Provokation als Chance
ReLÜGionDer Provokateur kommt aus den christlichen Reihen. Und er beginnt mit der Selbstkritik in Sachen Wahrhaftigkeit: „… Meine Wahrhaftigkeit muss ich allerdings in Frage stellen, wenn ich Forschungsergebnisse ...
Der Provokateur kommt aus den christlichen Reihen. Und er beginnt mit der Selbstkritik in Sachen Wahrhaftigkeit: „… Meine Wahrhaftigkeit muss ich allerdings in Frage stellen, wenn ich Forschungsergebnisse so vermittelte, dass streng gläubige Kinder nicht in ihren religiösen Gefühlen verletzt wurden. Wider besseres Wissen habe ich aus Rücksichtnahme nicht in allen Fällen die Dinge beim Namen genannt und dadurch vieles verschleiert…“
Damit beginnt Wilmar Thiemann, studierter Theologe und profunder Kenner des christlichen Glaubens und der Kirche sein spannendes und zudem wichtiges Werk: „Relügion – Religion“ mit der er eine – so wie ich meine längst überfällige – Diskussion anstoßen möchte. Wie wahrhaftig ist die Kirche, wie wahrhaftig sind ihre Vertreter und letztlich auch: Wie wahrhaftig ist ein jeder von uns?
Nimmt man die Tugend der Wahrhaftigkeit nicht nur persönlich ernst, sondern beschäftigt sich zudem damit auch in theologischer und wissenschaftlicher Form, offenbart die Frage nach der Wahrhaftigkeit einen Schwachpunkt der Kirchen. Denn wer sonst, wenn nicht ausgerechnet und in erster Linie die Vertreter des christlichen Glaubens, die sich die Tugend der Wahrheit auf die himmlischen Fahnen schreiben, muss sich an diesem Anspruch messen lassen, den sie an die Gläubigen selbst stellen.
sich in seinem Werk nicht nur die Rolle der Kirchen und ihre Legitimation vor, sondern beschreibt einen großen Bogen vom Alten Testament, die Entwicklung des Monotheismus in Israel und Juda bis zur heutigen Form des Christentums. In seinem Fazit zu den fünf Büchern Mose und den Geschichtsbüchern kommt er zur Überzeugung, dass die Religion als menschliches Produkt zu einer Doktrin wurde, die keine unabhängige Beobachtung der Welt mehr zuließ, sondern ihre Weisheit nur noch der Deutung dieses Dokuments entnahm. Es wurde nicht mehr hinterfragt, sondern nur noch interpretiert und hat bis heute Gültigkeit in Synagoge und Kirche.
Zum Wahrheitsanspruch des christlichen Glaubens und seine Bestreitung geht Thiemann kritisch mit den Glaubensbekenntnissen im Gottesdienst um und argumentiert dabei mit der Absurdität dessen, was viele Gläubige zwar verbal bekennen, doch vermutlich selbst auch bezweifeln und nicht glauben können. Auch das ist nicht das, was man unter Wahrhaftigkeit des Glaubens versteht. Der Autor führt zudem die historischen Katastrophen an, aus der die Geburt des Judentums und des Christentums entstanden. Am Ende steht der Hass der Christen auf die Juden, der über 2000 Jahre immer wieder neu eskalierte.
Spannend ist auch der Exkurs über die Sünde als eigenständige Macht, die vom Menschen Besitz ergreift und sich in konkreten Verfehlungen manifestiert. Die Frage nach der Bedeutung, alle Menschen unausweichlich als Sünder zu bezeichnen, wird unter philosophischen und theologischen Aspekten untersucht und mit der folgenden Aussage Kubitzas auf den Punkt gebracht: „Die fatalen Auswirkungen, die Minderwertigkeitsgefühle, Schuldgefühle, religiöse Neurosen, Jenseitsangst und Höllenfurcht verursachte, kann vielleicht als das größte Verbrechen der Kirche“…. angesehen werden. Diesem Fazit werden wohl auch heute noch viele Gläubige, die der Kirche noch immer die Treue halten, ebenfalls vollen Herzens zustimmen können. Was sich die Kirche da an Schuld aufgeladen hat und noch immer als solche auch weiterträgt, dürfte eines ihrer ganz dunklen Kapitel sein.
Weitere Teile des Buches befassen sich mit wesentlichen Fragen zum „Wort Gottes“, das zwischen Mythos, Halluzination, Unwahrheit und Lüge eingeordnet wird, wie auch die Religion als kulturelles Gut der Menschen vom Autor unter die Lupe genommen wird. Zeitlose Wahrheiten, geschlossene und offene Weltbilder, die verratene Nächstenliebe und ein starke Plädoyer für einen konfessionsfreien Unterricht runden unter vielem anderen das Bild ab, das Thiemann zur Diskussion um die Lüge in der Religion beisteuert.
In seiner Schlussbemerkung konstatiert er u.a.: „Mit der Aufgabe des Wahrheitsanspruchs, der Einsicht in die strukturelle Lüge in Theologie und Kirche und dem Entschluss, zur Wahrhaftigkeit zurückzukehren, könnte die Basis für eine Organisation gelegt werden, die sich – durchaus mit Bezug auf religiöse Texte - in den Dienst von Menschenwürde und Humanität stellt.
Das ist zu wünschen. Die Kirche, die sich in reformatorischen Turbulenzen befindet, täte gut daran, dieses Standardwerk zur Wahrheit, Wahrhaftigkeit und Lüge mit in Ihre Bemühungen einzuschließen und konkrete Lehren daraus zu ziehen.
Christa Schyboll