Actionreicher Cyberpunk aus Deutschland
Neon BirdsMan mag es angesichts des englischsprachigen Titels und der ebenfalls englischen Kapitelüberschriften kaum glauben, aber der Science-Fiction-Roman »Neon Birds« von Marie Graßhoff, erschienen 2019 als Originalausgabe ...
Man mag es angesichts des englischsprachigen Titels und der ebenfalls englischen Kapitelüberschriften kaum glauben, aber der Science-Fiction-Roman »Neon Birds« von Marie Graßhoff, erschienen 2019 als Originalausgabe im Lübbe-Verlag, stammt aus Deutschland. Er ist der Auftakt zu einer gleichnamigen Trilogie, deren zweiter Teil »Cyber Trips« bereits erhältlich ist und der dritte Band »Beta Hearts« im Herbst 2020 erscheinen soll. Die am ehesten dem Cyberpunk zuzuordnende Geschichte handelt von einer Welt, die durch eine außer Kontrolle geratene Nanotechnologie bedroht wird.
Im Jahr 2101 hat sich die Welt durch Umweltzerstörung, Überbevölkerung und Klimawandel geändert. Dreißig Jahre zuvor hat es einen zweiten Kalten Krieg gegeben, in dem eine nicht näher genannte Macht ihre Soldaten durch den Einsatz von injizierten lernfähige Nanocomputern, KAMI genannt, aufrüsten wollte. Das Experiment schlug fehl: Die Betroffenen werden zwar nicht nur physisch übermenschlich stark und hyperintelligent, sondern verlieren auch ihre Emotionen, Individualität und entziehen sich jeglicher Kontrolle. Sie werden zu sogenannten Moja, einer Art mordender Cyborgzombies. Gleichzeitig entwickelt sich KAMI ständig selbständig weiter, kann sich reproduzieren und wie ein Virus mithilfe von Vögeln weltweit verbreiten. Um diese Technoinfektion einzudämmen, müssen ganze Landstriche unter Quarantäne gestellt werden. Sondereinheit bekämpfen rücksichtslos die Infizierten innerhalb und außerhalb der hermetisch abgeriegelten Sperrgebiete. Gleichzeitig ermöglichte diese Krise, die Welt nach einem Militärputsch in einer Art Diktatur zu vereinen. Der Roman folgt vier unterschiedlichen jungen Erwachsenen, die – ausgelöst durch einen Zwischenfall an einer der Sperrzonen – einem Geheimnis auf die Spur kommen.
Als Leser wird man zu Beginn ohne Einleitung in die actionreiche Geschichte geworfen. Sie beginnt mit einem Ausbruch der Moja aus einer Enklave in Nordchina und dessen Niederschlagung durch militärische Eliteeinheiten. Erst nach und nach werden Zusammenhänge und Begriffe, teils in Form von in die Handlung eingestreuten Datenblättern oder Aktennotizen erklärt. Dabei wechselt die Perspektive ständig zwischen den vier Hauptpersonen, deren Innenleben einen großen Raum einnimmt. Da ist zum einen der zum Cyborg aufgerüstete, ehemalige Supersoldat Okijen Van Dire, der des Kämpfens müde ist und mehr oder wenig widerwillig reaktiviert wird. Ferner der Student und Geheimagent Flover Nakamura, der seine Karriere nur verfolgt, um seiner mächtigen Mutter zu gefallen. Sein Freund und Kommilitone Luke Bible, der ein Geheimnis hat. Und schließlich Andra Yun, die einer Gruppe angehört, die fernab der Zivilisation ein naturverbundenes, freies Leben führt. Die Figuren werden anschaulich und sympathisch geschildert. Das Worldbuilding ist schlüssig und bietet ausreichend Sense of Wonder. Nach dem rasanten Beginn folgt ein ruhigerer Mittelteil, in dem die Personen näher vorgestellt werden und der Konflikt herausgearbeitet wird, wobei es der Autorin gelingt, die Spannung aufrecht zu erhalten. Am Ende nimmt der Roman dann wieder Fahrt auf und liefert einen überraschenden Cliffhanger.
»Neon Birds« ist ein höchst unterhaltsamer, fesselnder Roman mit kritischen Untertönen. Der Schreibstil ist flüssig und modern, wobei man sich fragt, ob wirklich sämtliche Anglizismen zwingend erforderlich waren. Andererseits dominieren diese auch heute unsere Alltagssprache, speziell wenn es um Technologie und dergleichen geht, so dass es nicht als störend oder künstlich empfunden wird. (Einen Widerspruch gibt es: Obwohl Englisch die Umgangssprache in der Romanwelt zu sein scheint, wird an einer Stelle von Siezen gesprochen, ohne dass es diese Anredeform im Englischen gibt. Das hätte spätestens dem Lektorat auffallen sollen.) Die Hauptpersonen haben höhere Positionen und agieren teils reifer, als man es in Anbetracht ihres Alters – sie sind sämtlich zwischen 18 und 21 Jahren alt – erwartet hätte. Dies ist jedoch dem Umstand geschuldet, dass eine Generation Menschen im Krieg gegen KAMI zu großen Teils gestorben ist und die jetzige, die zu diesem Zeitpunkt noch Kinder waren, überlebt haben und gezwungen war, früh erwachsen zu werden.
Es bleibt zu hoffen, dass die Fortsetzung sowohl inhaltlich als auch erzählerisch das Niveau halten kann und kein schwächerer Mittelband wird, der nur zum Finale überleitet.