Düsterer Roman mit geschichtlichem Hintergrund
Die TotenEine real überlieferte Videoaufzeichnung eines rituellen Suizids bildet die Ausgangslage von Christian Krachts neuem Roman die Toten. Menschliches Grauen ist zentral für das Thema des Textes, genauso wie ...
Eine real überlieferte Videoaufzeichnung eines rituellen Suizids bildet die Ausgangslage von Christian Krachts neuem Roman die Toten. Menschliches Grauen ist zentral für das Thema des Textes, genauso wie die mediale Verarbeitung desselben und nicht vergessen sollte man auch „den Glauben an das Unechte“.
Der Schweizer Regisseur Emil Nägeli ist eine Art One-Hit-Wonder der Filmbranche, verdankt er doch seinen internationalen Ruhm einem einzigen Meisterwerk. Bemüht um ein neues Projekt zieht es ihn zunächst nach Berlin, wo ihm unter anderem „Schrumpfgermane“ Heinz Rühmann sowie Hitler-Freund und NS-Finanzier „Putzi“ Hanfstaengel über den Weg laufen, er sich aber auch mit den Flimkritikern Siegfried Kracauer und Lotte Eisner befreundet. Vom UFA-Boss und Nazi Alfred Hugenberg erhält er das Kapital um eine Komödie zu drehen, eine Idee, die zum japanischen Gruselfilm mutiert, bevor das Projekt schliesslich ganz versandet. Auslöser dazu ist der bereits in Kinderjahren als Genie erkannte hohe japanische Misteriumsbeamte Masahiko Amakasu, der fanatisch nach Regisseuren aus dem ‚germanischen Kulturraum‘ rekrutiert, um die japanische Filmbranche auf ein internationales Level zu bringen.
In Krachts letztem Roman Imperium entwickelte sich lediglich der historische Kokovorismussektierer und Südseespinner August Engelhardt allmählich zum ‚Nagelkauer‘ bis hin zur Autophagie. In Die Toten greift dieses ‚Virus‘ nun weiter um sich, so dass so gut wie alle zentralen Figuren dazu neigen, sich die Fingerkuppen wund zu beissen. Das alles bleibt im Romangefüge letztlich psychologisch ‚unmotiviert‘. Eventuell liesse sich dieses Verhalten auf die Todesthematik zurückführen. Der durch das Nagen an den Fingerkuppen verursachte Schmerz diente dann buchstäblich der ‚Lebensversicherung‘. Andererseits offenbart und befördert diese Verhaltensweise aber auch wieder den letztlich unausweichlichen Zerfall. Damit erscheint dann die Namensgebund des Protagonisten durchaus motiviert und auch Nägelis Zuneigung in Kindertagen gegenüber seinem beisswütigen Kaninchen vermöchte dies zu erklären.
Stilistisch wartet der Text mit vielen vor allem japanischen Fremdwörtern auf. Auch spart Kracht bei der Kombination eines Namens mit einem Adjektiv den Artikel aus. So steht dann da: „Und gerührter Nägeli erfindet irgendeine Geschichte“. Allerdings zieht Kracht dies nicht konsequent durch und so soll etwa „der weltberühmte Schauspieler Charles Chaplin geehrt werden“. Trotz einiger sehr gekonnter Sprachbilder überzeugt der Stil also nicht abschliessend. Gelungene Beispiele wären etwa: Nägeli „erkennt in den verschwindenden weißen Würfeln abwechselnd Kleeblätter, Zylinder, Tränen, die Silben ve-ri-tas, als dämmere ihm, diese frostige, umgedrehte Neuauflage des aus der Kindheit vertrauten Bleigießens“. Ebenfalls geglückt ist, wenn wir über Nägeli erfahren: „er trug sein Nervenkostüm sozusagen außerhalb der Haut“ oder er „ein Nervenkostüm, das sich anfühlt, als sei es in ein Säurebad getaucht worden“ aufweist.
Auch inhaltlich bleibt letztlich schlicht zu viel unklar oder vage. Bereits der Deutungsvorschlag zum ‚Herumknabern‘ der Figuren an sich selbst ist im Roman zu wenig deutlich vorbereitet. Über die Bedeutung vieler Motive kann man nur rätseln. Bestenfalls werden sie im Text mehrfach aufgenommen, wie jenes einer rotbemalten Frau oder das von den violetten Bleistiften. Zur Farbsymbolik liesse sich vielleicht spekulieren, dass violett – es ist im Text auch die Farbe der Angst, eventuell der Todesangst – eine Verbindung zum Nicht-Erkennbaren, dem Transzendentalen herstellen soll. Dies wäre etwa plausibel, wenn man an das ausserhalb des menschlichen Sehspektrums liegende Ultraviolett denkt. Christian Krachts Die Toten lässt keine eindeutige Absicht oder Motivation erkennen – etwas was man von einem Autor einfordern sollte, bevor man ihm den Schweizer Buchpreis verleiht.