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Meinungen aus der Lesejury

Veröffentlicht am 03.01.2024

80er in Rumänien und was seitdem geschah

Lichtungen
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Iris Wolff ist eine Meisterin der Erzählung und auch das neuste Werk ‚Lichtungen‘ reiht sich in die guten Bücher ein. Es geht um eine Freundschaft, um das Heranwachsen in Rumänien zur Zeit des Eisernen ...

Iris Wolff ist eine Meisterin der Erzählung und auch das neuste Werk ‚Lichtungen‘ reiht sich in die guten Bücher ein. Es geht um eine Freundschaft, um das Heranwachsen in Rumänien zur Zeit des Eisernen Vorhangs sowie das Gehen und Bleiben in unruhigen Zeiten.
Wieder ein Roman der in Siebenbürgen spielt, wo die Autorin selbst groß geworden ist und somit ein sehr reales selbst erlebtes Bild des Ceaușescu-Regime der 80er Jahre wiedergeben kann.
Der Clou an ‚Lichtungen‘ ist die Erzählweise. Rückwärts in 9 Kapiteln, beginnend mit Kapitel 9. Wir lernen Lev und Kato in der Gegenwart kenne und arbeiten uns mit ihnen in ihre Vergangenheit bis in ihre Kindheit in Siebenbürgen.
Es passiert viel und die unterschiedlichen Lebenswege erschließen sich mit all ihrem Ballast nach und nach. Lev, Sohn einer deutschstämmigen Mutter, die sich in einen Witwer verliebt und so auch Levs Zukunft in Rumänien und seiner Mangelwirtschaft verankert. Er lernt als Kind während einer langen Krankheitsphase Kato kennen, die später so schnell es ging Rumänien den Rücken kehrte und in den Westen ging. Wer bleibt und wer geht? Was macht es mit beiden Seiten? Wer leidet unter diesem Schritt und wer profitiert?
Mir hat dieser Roman äußerst gut gefallen. Da er nicht nur eine gute Geschichte erzählt, die tief in die einzelnen Charaktere eintauchen, sondern weil es ein Bild zeichnet einer Zeit und einem sozialistischen Umfeld das meiner Kindheit und Jugend sehr fern war. Ein gutes Stück Literatur, dass uns die Welt wie sie einst war näher bringt.

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Veröffentlicht am 02.01.2024

Kiew vor 100 Jahren mit tiefschwarzem Humor

Samson und das gestohlene Herz
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Was für ein Analytiker: Andrej Kurkow! Ich hatte die Gelegenheit während der Buchmesse bei einer Lesung im Rahmen von Open Books zu lauschen. Mich hat bereits der Roman ‚Graue Bienen‘ schon überzeugt und ...

Was für ein Analytiker: Andrej Kurkow! Ich hatte die Gelegenheit während der Buchmesse bei einer Lesung im Rahmen von Open Books zu lauschen. Mich hat bereits der Roman ‚Graue Bienen‘ schon überzeugt und nun wurde ich mächtig gut unterhalten von seiner Reihe um Samson. Bisher sind zwei Bände erschienen.
Für das Wissen um die Figuren ist es ratsam den ersten Band zu lesen: „Samson und Nadjeschda“. Wenn man diesen gelesen hat, wurden man nicht nur bestens unterhalten, sondern kennt auch den Rahmen und wie Samson in seiner Stellung landete verstanden.
Die Reihe spielt (bisher) während des Bürgerkrieges (1918-1921) in dem insgesamt 6 (!) verschiedene Gruppen gegeneinander vorgehen und die rote Armee der Sowjetunion hat, während die Reihe, spielt die Oberhand.
Nun gibt es wieder einen neuen Fall für Samson und seinen Kollegen Cholodnij bei der sowjetischen Polizei. Denn es wurde illegal Fleisch verkauft. Nach dem damaligen allerneusten Gesetzt, dürften die Ukrainer zwar Tiere halten, aber weder das Fleisch noch das Leder verkaufen. Außerdem erhält Samson einen neuen Kollegen, der Tschekist (KGB-Vorgänger) Abjasow, der nun auch seine Lauscher weit aufsperrt.
Kurkow schafft es die Absurditäten der Zeit und die verhängnisvolle Lage der Bevölkerung gut in Szene zu setzen um uns Außenstehenden zu vermitteln was damals los war. Jeder kämpfte ums Überleben. Natürlich lies er es sich nicht nehme auch ein Kuriosum einzubauen. Denn Samson hat sein rechtes abgeschlagenes Ohr in einer Schachtel. Das Ohr kann noch immer was Ohren und Samson nutzt das. Ein wenig Fantastik, aber das passt gut zu den anderen Absurditäten.
Ich habe viel über die Vergangenheit der Ukraine und der Sowjetunion gelernt und es ist fast traurig wie gegenwärtig dieser Machtkampf wirkt. Spannende Fakten sind eingesponnen, die es sich lohnt weiterzuverfolgen wie die Chinesen in der Roten Armee oder das Möbelgesetzt, weswegen jede Familie pro Person nur einen Stuhl hatte und einen weiteren für Gäste.
Ich freue mich schon auf Band 3 der Reihe um dem frisch vermählten Samson wieder zu folgen.

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Veröffentlicht am 02.01.2024

Für den erweiterten Blick in die Welt

Das Minarett in den Bergen – Porträt eines unvermuteten Europas
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Gerade in diesen Tagen, wo die politische Lage so angespannt ist und sich viele zurückziehen und sich nicht mehr öffentlich an Diskursen und echter Auseinandersetzung teilnehmen, finde ich es gerade wichtig ...

Gerade in diesen Tagen, wo die politische Lage so angespannt ist und sich viele zurückziehen und sich nicht mehr öffentlich an Diskursen und echter Auseinandersetzung teilnehmen, finde ich es gerade wichtig den Blick zu weiten und auch mal Bücher zur Hand zu nehmen, die eventuell sonst nicht so von Interesse wären. So verhält es sich mit dem recht speziellen Titel „Das Minarette in den Bergen“ von Tharik Hussain. Ein Buch, dass im englischsprachigen Raum eine gute und große Resonanz bekommen hat.
Tharik Hussain verbindet Reisen mit dem themenspezifischen Erkunden des Islams in der Gegend des westlichen Balkans – Bosnien-Herzegowina, Kosovo, Albanien, Serbien, Nordmazedonien und Montenegro. Er selbst lebt mit seiner Familie in Großbritannien und hat einen Sommerurlaub genutzt um das muslimische Europa zu erkunden wo einst auch das osmanische Reich seine Grenzen fand. Spannend wie alte Gebäude und heutige Begegnungen beschrieben werden. Klar, ist dies ein sehr subjektiver Reisebericht. Er bleibt nie lange an den Orten und die Abgrenzung ob nun religiös begründet oder einfach lokale Verhaltensweisen, ist nicht immer so eindeutig. Aber nimmt man das in Betracht, ist es eine schöne Erweiterung des Blickwinkels.
Ein wenig Toleranz in alle Richtungen tut heutzutage besonders gut.

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Veröffentlicht am 02.01.2024

Ein humanistischer Aufruf aus der literarischen Perspektive

Lese gefährlich
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„Leserinnen und Leser der Welt, vereinigt euch!“ (S. 284)
Azar Nafisi ist iranische Literaturprofessorin, die 1981 ein Unterrichtsverbot an der Universität Teheran bekam, weil sie sich weigerten einen ...

„Leserinnen und Leser der Welt, vereinigt euch!“ (S. 284)
Azar Nafisi ist iranische Literaturprofessorin, die 1981 ein Unterrichtsverbot an der Universität Teheran bekam, weil sie sich weigerten einen Schleier zu tragen. Seit 1997 lebt sie in den USA und ist weiterhin eine wichtige und laute Stimme des Widerstandes.
Sie wurde mit ihrem Buch „Lolita lesen in Teheran“ bekannt, in dem sie über ihren Lesekreis in Teheran schrieb in dem verbotenen westlichen Klassiker gelesen wurden. Dieses Buch kenne ich noch nicht. Aber diese Frau machte mich neugierig. Daher griff ich zu „Lese gefährlich“ in dem sie ihrem Baba, ihrem verstorbenen Vater Briefe schreibt über Romane, die er nicht mehr lesen konnte und stellt diese in den Kontext der aktuellen politischen Situation Ein kluger Kniff, macht sie damit schon auf das aufmerksam was Literatur besonders gut kann: Gedanklich eine grüne Wiese zu haben ohne in vorgegebenen Schubladen zu stecken und der Fantasie freien lauf lassen. In der Literatur ist selbst der Tod eine veränderbare Variable. Und das ist die subversive Kraft auf die im Untertitel angespielt wird. Das lösen von einfachen Denkmustern, das aufbrechen von gesetzten Glaubensätzen, die eine Welt in Gute und Böse teilt.
Nichts mehr fürchten totalitäre System als Menschen die Fantasie haben und Fragen stellen um den Status Quo zu überwinden. Wer weiterdenkt hat eben die Möglichkeit nicht nur eine Wahrheit anzuerkennen und das ist für Macht bedrohlich in eng gestrickten Systemen.
Das Buch ist leicht lesbar und bringt tolle Perspektiven auf verschiedenste Autor:innen die Azar Nafisi hier unter die Lupe nimmt. Es kommen viele Große der Weltliteratur vor: Salman Rushdie, David Grossman, Toni Morrison und viele andere.
Fazit: Seine Sie offen und lesen sie. Erweitern Sie ihren Horizont und nutzen Sie das gemeinsame Wissen um eine bessere Welt aktiv in der Gestaltung!

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Veröffentlicht am 02.01.2024

Komplex bis kompliziert – den Toten eine Stimme geben

Die sieben Monde des Maali Almeida
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Sri Lanka. Bisher waren meine Assoziationen dazu eher wenige. Daher habe ich mich sehr auf die Lektüre des Booker Prize Winners 2022 Shehan Karunatilaka gefreut mit dem kolossalen Werk ‚Die sieben Monde ...

Sri Lanka. Bisher waren meine Assoziationen dazu eher wenige. Daher habe ich mich sehr auf die Lektüre des Booker Prize Winners 2022 Shehan Karunatilaka gefreut mit dem kolossalen Werk ‚Die sieben Monde des Maali Almeida‘. Kolossal, weil das gute Stück mehr als 500 Seiten hat und für mich war es nicht immer einfach der Geschichte zu folgen. Dramaturgisch eine Herausforderung. Sicherlich lag es auch daran, dass ich mir viel vom Buch erhofft habe. Mich hat die Geschichte eingenommen, aber die Erzählform etwas aus der Bahn geworfen. Denn es geht um das Ende der 80er Jahre in Sri Lanka, eine Zeit des Bürgerkrieges und der Unruhen. Hier bin ich geschichtlich nicht sattelfest und die sich bekriegenden Seiten – zum einen die tamilische Minderheit und zum anderen die singalesische Mehrheit – sind so manches Mal für mich nicht zu identifizieren.
Maali Ameida ist tot und findet sich in der Wartehalle des Totenreichs wieder. Mit vielen anderen, auch sie alle tot. Allen ist etwas gemein, sie können noch nicht loslassen und haben 7 Tage Zeit. Danach verschwinden ihre Seelen. In all dem Chaos versucht nun der ermordete Maali Almeida herauszubekommen warum er sterben musste. Als Geist versteht sich. Er war ein schwuler Kriegsfotograf, spielsüchtig und oft zwischen den Fronten zu Hause.
Dieser Roman ist anstrengend zu lesen, kann abschrecken wegen der Schilderungen der Toten. Und doch ist es stimmig.Der Autor vermittelt genau das: Leben ist Chaos, weder stringent noch immer völlig logisch durchdrungen. Das Leben pulsiert und so tut es auch dieser Roman.
Fazit: Hier gibt es nur zwei Optionen: entweder der Text wird gehasst oder er saugt einen ein.

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