu gegen das Erinnern stemmt. Denn der Ausdruck „weiches Begräbnis“ beschreibt nicht nur das Begrabenwerden ohne Sarg, in nackter Erde, sondern auch die sanfte, rettende Abschottung, die das Verdrängen den Überlebenden gewährt.

Wer Romane liebt, in denen sich am Ende immer alles wundersam auflöst, wird mit diesem nicht glücklich werden. Alle anderen erwartet ein wahres Meisterwerk über die Macht von Erinnerungen.

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Veröffentlicht am 30.05.2021

Japanische Mythologie meets Steampunk

Der Lotuskrieg 1
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Die 16-jährige Yukiko lebt allein mit ihrem Vater. Eines Tages erhalten die beiden den unmöglichen Auftrag des Shoguns, ihm einen Arashitora zu fangen – ein lang ausgestorbenes Mischwesen aus Adler und ...

Die 16-jährige Yukiko lebt allein mit ihrem Vater. Eines Tages erhalten die beiden den unmöglichen Auftrag des Shoguns, ihm einen Arashitora zu fangen – ein lang ausgestorbenes Mischwesen aus Adler und Tiger. Um ihren Herrscher nicht zu erzürnen, brechen sie auf und werden in einem gewaltigen Sturm tatsächlich fündig. Yukiko spürt sofort eine Verbindung, denn sie hat die Gabe, mit Tieren zu kommunizieren und ihren Geist mit ihnen zu verschmelzen. Und was sie von dem Arashitora Buuru lernt, soll ihr ganzes Leben über den Haufen werfen.

Grundsätzlich mag ich die Bücher von Jay Kristoff sehr, doch hier war ich vorsichtig, denn „Stormdancer“ ist der Auftakt zu seiner allerersten Trilogie. Und tatsächlich ist sie mit seinen späteren Werken nicht zu vergleichen. Die Handlung braucht sehr lange, bis sie in Schwung kommt, der Schreibstil ist repetitiv und manchmal unbeholfen. Einige Ausdrücke wirken schief und unpassend, was aber auch an der Übersetzung liegen mag. Erst als Yukiko auf Buuru trifft und durch seine Augen die Welt auf einmal anders sieht, beginnt der interessante Teil der Geschichte.

Mit Yukiko ist dem Autor immerhin eine vielschichtige Protagonistin gelungen. In ihrem jungen Alter hat sie bereits Mutter und Bruder verloren, das Verhältnis zum Vater und dessen Geliebter ist schwierig. Noch dazu ist das Überleben im Kaiserreich Shima nicht einfach, denn die Menschen haben durch jahrelangen Raubbau und Kriege das Land nahezu vernichtet, die Luft ist voll giftiger Gase. Somit ist der Roman eine Mischung aus japanischer Mythologie, Umweltdystopie und Steampunk-Abenteuer – vielleicht hätte der Autor sich hier besser auf ein Element fokussiert.

Die obligatorische Liebesgeschichte gibt es natürlich (leider) auch, im Zentrum steht jedoch ganz klar die Beziehung zwischen Yukiko und Buuru. Im Verlauf der Handlung nähern sich die beiden in Denken und Handeln immer mehr an – bis sie füreinander wie Bruder und Schwester sind. Das ist definitiv der zentrale Teil der Geschichte und tröstet über so manche Schwäche hinweg. Dennoch bin unsicher, ob ich der Trilogie noch weiter folgen möchte.

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Veröffentlicht am 26.05.2021

Großartige Fantasy

Das unsichtbare Leben der Addie LaRue
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Es ist der 29. Juli 1714. Im französischen Villon-sur-Sarthe ist die 23-jährige Addie LaRue auf der Flucht. Seit Jahren hat sie sich erfolgreich dagegen gewehrt, verheiratet zu werden, doch nun soll sie ...

Es ist der 29. Juli 1714. Im französischen Villon-sur-Sarthe ist die 23-jährige Addie LaRue auf der Flucht. Seit Jahren hat sie sich erfolgreich dagegen gewehrt, verheiratet zu werden, doch nun soll sie die Frau eines jungen Witwers im Dorf werden und sich um seine Kinder kümmern; ihre Eltern lassen ihr keine Wahl. Und so betet Addie zu den Göttern um Hilfe, ganz wie sie es von der Dorfheilerin Estele gelernt hat. Doch dann begeht sie einen Fehler und gerät dabei an den Teufel, der mit ihr einen Pakt schließt. Addie wünscht sich, nie jemandem zu gehören und gibt dafür ihre Seele, doch dieser Wunsch hat einen hohen Preis.

Die Handlung wird auf verschiedenen Zeitebenen und zumeist aus Addies Perspektive erzählt. Auf der einen Seite folgen wir der Protagonistin durch ihr Leben in der Vergangenheit, auf der anderen Seite steht die Begegnung mit Henry Strauss im Jahr 2014. Die Erzählweise ist eher ruhig und der Fokus klar auf Addies Innenleben. Ihr Pakt hat sich inzwischen als Fluch erwiesen, denn sie wird vergessen, sobald sie eine Tür durchschreitet. Jahrhunderte der Enttäuschung und Einsamkeit liegen hinter ihr. Amüsant sind hingegen die Anspielungen auf historische Persönlichkeiten, die wie Addie einen Pakt geschlossen haben. Die Sprache ist klangvoll, fast schon poetisch – große Abenteuer sucht man hier jedoch vergeblich.

In Henry trifft Addie zum ersten Mal jemanden, der sich an sie erinnern kann. Zwar ist es ihr bisher immerhin gelungen, Künstler zu einem Gemälde oder Song zu inspirieren, aber nun existiert jemand, der sich sogar ihren Namen merken kann. Doch Addies Glück ist nicht von langer Dauer, denn das Schicksal in der Gestalt ihres ganz persönlichen Teufels hat noch eine weitere Grausamkeit für sie auf Lager.

Ehrlich gesagt hatte ich von diesem Buch einfach nur nette Fantasy erwartet, aber es ist so viel mehr: vom mehrschichtigen Aufbau (7 Abschnitte für 7 Sommersprossen in Addies Gesicht, die ein Sternbild formen und 7 Kunstwerke inspirieren) über Addies großartigen Charakter, eine Reise durch die unterschiedlichsten Epochen und natürlich die Liebe – dieser Roman hat all das zu bieten!

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