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Meinungen aus der Lesejury

Veröffentlicht am 27.02.2023

Kein gutes Blitzgewitter

Berlin Alexanderplatz
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Döblins „Berlin Alexanderplatz“ gehört zu einer der wenigen Lektüren, die ich vorzeitig beendet habe. Ich weiß, das Werk wird als wichtig angesehen und zeichnet eine Großstadt- und damit Gesellschaftskritik ...

Döblins „Berlin Alexanderplatz“ gehört zu einer der wenigen Lektüren, die ich vorzeitig beendet habe. Ich weiß, das Werk wird als wichtig angesehen und zeichnet eine Großstadt- und damit Gesellschaftskritik der Weimarer Jahre, aber mich hat der ganze Stil und die Montagetechnik sehr unruhig gemacht und einen wirklichen Lesefluss nicht ermöglicht. Die Gedanken des Franz Biberkopf, aus dessen Sicht der Roman geschrieben ist, springen innerhalb von Sekunden hierhin und dorthin und sorgen für eine literarische Reizüberflutung, die wohl zwar den reellen Reizüberfluss nachstellen soll, mich jedoch ständig verwirrt hat.

Auf das Buch muss man sich einlassen können und längere Leseepisoden ermöglichen können. Ich habe etwa auf der Hälfte bei Seite 200 aufgegeben. Vielleicht probiere ich es irgendwann nochmal mit diesem Buch. Für Pendler-Leser, die sich 20 Minuten in Bus oder Bahn setzen, ist es absolut nichts.

Veröffentlicht am 27.02.2023

Weibliche Satire der 1920er Jahre

Das kunstseidene Mädchen
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„Das kunstseidene Mädchen“, das ist Doris; jung, lebenshungrig, und ihr steht die Welt offen, meint sie, nachdem sie ihre Stelle im ihr provinziell anmutenden Köln im Büro kündigt, nachdem ihr Chef ihr ...

„Das kunstseidene Mädchen“, das ist Doris; jung, lebenshungrig, und ihr steht die Welt offen, meint sie, nachdem sie ihre Stelle im ihr provinziell anmutenden Köln im Büro kündigt, nachdem ihr Chef ihr sexuelle Avancen angetragen hat. Doris möchte aber nicht das Liebchen eines alten Knackers sein, sondern sich ihre Liebschaften selbst aussuchen. Und vor allem eins: Ein Glanz sein und als Star gefeiert werden.
Durch ihre Mutter erhält sie eine Stelle in einem Theater, und durch die Flunkerei, sie hätte ein Verhältnis mit dem Regisseur, wird ihr ein wenig Respekt der Theatergruppe zuteil. Einen Auftritt ergattert sie sich dadurch, dass sie eine Konkurrentin im Theater auf der Toilette einsperrt und fortan ihren Satz sprechen darf. Dass sich ihre Daseinsberechtigung im Theater einzig auf die Annahme stützt, sie sei dem Regisseur nahe, ist sich Doris im klaren darüber, dass ihre Zeit dort begrenzt ist. Als sich dann ihre verflossene Liebe Hubert ausgerechnet an dem Tag für ein Treffen ankündigt, als sie nur in einem nicht vorzeigbaren Regenmantel im Theater ist, stiehlt sie kurzerhand einen Pelzmantel, den Feh, der sie ab sofort immer begleiten wird, und trifft sich mit Hubert. Die Zusammenkunft der beiden ist ernüchternd, und da sich Doris mit dem Diebstahl die Rückkehr ins Theater verbaut hat, entscheidet sie sich nach Berlin zu gehen, das für sie der Inbegriff eines aufregenden Lebens und ihre größte Chance ein Glanz zu werden, darstellt.

In Berlin wohnt sie zunächst bei einer Bekannten, und durch ihre offene und laszive Art ergeben sich auch dort schnell erste Kontakte zu Männern, die Doris aber leider nie dorthin führen, wo sie hin will. Sie kann die Männer sehr gut einschätzen und durchschauen, und dies kommentiert sie oftmals so, dass es dem Leser etwas zwischen einem Grinsen und einem lauten Lachen entlockt. Als Beispiel:“Er hätte auch Geist. Und Grundsätze: Männer dürfen und Frauen dürfen nicht. Nun frage ich mich nur, wie Männer ihr Dürfen ausleben können ohne Frauen? Idiot.“ Trotz dieser Raffinesse in Sachen Männer fehlt es ihr an wirklicher Bildung, sie kommt über die Wahrnehmung als junges, liebenswertes Dummchen mit viel Erotik nicht hinaus. Weil Doris in Berlin nicht arbeiten kann, da sie fürchten mus bei einer Anmeldung von der Polizei für den gestohlenen Feh zur Verantwortung gezogen zu werden, ist sie immer auf Hilfe von außen angewiesen. Sie lebt erst bei einer Bekannten, freundet sich mit einer Prostituierten an, hat wechselnde Männerbekanntschaften und verliert irgendwann das Dach überm Kopf und ist obdachlos. Die Annäherungen Karls, der obdachlos ist und in einer Gartenlaube wohnt, lehnt sie in ihrem restlichen Stolz ab. Da wird sie von Ernst aufgelesen, der die müde und unterernährte Doris mit zu sich nach Hause nimmt. In der Nacht und den ersten Tagen vermutet Doris einen Perversen, der sich an ihr vergehen will, aber Ernst macht keine Anstalten ihr sexuell näher zu kommen, obgleich er sich Doris ansonsten nahe fühlt. Es stellt sich heraus, dass er seiner einstigen Liebe nachtrauert und schlicht nicht alleine sein will. Doris, die sich bietende Situation erst zu ihren Vorteilen nutzend, überwindet ihre anfängliche Abneigung gegen ihn, den sie erst als Waschlappen wahrnimmt, und entwickelt irgendwann Gefühle für Ernst, die jedoch nicht erwidert werden. Durch einen Umstand wird ihr klar, dass sie Ernst nie komplett für sich gewinnen können wird. Sie hat für sich aber gelernt, dass es keinen Glanz braucht, um sich gut und geliebt zu fühlen. Sie ergreift ihre letzte Chance nach Karl, der sie doch früher schon gewollt hat, und macht sich auf die Suche nach ihm.

Der Roman verwendet eine sehr anschauliche und blumige Sprache. Ernst beispielsweise betitelt sie als ihr Grünes Moos, weil er eine Stimme hat, die sie an ein solches erinnert. Irmgard Keuns Wortschaffungen sind aber immer aufschlussreich und erzeugen in ihrem Leser ein unverwechselbares Bild. Keun hat mit Doris einen komplizierten Charakter geschaffen, da sie in Männerdingen so bewandert zu sein scheint, in tieferer Ebene die Männer jedoch nicht für sich halten kann. Ihre Gewitztheit, so bewundernswert sie auch scheint, ist letzten Endes eine Bauernschläue, die vor wirklicher Bildung nicht standhalten kann. Es ist eben nur Kunstseide, keine echte Seide.

Zur Ausstattung des Ullstein-Hardcovers möchte ich gerne noch anmerken, dass es ein wunderschönes Bändchen ist. Das Format ist in der Länge kleiner als eine ausgestreckte Hand und fand daher sogar in meiner Jackentasche platz. Das schwarz-weiße Cover entfaltet seine ganze reizende Wirkung erst mit dem pinkfarbenen Schriftzug. Die Ausstattung beinhaltet ein Lesebändchen in tiefrosa, ebenso ist das Kapitalband in derselben Farbe gehalten. Es handelt sich hierbei wirklich um eine schicke kleine Ausgabe!

Veröffentlicht am 27.02.2023

Gänsehaut

Der Mitternachtspalast
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Nachdem uns ein noch unbekannter Erzähler im Buch begrüßt, werden wir mitten in die Geschichte geworfen: Ein Mann läuft rastlos durch das abendliche Kalkutta und versucht den Verfolgern zu entkommen, denen ...

Nachdem uns ein noch unbekannter Erzähler im Buch begrüßt, werden wir mitten in die Geschichte geworfen: Ein Mann läuft rastlos durch das abendliche Kalkutta und versucht den Verfolgern zu entkommen, denen er zwei Säuglinge entrissen hat, um sie in Sicherheit zu bringen. Ein Fluch in menschlicher Gestalt ist hinter den Kindern her, und der Mann schafft es gerade rechtzeitig, die beiden in Sicherheit zu bringen, doch der Fluch wartet nur darauf sich zu passender Gelegenheit entfalten zu können.

Sechzehn Jahre später begegnen wir einem der beiden Kinder erneut und werden mit seinem bisherigen Leben im Waisenhaus vertraut gemacht. Wir lernen seine Freunde kennen, die eine kleine Geheimgesellschaft gegründet haben, die "Chowbar Society". Musketierisch mit „Einer für alle und alle für einen“ lässt sich die Freundschaft der Kinder am besten beschreiben. Wir begegnen der Gesellschaft dieser Kinder zu einem denkwürdigen Ereignis: Traditionell mit sechzehn Jahren werden Waisenkinder als Erwachsene in die Welt entlassen. Die Mitglieder der Chowbar Society wissen, dass sich in wenigen Tagen ihre Wege trennen werden. Doch die Ereignisse wollen es, dass die Gruppe der Kinder sich auf eine letzte gespenstische Jagd durch das geheimnisvolle Kalkutta zusammentut. Gemeinsam begeben sie sich auf eine phantastische und bisweilen gänsehautbereitende Reise, um Kalkutta von seinem tragischsten Fluch zu befreien.

So richtig Fantasy ist es nicht, aber rein Roman auch nicht. Carlos Ruiz Zafón hat mit „Der Mitternachtspalast“ eine nebulöse Gruselgeschichte geschaffen, die mich sehr in ihren Bann gezogen hat. Ganz so gruselig ist sie allerdings nicht.
Die Orte, welche sich durch Zafóns Worte enthüllen, sind prunkvoll auch in ihrem Verfall. Den Mitternachtspalast, den Bahnhof und das Anwesen des Ingenieurs hat der Autor so schön gezeichnet, dass meine Vorstellung den kraftvollen Worten nur folgen musste. Einen Kritikpunkt habe ich allerdings: Auch, wenn das Ende nicht gänzlich vorhersehbar ist, fand ich den bösen Verfolger doch recht einseitig. So sehr mich die Geschichte auch gefesselt hat, fand ich die Auftritte dieser dunklen Figur zu wenig bedrohlich. Der Bösewicht kommt nicht gut an, der seine Pläne in epischer Breite vor seinen Widersachern ausbreitet, seinen Worten aber nicht die Taten folgen lässt, die seiner Macht Wahrheit zollen. Nichts desto trotz eine wunderbare Geschichte!

Veröffentlicht am 27.02.2023

Eine leise Erinnerung

Damals in Nagasaki
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Etsuko ist die Protagonistin von Kazuo Ishiguros Werk „Damals in Nagasaki“. Sie hat Japan hinter sich gelassen, um in England mit ihrer Tochter Keiko zu leben.
In Erinnerungsepisoden kehrt die stille Etsuko ...

Etsuko ist die Protagonistin von Kazuo Ishiguros Werk „Damals in Nagasaki“. Sie hat Japan hinter sich gelassen, um in England mit ihrer Tochter Keiko zu leben.
In Erinnerungsepisoden kehrt die stille Etsuko in ihre Vergangenheit in Japan zurück, als sie mit ihrer Tochter schwanger war. Diese Episoden erzählt sie ihrer Zweitgeborenen, Niki. In diesen Episoden erinnert sie sich an eine Freundin, die sie einige Wochen/Monate in Japan hatte. Sachiko lebte in einer Hütte nahe der neu gebauten Häuser, die im zerstörten Nagasaki aufgebaut wurden. Die eigentümliche Freundin befindet sich dauerhaft in einem Zustand des Wartens, sie will Nagasaki und Japan hinter sich lassen und setzt auf das Versprechen ihres amerikanischen Liebhabers, sie und ihre Tochter nach Amerika mitzunehmen. In ihrem Sehnen nach Veränderung vernachlässigt sie ihre Tochter Mariko, deren Verhalten traumatisch geprägt zu sein scheint. Bisweilen geht Sachiko auch offen gegen die Wünsche von Mariko vor.

Sachiko, die sich für die andere Kultur öffnet und begierig danach sehnt, steht Etsukos Schwiegervater entgegen, der den Werteverfall durch die teilweise Amerikanisierung seiner Heimat Japan kritisiert. Er stellt eine prägnante männliche Figur dar, den Etsukos Mann wird zumeist abwesend gezeichnet, der wichtigen beruflichen Verpflichtungen nachkommt und weder Zeit für seine Frau noch seinen Vater hat, mit dem ihn ein versteckter Konflikt in der Hauptsache zu verbinden scheint und dem er daher oft mit Abweisung begegnet.

Warum Etsuko Japan verlassen hat und was mit ihrem ersten Mann geschehen ist, löst die Geschichte nicht auf. Ebenso wenig, was der Grund war, warum Keiko sich das Leben genommen hat.
Der Schreibstil von Ishiguros Werk lässt die Sprache eher zum Mittel werden als die Handlung selbst. Es ist eine stille und häufig nicht wertende Erzählweise. Die Geschichte ist nicht ereignislos, doch die Abwesenheit klarer Auflösungen rückt für mich als Stilmittel ganz klar in den Vordergrund. Der Leser wird angeregt seine eigenen Antworten zu finden, seine eigenen Hintergründe der Geschichte zu erdenken.
Ich hatte den Eindruck, dass die Geschichte in der Geschichte eine ganz eigene Geschichte erzählt; mir drängte sich der Eindruck auf, dass die Freundschaft zwischen Sachiko und Etsuko ein Gebilde sein könne, dass sich letztere erdacht hat. Mir schien das eigenwillige Verhalten von Sachikos Tochter Mariko und Etsukos Tochter Keiko wie eine nicht zu unterschätzende Parallele.
Insgesamt empfand ich einen Lesegenuss bei diesem Buch ähnlich wie bei Yoko Ogawas Werken, wobei Ishiguro seine englischen Einflüsse aber anzumerken sind.

Veröffentlicht am 27.02.2023

Für Sunny konnte ich mich nicht erwärmen...

Sunny
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"Sunny" ist der dritte Band von Jason Reynolds Reihe um eine jugendliche Laufmannschaft.
Ich hatte Gelegenheit in diesen Band bis etwa zur Hälfte hineinzulesen, was innerhalb kurzer Zeit (vielleicht zwei ...

"Sunny" ist der dritte Band von Jason Reynolds Reihe um eine jugendliche Laufmannschaft.
Ich hatte Gelegenheit in diesen Band bis etwa zur Hälfte hineinzulesen, was innerhalb kurzer Zeit (vielleicht zwei Stunden) zu schaffen ist, denn "Sunny" ist in Tagebuchform vom Protagonisten geschrieben. Dadurch fehlt dem Buch nach meinem Geschmack auch etwas Tiefe, denn wie Sunny sein Tagebuch mit Leben füllt, wirkte auf mich von den ersten Seiten an ziemlich künstlich. Über jeden der Läufer um Ghost weiß man durch den ersten Band ein wenig, so ist dem Leser, sofern er sich noch daran erinnert, bekannt, dass Sunny nicht aus eigenem Engagement läuft, sondern vielmehr den Wunsch seines Vaters erfüllen will. Sunny ist nämlich Halbwaise, seine Mutter selbst war Läuferin, und Sunny wird von seinem Vater dahingehend genötigt, das Vermächtnis der Mutter aufrecht zu erhalten. Allerdings läuft Sunny überhaupt nicht gerne und boykottiert ein wichtiges Rennen, was seinen Vater sehr verärgert. Auch der Trainer ist verärgert, dieser bemüht sich jedoch um eine Lösung für Sunny, welcher der Laufmannschaft nicht mehr angehören möchte, aber gerne weiter zum Team gehören würde. Seine Musik- und Tanzleidenschaft hat Sunny von seiner Tante, die gleichzeitig sein Hauslehrer ist, und als er dem Trainer einen kleinen Tanz vorführt, schlägt er vor, dass Sunny fortan Diskuswerfen sollte. An dieser Stelle muss ich sagen, dass mein Sportverständnis dem eines Regenwurms gleicht, aber ich kann mir kaum vorstellen, dass jemand, der leidenschaftlich gerne tanzt, sich fürs Diskuswerfen begeistern kann. Irgendwann ab dieser Stelle hatte ich dann keine Gelegenheit mehr das Buch zu beenden, was ich einerseits schade finde (da es mein Anspruch ist begonnene Bücher auch zu beenden), andererseits lag für mich im Lesen dieser Lektüre bis zu diesem Zeitpunkt auch kein Reiz darin. Eigentlich schade, denn Jason Reynolds hat mit den ersten Bänden eine lesenswerte Reihe begonnen, die dieser Titel leider ein wenig eingerissen hat.