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Meinungen aus der Lesejury

Veröffentlicht am 18.02.2024

Ein Einblick in eine verborgene Welt

Sex-Workers
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In letzter Zeit habe ich mehr und mehr Lust auf Bildbände, und wie die meisten habe ich mir auch diesen hier antiquarisch besorgt.
Tim Oehler hat für ein Fotoprojekt Sexarbeitende besucht. Sexarbeiter:innen, ...

In letzter Zeit habe ich mehr und mehr Lust auf Bildbände, und wie die meisten habe ich mir auch diesen hier antiquarisch besorgt.
Tim Oehler hat für ein Fotoprojekt Sexarbeitende besucht. Sexarbeiter:innen, Stripper:innen, Masseur:innen, Frauen wie Männer und Transpersonen. Jede:n von ihnen lässt er mit einem Portrait und Text/Gedanken zu Wort kommen. Sowohl an ihrem Arbeitsplatz in Bordellen, BDSM-Studios, Massagestudios, Laufhäusern oder Stripclubs als auch in ihren Freizeithabitaten hat er Fotos mit ihnen gemacht und in diesem Bildband vereint. Kontraste, die größer nicht sein könnten und doch zusammen gehören wie jeder Feierabend zur berufstätigen Person. Und zeigt damit, dass Sexarbeit auch Arbeit ist. Care-Arbeit auf einem anderen Level.

Der Bildband ist wunderschön gestaltet, das fängt bereits im Außen an. Eingebunden in lilafarbenen Samt will ich beim Betrachten und Lesen das Buch gar nicht aus der Hand legen. Das Konzept Oehlers gefällt mir unglaublich gut. Auf einer Doppelseits jeweils Gedanken/Text und Portraits einer Person nebeneinander. Die Porträts immer im gleichen Stil; dunkler Hintergrund, die Person beleuchtet in Lila- und Pinktönen. Auf den Folgeseiten die jeweilige Person in ihren Arbeitsräumen. Dann die Person in ihren privaten Umfeldern, bunt wie das Leben selbst. Die Gedanken der vorgestellten Personen sind vielfältig, doch eins eint sie; der Wunsch, nicht mehr stigmatisiert und ihre gewählte Arbeit nicht tabuisiert zu werden.

Ich stelle demnächst gerne noch andere Bildbände vor, in die ich in der letzten Zeit hineingeblättert habe!

Veröffentlicht am 18.02.2024

Ein kleines bisschen Dystopie

Ziemlich zappenduster
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Lisas Familie erlebt natürlich genau dann den Stromausfall des Jahrhunderts, als Lisas Vater mit einkaufen dran war. Mit den väterlichen Einkaufskünsten sitzt die Familie nun mit lediglich zwei Flaschen ...

Lisas Familie erlebt natürlich genau dann den Stromausfall des Jahrhunderts, als Lisas Vater mit einkaufen dran war. Mit den väterlichen Einkaufskünsten sitzt die Familie nun mit lediglich zwei Flaschen Mineralwasser zu Hause und wartet darauf, dass der Strom wieder anspringt. Für Lisas Bruder ist der Blackout besonders schwer zu ertragen, denn natürlich funktioniert weder das Internet noch kann er mit seinem Smartphone Videos für seinen YouTube-Kanal drehen. Während Lisas Vater seiner typischen Mal-schauen-was-kommt-Art glaubt, dass sich der Strom schon bald wieder einschalten wird, erkennt ihre Mutter die Gefahr einer aufkommenden Panik in der Bevölkerung, in der keiner mehr sicher ist. Und tatsächlich tauchen bald Plünderer auf, gegen die sich die Familien des Mehrfamilienhauses wehren müssen.

Das Fazit, das dieses Buch hinterlässt: Bereite dich vor. Lisas Papa ist ein Meister der Verdrängung, schwankt von der Zuversicht, dass die Regierung den Stromausfall schon bald behoben haben wird, zwischen Schuldzuweisungen, wer dafür verantwortlich ist und Verzweiflung darüber, eben nicht im Mindesten vorbereitet zu sein. In dem Chaos aus fehlender Heizung, fehlendem Wasser und kaum Nahrungsmitteln bewahrt Lisa sich nicht nur Zuversicht, sondern hält vor allem Ausschau danach, wer Hilfe braucht und von wem man welche erhalten kann.

Veröffentlicht am 18.02.2024

Escape-Game next Level

Die Burg
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Die Burg. Ein Escape-Game next Level. Denn die Burg ist ein nie dagewesenes KI-Spektakel. Eine mittelalterliche Burg, ausgekleidet mit Monitoren, auf denen die künstliche Intelligenz ihr Szenario ablaufen ...

Die Burg. Ein Escape-Game next Level. Denn die Burg ist ein nie dagewesenes KI-Spektakel. Eine mittelalterliche Burg, ausgekleidet mit Monitoren, auf denen die künstliche Intelligenz ihr Szenario ablaufen lassen. Das Konzept der Burg wirkt zunächst wie die Nachmittagsbeschäftigung eines Dreijährigen, der stundenlang gebannt auf den Fernsehbildschirm guckt und sich von seinem Cartoon nicht losreißen kann. Wenn die KI aus den eingegebenen Vorgaben und den dunkelsten Geheimnissen ihrer Spieler:innen deren persönlichen Horrorfilm gestaltet, dann bleibt am Spaß vom Spiel nur noch der Drang zur Flucht.

Genau das passiert Maxim Ascher, der mit einer Gruppe von Mitspieler:innen zu einem Testspiel vor der offiziellen Eröffnung gegen eine großzügige Gage eingeladen wird. Erfinder der Burg, Nevio, lädt nebst Maxim noch vier bunt zusammengewürfelte Leute ein, die am Testlauf teilnehmen sollen. Maxim, der einige brilliante Escape-Rooms betreibt, ahnt bereits nach einer kleinen Kostprobe in den Räumen der künstlichen Intelligenz, dass dieses Projekt das Grab seines eigenen Lebenswerks bedeuten wird.
Was als letzter Test startet, wird in den weitläufigen Verliesen und Kellern der Burg zu einem individuell zugeschnittenen Horrortrip für alle aus der Gruppe, denn die KI beschließt, ein ganz eigenes Spiel zu starten, in dem nur ihre Regeln gelten. Denn das Computersystem herrscht über alle technischen Ausstattungen der Burg mitsamt dem Kommunikationssystem, Klima- und Heizungssystem und Schließmechanismen.

Eigentlich sind es ja nur Keller mit Monitoren, in denen Poznanski ihren aktuellen Thriller spielen lässt. Wenn aber eine Computerintelligenz darüber entscheidet, wann sie wen heraus- oder Räume weiterlaufen lässt, welche Bilder sie zeigt, ob sie einen schwitzen oder frieren lässt, ist weggucken keine Option - dann muss das Rätsel der KI gelöst werden, bevor Erschöpfung, Dehydrierung und Schlimmeres Tribut fordern.
Ich freue mich, mal wieder etwas sehr Spannendes von Ursula Poznanski gelesen zu haben!

Veröffentlicht am 18.02.2024

Eine besondere Ausdrucksform

fancy immigrantin
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Fancy Immigrantin. Was ist eine Fancy Immigrantin? Hatice Açıkgöz unterscheidet zwischen Fancies, Menschen mit Migrationshintergrund; und Basics, der (weißen) Dominanzgesellschaft angehörig, manche davon ...

Fancy Immigrantin. Was ist eine Fancy Immigrantin? Hatice Açıkgöz unterscheidet zwischen Fancies, Menschen mit Migrationshintergrund; und Basics, der (weißen) Dominanzgesellschaft angehörig, manche davon fähig zu lernen (auch von diesem Buch), andere (wie die AfDoofies) eher nicht.
Açıkgöz Tagebuch liest sich nur insofern chronologisch, als dass sie darin prägende Ereignisse/Erlebnisse/Erfahrungen aus ihrem Leben aufgereiht hat. Deutsche Kulturübernahme à la Wallah, Bodyshaming, Hanau, unterstellte Identitätsdefizite aus der eigenen Community, Halle. Aus einer mehrfachen Marginalisierung heraus schreibt sie dieses poetische Tagebuch, das sie – anders als ihre anderen Werke – politisch verstanden wissen möchte.
Nicht nur ein poetisches, nicht nur ein politisches, sondern auch ein persönliches Tagebuch, dessen letzte Seite beim Zuklappen aussieht, als würde sie mir winken und viel Glück wünschen dabei, über das Gelesene nachzudenken.

Veröffentlicht am 18.02.2024

Traum und Welt, Phantasie und Realität

Die Stadt und ihre ungewisse Mauer
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Bei einem Schreibwettbewerb lernt der Protagonist ein Mädchen kennen. Mit diesem hält er auch nach dem Wettbewerb Briefkontakt, Briefe, in denen sie ihm offenbart, dass ihr wahres Ich in einer ummauerten ...

Bei einem Schreibwettbewerb lernt der Protagonist ein Mädchen kennen. Mit diesem hält er auch nach dem Wettbewerb Briefkontakt, Briefe, in denen sie ihm offenbart, dass ihr wahres Ich in einer ummauerten Stadt lebt, in der es eine Bibliothek mit alten Träumen gibt, und sie nur ein Schatten ihres Ichs in der Stadt ist. Er verliebt sich in das Mädchen, erwartet sehnsüchtig ihre Briefe. Die beiden treffen sich sogar ein Mal, doch bald darauf erhält er keine Briefe mehr von ihr. Seines Kontakts mit ihr beraubt, macht sich der Junge auf in die Stadt, an deren Mauer er seinen Schatten zurücklassen muss. In der Bibliothek trifft er sie wieder, doch sie erinnert sich nicht an ihn und es ist, als seien sie einander nie begegnet. Ohne die frühere Verbindung kommt ihm die Gesellschaft des Mädchens seltsam substanzlos vor, obwohl er gerne in ihrer Nähe ist. Das Mitleid mit seinem Schatten, der ohne ihn zu sterben droht, veranlasst ihn dazu in seine Welt zurückzukehren und das Mädchen in der ummauerten Stadt zurückzulassen.
Daraufhin führt er ein durchschnittliches Leben ohne große Höhen und Tiefen. Die Liebschaften, die er über die Jahre hat, erreichen sein Herz nie im selben Maße wie das Mädchen, das er mit 17 kannte. Seinem Beruf als Buchhändler in der Stadt kehrt er den Rücken, um abgeschieden in den Bergen eine kleine Bücherei zu leiten. Dort hofft er, der ummauerten Stadt mit seiner Bibliothek und dem Mädchen darin wieder nahe kommen zu können.

Traum und Welt, Phantasie und Realität vermischen sich in diesem typisch surrealen Roman von Murakami. Der Raum zwischen den Seiten ist von einer stets präsenten Einsamkeit erfüllt, der Suche des Protagonisten nach etwas lange Verlorenem. Dabei fließt die Geschichte leise, gemächlich und höchst atmosphärisch wie ein Bach vorüber.
Im Nachwort erläutert Murakami-san, dass er mit "Die Stadt und ihre ungewisse Mauer" gleichsam ebenfalls zurückkehren wollte, die an das 1985 erschienene "Hard-boiled Wonderland und das Ende der Welt" knüpft. Murakami wird zum Gleichnis seines Protagonisten und hat mit dem Rekurs ein philosophisches Kunststück vollbracht.