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Meinungen aus der Lesejury

Veröffentlicht am 17.11.2024

Tiefgründiger Roman, der berührt, aber auch wütend macht!

Bright Young Women
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Übersicht

Einzelband oder Reihe: Einzelband
Erzählweise: Ich-Erzählweise, Präteritum
Perspektive: weibliche Perspektive
Kapitellänge: mittel

Inhaltswarnung: Mord, Blut, (sexualisierte) Gewalt gegen ...

Übersicht

Einzelband oder Reihe: Einzelband
Erzählweise: Ich-Erzählweise, Präteritum
Perspektive: weibliche Perspektive
Kapitellänge: mittel

Inhaltswarnung: Mord, Blut, (sexualisierte) Gewalt gegen Frauen (bis Vergew+ltigung), Grooming, M+ssbrauch von Kindern, Misogynie, S+xismus, Queerfeindlichkeit
Bechdel-Test (zwei Frauen mit Namen sprechen miteinander über etwas anderes als einen Mann): bestanden
Frauenfeindliche / gegenderte Beleidigungen: M+ststück

Diese Geschichte solltest du lesen, wenn dir folgende Themen/Dinge in Büchern gut gefallen:

- Serienkiller
- inspiriert durch wahre Begebenheiten (Ted-Bundy-Morde)
- Frauenfreundschaften / weibliche Solidarität
- starke/erfolgreiche/intelligente Frauen
- Misogynie, Sexismus, Victim Blaming, Täterschutz in den Medien
- Trauer
- 70er-Jahre in Amerika
- LGBTQAI+-Themen
- 2 Handlungsstränge

Meine Rezension

„Bright Young Women“ hat mich mit seinem Titel sofort an einen meiner absoluten Lieblingsfilme erinnert: „Promising Young Woman“. ♥ Und thematisch gibt es durchaus ein paar Überschneidungen. In beiden Fällen werden junge, intelligente Frauen mit vielversprechenden Karriereaussichten durch männliche Gewalt aus der Bahn geworfen und müssen mit den schrecklichen Dingen, die ihnen passiert sind, leben lernen. Der Klappentext hat mich direkt neugierig gemacht, deshalb war mir schnell klar, dass ich dieses Buch lesen muss!

Doch konnte „Bright Young Women“ meine hohen Erwartungen auch wirklich erfüllen oder reiht es sich ein in die vielen mittelmäßigen Bücher, die ich dieses Jahr schon gelesen habe? Mit großer Freude kann ich verkünden, dass ich mit dem vorliegenden Roman ENDLICH (ja, im November, fragt nicht!) mein erstes Jahreshighlight gefunden habe! ♥ Aus meiner Sicht hat Jessica Knoll einen rundum gelungenen, mitreißenden, berührenden (und wütend machenden) Roman geschrieben, den man kaum aus der Hand legen kann, der die Gefühle der Hauptfiguren äußerst nuanciert beschreibt und auch bei den Beziehungen untereinander richtig weit in die Tiefe geht.

Es ist eine fiktive Geschichte, die jedoch auf den wahren Morden von Ted Bundy basiert – mir hat es Spaß gemacht, hier zu recherchieren und auseinanderzudividieren, was Fakt und was Fiktion ist. „True-Crime-Bücher gibt es viele!“, werdet ihr jetzt sagen. Stimmt natürlich! Jedoch macht ein Aspekt „Bright Young Women“ zu etwas ganz Besonderem: die frische und so WICHTIGE feministische Perpektive. Endlich sind die Überlebenden mehr als bloße Randnotizen, endlich geht es um sie – um ihr Leben, das durch die Morde erschüttert wurde, um ihre Stärke, um ihre Trauer, um ihre Freundschaften, um ihre Resilienz und die Art, wie sie (erfolgreich) mit den Folgen von männlicher Gewalt leben lernen.

Interessanterweise hat die Autorin es geschafft, einen ganzen Roman zu schreiben, ohne den Namen des Serienkillers auch nur einmal zu erwähnen – hier wird er zum „Angeklagten“ reduziert. Schicht um Schicht trägt Jessica Knoll hierbei das mediale Lob, die Faszination, den Hype, die Verherrlichung und die Überhöhung des Frauenmörders ab und offenbart einen Durchschnittstypen, der sich selbst maßlos überschätzt und der sich scheinbar von starken, intelligenten, lebensfrohen Frauen bedroht fühlte – denn genau sie hat er sich als Opfer ausgesucht. Vom gewohnten Narrativ – von dem ihm nachgesagten Charme und seiner angeblich beeindruckenden Intelligenz – bleibt am Ende nicht viel übrig. Außerdem offenbart die Autorin, wie sich in der damaligen Gesellschaft (heute ist es zumindest etwas besser) Misogynie, S_xismus, Queerfeindlichkeit und Inkompetenz zu einem System vereint haben, das Opfern die Schuld gab, sie nicht ernst nahm, sie sich selbst überließ und sie immer wieder retraumatisiert hat. Ein System, dass mindestens eine Mitschuld an den späteren Morden trägt, weil es sie hätte verhindern können.

Erzählt wird die Geschichte auf zwei Zeitebenen und mithilfe von zwei Handlungssträngen, die sich mehr und mehr überschneiden. Im Mittelpunkt stehen hier starke, reflektierte, zielstrebige und intelligente Frauen, die jedoch auch Schwächen und Fehler haben, wodurch es sehr leicht ist, sich mit ihnen zu identifizieren und mit ihnen mitzufiebern und mitzufühlen. Für die äußerst liebevolle Figurenzeichnung gibt es also von mir einen Daumen nach oben!

Negativ aufgefallen sind mir aus feministischer Sicht nur am Anfang der Male Gaze bei den Beschreibungen weiblicher Körper und die geschilderte Stutenbissigkeit (einfach unnötig!) – zum Glück dreht sich das im Laufe des Buches dann komplett. Mein einziger ernsthafter Kritikpunkt sind das langsame Tempo und die geringe Handlungsdichte. Wirklich langatmig fand ich „Bright Young Women“ zum Glück an keiner Stelle, aber mehr Spannung hätten diesen Roman ohne Frage NOCH besser gemacht. Aber auch so bin ich wirklich begeistert (übrigens auch von der Sprecherin und vom Hörbuch, das ich parallel gehört habe!) und überzeugt davon, dass „Bright Young Women“ nicht mein einziges Buch von Jessica Knoll bleiben wird!

Mein Fazit

„Bright Young Women” ist für mich ein mitreißender, berührender, tiefgründiger und richtig gut geschriebener Roman, der endlich den Opfern von Ted Bundy eine (wenn auch fiktive) Stimme gibt, ihre Leben und ihre Stärke in den Mittelpunkt rückt und das Bild, das lange Zeit in der Öffentlichkeit von ihm gezeichnet wurde, geraderückt. Aus meiner Sicht deshalb ein wichtiges Buch, das ihr euch nicht entgehen lassen solltet! Und für mich ganz klar ein Jahreshighlight!

Bewertung (in Schulnoten)

Cover / Aufmachung (altes Cover): 1+ ♥
Idee: 1+ ♥
Inhalt, Themen, Botschaft: 1+ ♥
Tiefe: 1+ ♥
Umsetzung: 1-2
Worldbuilding: 2
Einstieg: 2
Ende: 1+ ♥
Schreibstil: 1+ ♥
Figuren: 1+ ♥
Spannung: 2
Pacing/Tempo: 3
Wendungen: 2
Atmosphäre: 2
Emotionale Involviertheit: 1-2
Feministischer Blickwinkel: 1-2
Einzigartigkeit: 1+ ♥

Insgesamt:

Note 1-2

  • Einzelne Kategorien
  • Handlung
  • Erzählstil
  • Charaktere
  • Cover
  • Spannung
Veröffentlicht am 29.10.2024

Unterhaltsam, hätte aber noch gruseliger sein können!

Was die Toten bewegt (Eine packende und atmosphärische Nacherzählung von Edgar Allan Poes Klassiker "Der Untergang des Hauses Usher")
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Spoilerfreie Rezension!

Inhalt

In dieser Neuerzählung von Edgar Allan Poes Klassiker "Der Untergang des Hauses Usher" besucht Alex Easton (ehemalige:r Soldat:in, weiblich oder nichtbinär, geht aus ...

Spoilerfreie Rezension!

Inhalt

In dieser Neuerzählung von Edgar Allan Poes Klassiker "Der Untergang des Hauses Usher" besucht Alex Easton (ehemalige:r Soldat:in, weiblich oder nichtbinär, geht aus dem Text nicht eindeutig hervor) eine alte Jugendfreundin, die nach eigenen Angaben im Sterben liegt. Dort erwarten Easton ein verfallendes Haus, seltsame Hasen, rätselhafte Pilze und Seen und die zwei Usher-Geschwister, die von einer mysteriösen Krankheit geplagt werden. Gemeinsam mit einer Mykologin und einem Arzt versucht Easton, die Geheimnisse des Anwesens zu ergründen…

Übersicht

Einzelband oder Reihe: Einzelband
Erzählweise: Ich-Erzählweise, Präteritum
Perspektive: weibliche/nichtbinäre Perspektive
Kapitellänge: mittel

Inhaltswarnung: Mord, Tod von Tieren (z. B. bei Jagd), Tierquälerei, Blut, Gewalt, S_xismus, (psychische) Krankheiten, Suizid, Alkoholmissbrauch
Bechdel-Test (zwei Frauen mit Namen sprechen miteinander über etwas anderes als einen Mann): bestanden
Frauenfeindliche / gegenderte Beleidigungen: --- ♥

Diese Geschichte solltest du lesen, wenn dir folgende Themen/Dinge in Büchern gut gefallen:

- Body Horror (dt. Körperhorror)
- Besessenheit
- unheimliche Atmosphäre
- Natur im Mittelpunkt (besonders Pilze)
- Freundschaft
- Familie
- Leben als Soldat:in, Kriegserfahrungen, Tod, Vergänglichkeit
- Sprache, Kultur und Verwendung von Pronomen als zentrales Thema
- Diskriminierung von Frauen in der Wissenschaft und beim Militär, Queerfeindlichkeit

Lieblingszitate

„‘Dieser Ort… […] Ich glaube, der würde jeden krank machen.‘“ E-Book, Position 323

„Es ist ein Klischee, die Fenster eines Hauses mit Augen zu vergleichen, denn es gehört zur Natur des Menschen, in allem Möglichen Gesichter zuerkennen […] Das Haus Usher hatte jedenfalls Dutzende davon, also entsprach das entweder unzähligen Gesichtern, die dort nebeneinanderlagen, oder aber dem Gesicht einer einzigen fremdartigen Kreatur – einer Spinne womöglich, die mit mehreren Augenreihen ausgestattet war.“ E-Book, Positions 130

„Einst, auf einer Schiffsreise durchs Mittelmeer, war ich Zeuge geworden, wie Tausende von blauen Partikeln das Meer erleuchtet hatten. Plankton, hatte mir der erste Maat erklärt. […] ‚Hören Sie nicht auf ihn, Sir. Dort unten in der Tiefe tragen die Toten Laternen.‘“ E-Book, Position 1011

Meine Rezension

„Was die Toten bewegt“ hat meiner Meinung nach eines der schönsten Horror-Cover überhaupt – es ist eine echte Augenweide! – deshalb ist es mir auch sofort ins Auge gestochen. Vor ca. zwei Jahren habe ich es dann (auf Englisch) zum ersten Mal begonnen, da ich aber nicht sofort in die Geschichte gefunden habe, habe ich diese erst einmal wieder beiseitegelegt. Versuch Nummer 2 mit meiner Bookstagram-Kollegin @katiandbooks lief da schon deutlich besser!

Wichtig zu erwähnen ist hier, dass ich das Original von Poe leider noch nicht kenne – das werde ich aber bestimmt in naher Zukunft ändern, damit ich vergleichen kann (Kingfisher hat mich mit ihrem Retelling echt neugierig gemacht!). Zumindest kann ich so besonders gut beurteilen, ob die Geschichte auch für sich stehen kann. Kurz: Ja, das kann sie! Sie hat mich einige Stunden wirklich gut unterhalten, Kingfishers anschaulicher, bildhafter Schreibstil ließ sich auch dieses Mal wieder sehr angenehm lesen. Auf ganzer Linie überzeugt haben mich auch das Setting (der trübe See, das verfallende Haus voller Schimmel, die sich seltsam verhaltenden Hasen, die ungewöhnlichen Pilze) und die dichte Atmosphäre. Zentrale Themen des Buches sind Tod und Vergänglichkeit, Freundschaft, Familie, psychische Krankheiten, die Diskriminierung von Frauen beim Heer und in der Wissenschaft, Queerfeindlichkeit und Kriegserfahrungen – diese werden mit der Kürze des Romans angemessener Tiefe behandelt.

Eine unerwartete, aber positive Überraschung waren für mich der Humor, der besonders in der ersten Hälfte der Geschichte immer wieder deutlich hervortritt, und die langen Ausführungen über die Benachteiligung von Frauen beim Militär, Eastons Kultur und Sprache und wie darin Pronomen verwendet werden (es ist ein recht komplexes System). Mir hat es gefallen, dass es im überraschend diversen Buch (immerhin spielt es im späten 19. Jahrhundert) so viele interessante Frauenfiguren gibt und dass Easton sich nicht eindeutig als weiblich oder nichtbinär einordnen lässt. Die feministische Grundeinstellung der Autorin ist auch in dieser Horror-Novelle deutlich spürbar, was ich super finde! Übrigens (Tipp am Rande) empfiehlt die Autorin im Nachwort, vor der Lektüre des vorliegenden Buches noch den „Mexikanischen Fluch“ von Silvia Moreno-Garcia zu lesen (warum wird hier natürlich nicht verraten!).

Durch die vielen positiven Rezensionen, die ich im Vorfeld gelesen hatte, waren meine Erwartungen an „Was die Toten bewegt“ (besonders was den Gruselfaktor betrifft) ziemlich hoch. Ganz erfüllt wurden sie leider nicht. Dafür blieben mir die Figuren (wohl auch wegen der Kürze der Geschichte) etwas zu eindimensional und obwohl es einzelne sehr unheimliche Stellen gibt (z. B. alle mit den Hasen), hätte man da aus meiner Sicht noch viel mehr herausholen können. Außerdem hat sich das Ende zu hastig abgehandelt und für eine Gruselgeschichte zu positiv angefühlt. Für 4 Sterne reicht es trotzdem allemal! Den zweiten Band der Reihe werde ich daher auf jeden Fall auch lesen.

Mein Fazit

Die atmosphärische und stellenweise auch unheimliche Horror-Novelle „Was die Toten bewegt“ von T. Kingfisher hat mich einige Stunden lang wirklich gut unterhalten. Auch wenn man, was den Gruselfaktor und die Figurenzeichnung betrifft, sicher noch deutlich mehr herausholen hätte können, gibt es von mir 4 Sterne und eine Leseempfehlung – besonders für Genre-Neulinge und alle, die es zwar gruselig, aber nicht ZU gruselig mögen.

Bewertung (in Schulnoten)

Cover / Aufmachung (altes Cover): 1+ ♥
Idee: 2
Inhalt, Themen, Botschaft: 2
Tiefe: 2
Umsetzung: 2
Worldbuilding: 1-2
Einstieg: 3
Ende: 3
Schreibstil: 1+ ♥
Figuren: 2
Spannung: 2
Pacing/Tempo: 2
Gruselfaktor: 2-3
Wendungen: 2
Atmosphäre: 1+ ♥
Emotionale Involviertheit: 2
Feministischer Blickwinkel: 1+ ♥
Einzigartigkeit: keine Wertung, weil Retelling

Insgesamt:

Note 2

  • Einzelne Kategorien
  • Cover
  • Erzählstil
  • Handlung
  • Charaktere
Veröffentlicht am 13.10.2024

Nicht schlecht, aber habe mir deutlich mehr erhofft!

Kleine Monster
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Achtung, die Rezension enthält Spoiler, vor denen aber im Text noch einmal gewarnt wird!

Inhalt

Ihr siebenjähriger Sohn soll ein Mädchen belästigt haben, deshalb werden Pia und Jakob in die Schule ...

Achtung, die Rezension enthält Spoiler, vor denen aber im Text noch einmal gewarnt wird!

Inhalt

Ihr siebenjähriger Sohn soll ein Mädchen belästigt haben, deshalb werden Pia und Jakob in die Schule zitiert. Für Pia ändert das alles. Sie beginnt, Luca zu misstrauen, meint etwas Dunkles in ihrem Sohn zu erkennen. Sie hat immer mehr das Gefühl, dass er intelligenter ist, als man es einem Kind zutrauen würde, dazu noch berechnend und manipulativ. Wenn Luca wirklich ihre schlechten, dunklen Seiten (die sie sogar vor ihrem Partner verbirgt) geerbt hat, muss sie die anderen und ihn selbst unbedingt davor schützen…

Übersicht

Einzelband oder Reihe: Einzelband
Erzählweise: Ich-Erzählweise, Präsens
Perspektive: weibliche Perspektive
Kapitellänge: kurz

Inhaltswarnung: Tierquälerei, Tod, Gewalt gegen Kinder, Vernachlässigung von Kindern, männliche Gewalt, Mobbing, s+xualisierte Gewalt
Bechdel-Test (zwei Frauen mit Namen sprechen miteinander über etwas anderes als einen Mann): bestanden
Frauenfeindliche / gegenderte Beleidigungen: --- ♥

Diese Geschichte solltest du lesen, wenn dir folgende Themen/Dinge in Büchern gut gefallen:

- Rückblenden
- einfacher Schreibstil
- unheimliche Grundstimmung
- Themen: Kindheit, Schuld, Tod, Trauer, Elternschaft (besonders Mutterschaft) und Erziehung
- s+xualiserte Gewalt, Geschlechterrollen
- Gewalt gegen Kinder + Vernachlässigung
- Adoption, Geschwisterliebe
- Landleben

Lieblingszitate

„‘Wir wissen doch gar nicht, ob es wirklich so passiert ist. Ein Mädchen hat eine Geschichte erzählt und jetzt sind alle in heller Aufregung.‘
‚Glaubst du, sie hat es erfunden?‘“ Ebook, Position 64

„Wenn sich Luca erschreckt, wird er ganz still. Wenn wir schimpfen, zieht er die Schultern ein und senkt den Blick. Wie eine Schnecke, die sich in ihr Haus verkriecht.“ E-Book, Position 79

„Aber manchmal komt es mir doch so vor, als hätten zwei Bäume miteinander den Platz getauscht, oder es kommt eine Biege, die ich ganz woanders hingetan hätte.“ E-Book, Position 162

„Die Liebe ist keine Selbstverständlichkeit für mich. Die Mutterhaut, die ich trage, passt nicht wie angegossen. Ich bin nicht Aschenputtel, ich bin eine ihrer Schwestern, die sich erst die Ferse abschneiden muss oder den großen Zeh.“ E-Book, Position 519

Meine Rezension

Bei „Kleine Monster“ haben mich Klappentext und Leseprobe (s+xualisierte Gewalt im Kindesalter, Umgang der Eltern und Schule damit) vollkommen in ihren Bann gezogen! Deshalb war mir schnell klar: Dieses Buch muss ich unbedingt lesen! Die Nominierung für den Österreichischen Buchpreis (mit der ich fest gerechnet hatte) und die vielen positiven Rezensionen sowohl im Feuilleton als auch von anderen Blogger:innen haben mich nur noch neugieriger gemacht…

So, meine Lieben, ich mache es kurz und schmerzlos: Es ist wieder einmal Zeit für eine „unpopular Opinion“! Denn auch wenn sich Leser:innen und Literaturexpert:innen noch so vor Lob überschlagen – ich sehe es nicht, tut mir leid! Den großen Hype um „Kleine Monster“ kann ich leider nicht wirklich verstehen. Natürlich fragt man sich in so einem Fall schon: Nanu, stimmt etwas nicht mit mir? So viele Leute können doch nicht irren, oder? Fest steht, dass ich mir auch dieses Mal selbst treu bleiben und euch meine ungeschönte Meinung besonders gut erklären muss – und damit fangen wir sofort an!

Was mir an „Kleine Monster“ gefallen hat: Ich fand den Titel und den Einstieg in den Roman genial! Man ist sofort mitten in der Geschichte, hat gefühlt 1000 Fragen (was ist genau passiert? Warum hat Luca das getan? Wie geht man mit Vorfällen dieser Art und in diesem Alter richtig um? Wie werden sich die Eltern nun verhalten? Wieso ist Pia direkt so misstrauisch?) und möchte unbedingt wissen, wie es weitergeht!

Pluspunkte hat das Werk bei mir auch mit seiner (zumindest stellenweise) unheimlichen Grundstimmung (was weiß nie, was als Nächstes passieren wird, hat Angst, dass die Lage eskalieren könnte!) und dem sehr flüssig lesbaren Schreibstil gesammelt, ebenso mit seiner ehrlichen und ungeschönten Auseinandersetzung mit Themen wie s+xualisierte Gewalt, Tod, Schuld, weiblicher Wut, Mutterschaft und Gewalt in der Kindererziehung. Pias fast schon paranoides Misstrauen ihrem Sohn gegenüber wird sehr greifbar und eindringlich geschildert – ihre Gewaltausbrüche ihrem Kind gegenüber sind hierbei nicht immer leicht zu verdauen (Achtung, Inhaltswarnung!). Bei einer Lesung, die ich besucht habe, hat die Autorin (die übrigens eine unglaublich schöne Stimme und angenehme Art hat, sie sollte wirklich Hörbücher sprechen!) erklärt, dass sie in ihren Romanen jene negativen Muttergefühle wieder hervorholt und von allen Seiten ins Licht hält, die eigentlich nicht sein dürfen und die sie im Alltag sofort beiseiteschiebt – und von dieser Authentizität profitiert die Geschichte extrem, man spürt sie in jeder Zeile.

Positiv aufgefallen sind mir auch die vielen starken weiblichen Figuren, die gleichberechtigte Elternschaft zwischen Jakob und Pia und die Art, wie Rollenstereotype (besonders die der „aufopferungsvollen Mutter“ und des „natürlichen Mutterinstinkts“) immer wieder bewusst hinterfragt und gebrochen werden. Besonders Letzteres fand ich sehr erfrischend!

Was mir an „Kleine Monster“ nicht gefallen hat: Vielleicht bin ich durch die vielen positiven Bewertungen mit zu hohen Erwartungen an diese Geschichte, die viele Rückblenden enthält, herangegangen, jedenfalls ließ sie mich sehr unbefriedigt zurück und ich fragte mich am Ende ernüchtert: „Was? Das war’s schon?“ Wo andere die vielschichtige, tiefgründige Geschichte loben, sehe ich einen Schreibstil, der durch seine einfachen, kurzen Sätze und den Mangel an Details oberflächlich bleibt. Wo andere ein grandioses Buch sehen, nehme ich eine gute Idee wahr, aus der man aber so viel mehr hätte machen können.

Irgendwie hat mich das Buch auch nie richtig gefesselt (abgesehen von den ersten Seiten), zog sich und fühlte sich viel länger an, als es ist (es hat ja nur knapp 250 Seiten). Hier fehlte mir ein durchgehender Spannungsbogen. Außerdem bleiben für meinen Geschmack viel zu viele GRUNDLEGENDE Fragen offen! ACHTUNG, SPOILER ab hier: Warum quält Luca nun Tiere (leichte Inhaltswarnung!)? Was steckt dahinter? Wie werden Pia und Jakob damit und mit dem Vorfall in der Schule umgehen? Dass das Kind große Probleme mit Empathie hat, war doch keine Einbildung? Hat es wirklich mehrmals bewusst seine Eltern angelogen (Wasserglas)? Was ist am Todestag der Schwester wirklich passiert? Hat Romy wirklich alles getan, um Linda zu retten? Wird Romy wieder ein Teil von Pias Leben werden? Fragen über Fragen – und eine Geschichte, die sich nur auf den ersten Seiten um s+xualisierte Gewalt dreht, danach aber eine vollkommen andere Richtung einschlägt und das Thema zur Nebensächlichkeit verkommen lässt. An meiner Enttäuschung ist deshalb sicher auch der (bewusst?) irreführende Klappentext schuld…

Mein Fazit

„Kleine Monster“ ist sicher kein schlechtes Buch (versteht mich nicht falsch, es hat durchaus seine Stärken!), doch von Begeisterungsstürmen bin ich meilenweit entfernt. Ich bleibe nach der Lektüre ernüchtert und mit vielen Fragezeichen zurück – ich habe mir einfach deutlich mehr erhofft… Eine explizite Leseempfehlung gibt es deshalb von mir nicht.

Bewertung (in Schulnoten)

Cover / Aufmachung (altes Cover): 3
Idee: 2
Inhalt, Themen, Botschaft: 3
Tiefe: 3
Umsetzung: 3
Worldbuilding: 2
Einstieg: 1+ ♥
Ende: 2
Schreibstil: 3
Figuren: 3
Spannung: 3-4
Pacing/Tempo: 3-4
Wendungen: 3
Atmosphäre: 2
Emotionale Involviertheit: 3
Feministischer Blickwinkel: 1-2
Einzigartigkeit: 2

Insgesamt:

Note 3

  • Einzelne Kategorien
  • Cover
  • Erzählstil
  • Handlung
  • Charaktere
Veröffentlicht am 05.10.2024

3,75 Sterne: Sehr gut geschrieben, legt den Finger in die Wunde – aber letztes Drittel zieht sich…

Ava liebt noch
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Spoilerfreie Rezension!


Inhalt

Ava ist 43 und funktioniert seit Jahren nur noch für ihre Kinder und ihren Mann, ihre Bedürfnisse stellt sie wie selbstverständlich immer hinten an. Doch als der junge ...

Spoilerfreie Rezension!


Inhalt

Ava ist 43 und funktioniert seit Jahren nur noch für ihre Kinder und ihren Mann, ihre Bedürfnisse stellt sie wie selbstverständlich immer hinten an. Doch als der junge Schwimmlehrer ihrer Tochter, den sie zuvor schon aus der Ferne bewundert hat, anbietet, ihr das Schwimmen beizubringen, ändert das alles. Sie beginnt eine Affäre mit ihm und verliebt sich... Jede Berührung verwandelt sie mehr in die Frau zurück, die sie einst war. Bald muss Ava sich entscheiden: Soll sie weiterhin heile Familie spielen oder ihrem Herzen folgen?

Übersicht

Einzelband oder Reihe: Einzelband
Erzählweise: Ich-Erzählweise, Präsens
Perspektive: hauptsächlich weibliche, aber auch gelegentlich männliche Perspektive
Kapitellänge: mittel

Inhaltswarnung: psychische Krankheiten, Krebs
Bechdel-Test (zwei Frauen mit Namen sprechen miteinander über etwas anderes als einen Mann): bestanden
Frauenfeindliche / gegenderte Beleidigungen: M+ststück

Diese Geschichte solltest du lesen, wenn dir folgende Themen/Dinge in Büchern gut gefallen:

- Beziehungen mit großem Altersunterschied (20 Jahre)
- „verbotene Liebe“/Affäre
- Mutterschaft
- weibliches Verlangen, Frausein
- Selbstaufgabe als Mutter, Mental Load, ungerechte Aufteilung der unbezahlten Arbeit, Erschöpfung
- Selbstfindung, Studium
- Milieustudie

Lieblingszitate (die Entscheidung ist mir schwer gefallen, gab so viele!)

„Es ist ein Donnerstag im Mai, als ich merke, dass ich noch am Leben bin.“ Seite 7

„Er spricht oft über unsere Familie, als wäre sie ein Unternehmen, in dem ich die Abteilung für Kinder leite. […] Also sage ich zu ihm: ‚Dies ist ein Unternehmen, in dem alle Abteilungen von ein und derselben Person geleitet werden.‘“ Seite 19

„Die spirituellen Momente in meinem Leben habe ich nicht in einer Kirche erlebt, sondern in einem Bett.“ Seite 256

„‘Ich weiß nicht, wie ich es erklären soll. Ich weiß nur, dass man seine Kinder lieben und Mutterschaft trotzdem hassen kann.‘“ Seite 296

„Muttersein ist learning by doing, aber es sind keine Fehler erlaubt.“ Seite 297

Meine Rezension

Als ich Cover, Titel und Klappentext gesehen hatte, war ich mir zuerst unsicher, ob ich „Ava liebt noch“ lesen sollte – immerhin bin ich selbst kinderlos (und will es auch bleiben), in keiner unglücklichen Ehe gefangen und mehr als 10 Jahre jünger. "Gibt es da genügend Identifikationpotential?", fragte ich mich da im ersten Moment. Doch die Leseprobe zeigte: Ja! Ich bin nämlich nicht nur eine kinderfreie, 29-jährige Frau, sondern auch: Feministin. Und als Feministin beschäftige ich mich tagtäglich mit den Dingen, die in diesem Buch thematisiert werden: Mutterrolle, Gleichstellung, Mental Load und die ungleiche Verteilung der Care-Arbeit.

Mittlerweile hat „Ava liebt noch“ ja schon sehr viele begeisterte Rezensionen von anderen Leser:innen erhalten – doch wird sich auch meine in die Lobeshymnen einreihen? Nicht ganz. Würde ich den Roman trotzdem weiterempfehlen: Ja, durchaus!

Für mich ist Vera Zischkes Debüt insgesamt nämlich ein gelungener Roman. Der Schreibstil für mich das Beste daran: Die Autorin schreibt so flüssig und zugänglich, dass man nur so durch die Seiten fliegt, und die Metaphern und Vergleiche sind großartig – sehr kreativ, treffend und schön. Ich habe mir viele Stellen markiert. Deshalb habe ich den Roman auch (bis auf das letzte Drittel) sehr gerne gelesen! Überzeugt haben mich auch die liebevolle Figurenzeichnung (Ava ist mit ihren Fehlern und Macken sehr sympathisch und glaubwürdig, das Buch ist stellenweise fast schon eine Milieustudie) und die unerwartete Melancholie und Tiefe, mit der Themen wie Mutterschaft, Mental Load, Frausein, Freiheit und weibliches Verlangen beschrieben bzw. kritisiert werden. Über allem liegt ein klar erkennbarer Female Gaze – hier werden zur Abwechslung (zumindest am Beginn) einmal MÄNNERKÖRPER zum Objekt, was sich ungewohnt (stellenweise sogar absurd), aber erfrischend anfühlt. Aus feministischer Sicht gibt es für die vielen starken Frauenfiguren und die Art, wie die Autorin oft den Finger in die Wunde legt und uns zeigt, wie viel Arbeit wir noch vor uns haben, bis wahre Gleichstellung erreicht ist, natürlich einen Daumen nach oben!

„Warum dann keine fünf Sterne?“, fragt ihr euch nun sicher. Nun, das lag an drei Punkten, die für sich genommen eigentlich nicht gravierend sind, aber eben in der Summe für den Punkteabzug verantwortlich waren. Erstens konnte ich mich nicht immer hunderprozentig mit Ava identifizieren (das lag dann schlussendlich doch an unseren unterschiedlichen Lebenssituationen), zweitens lag der Fokus dann doch weniger als erwartet auf den Belastungen, die Mutterschaft in unserer Gesellschaft mit sich bringt, und stärker auf der Affäre (ich hätte übrigens nie gedacht, dass ich mal auf der Seite einer „Betrügerin“ sein würde!) und dem Verliebtsein. Drittens hat sich das letzte Drittel für mich ziemlich gezogen, weil handlungstechnisch nicht mehr viel passiert ist bzw. dann auf einmal andere ernste Themen wie das Altern und Krebs (womit ich hier überhaupt nicht gerechnet habe!) im Vordergrund standen. Hier wäre eine Inhaltswarnung sehr sinnvoll und hilfreich gewesen.

Mein Fazit

„Ava liebt noch“ ist ein sehr gut geschriebener, überraschend tiefgründiger Roman, der auf erfrischende Weise den Finger in die Wund legt, was Gleichstellung, Mental Load, Mutterrolle und die Aufteilung der unbezahlten Arbeit angeht, und vermutlich (leider!) vielen Frauen aus der Seele sprechen wird. Ich kann mir vorstellen, dass dieses Buch viele Menschen zum Nachdenken anregen und für hitzige Diskussionen in Mütter-Gruppen und Familien sorgen wird. Gut so! Von mir gibt es daher eine Leseempfehlung – besonders für alle Frauen (und deren Männer!), die sich in einer ähnlichen Lebenssituation wie Ava befinden.

Bewertung (in Schulnoten)

Cover / Aufmachung (altes Cover): 1+ ♥
Idee: 1+ ♥
Inhalt, Themen, Botschaft: 2
Umsetzung: 2-
Worldbuilding: 1+ ♥
Einstieg: 1+ ♥
Ende: 2-3
Schreibstil: 1+ ♥
Figuren: 2
Liebesgeschichte: 1
Spannung: 3
Pacing/Tempo: 3
Wendungen: 3
Atmosphäre: 2
Emotionale Involviertheit: 2
Feministischer Blickwinkel: 1+ ♥
Einzigartigkeit: 3

Insgesamt:

Note 2-

  • Einzelne Kategorien
  • Cover
  • Erzählstil
  • Handlung
  • Charaktere
Veröffentlicht am 28.09.2024

3,5 Sterne: Hat mich zum Weinen gebracht – und trotzdem habe ich mehr erwartet…

Die Straße
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Spoilerfreie Rezension!

Inhalt

Die Welt ist verbrannt, besteht nur noch aus verkohlten Bäumen, dreckigen Flüssen und Asche. Tiere gibt es keine mehr, dafür gefährliche Stekten und Kannibalen. In ...

Spoilerfreie Rezension!

Inhalt

Die Welt ist verbrannt, besteht nur noch aus verkohlten Bäumen, dreckigen Flüssen und Asche. Tiere gibt es keine mehr, dafür gefährliche Stekten und Kannibalen. In dieser geschwärzten Welt folgen ein Vater und sein Sohn einer Straße Richtung Süden, der drohende Tod ist ihr ständiger Begleite – doch noch sind sie am Leben, noch gibt es Hoffnung…

Übersicht

Einzelband oder Reihe: Einzelband
Erzählweise: Figurale Erzählweise, Präteritum
Perspektive: männliche Perspektive
Kapitellänge: keine Einteilung in Kapitel, sondern in kurze Absätze

Inhaltswarnung: Tierquälerei (kurz), Gewalt, Tod, Mord, K+nnibalismus, Sklaverei, s+xualisierte Gewalt und Vergew+ltigung (erwähnt), Suizidgedanken, Depression, Blut, Krankheit
Bechdel-Test (zwei Frauen mit Namen sprechen miteinander über etwas anderes als einen Mann): NICHT bestanden
Frauenfeindliche / gegenderte Beleidigungen: H+re, Schl+mpe

Diese Geschichte solltest du lesen, wenn dir folgende Themen/Dinge in Büchern gut gefallen:

- düstere, hoffnungslose Grundstimmung
- Dystopien
- grausame Welt (K+nnibalismus, M+rd, Krankheiten, Sklaverei)
- distanzierter, einfacher Schreibstil
- Routinen und Wiederholungen
- Vater-Sohn-Beziehung
- Überleben im Fokus
- Tod als zentrales Thema

Lieblingszitate

„Dann marschierten sie im stahlgrauen Licht die Asphaltstraße entlang, schlurften durch die Asche, jeder die ganze Welt des anderen.“ Seite 9

„Vergiss nicht, dass das, was du in deinen Kopf lässt, für immer dort bleibt. […]
Aber manches vergisst man doch, oder?
Ja. Was man behalten will, vergisst man, und was man vergessen will, behält man.“ Seite 14

„Sind wir immer noch die Guten?, fragte er.
Ja, Wir sind immer noch die Guten.
Und das werden wir auch immer sein.
Ja. Das werden wir immer sein.
Okay.“ Seite 71

Meine Rezension

So viele Jahre lag die „Straße“ (übersetzt von Nikolaus Stingl) von Cormac McCarthy, die ja als Meisterwerk und zeitloser Klassiker gilt, auf meinem SUB – und nach und nach wurde der Wunsch, sie zu lesen, um endlich mitreden zu können, größer. Das lag unter anderem daran, dass eines meiner absoluten Lieblingslieder – das berührende „No Sound but the Wind“ von den Editors ♥ – von dieser Geschichte inspiriert wurde. Und auch der Spieleregisseur Neil Druckmann gibt das Buch als maßgeblichen Einfluss für seine großartigen „The Last of Us“-Spiele an. ♥ Dazu kamen dann noch Unmengen begeisterter Rezensionen, die ich über die Jahre gelesen hatte. Im August dieses Jahres (2024) war dann endlich der richtige Zeitpunkt gekommen: Ich organisierte eine Leserunde, damit wir uns gegenseitig auffangen und trösten und miteinander schwärmen oder über „Die Straße“ schimpfen konnten, denn ich hatte gehört, dass der Roman viele Menschen sehr aufgewühlt, traurig gemacht und runtergezogen hatte…

„Und?“, wollt ihr nun sicher wissen. „Ist ‚Die Straße‘ wirklich so gut, wie alle sagen? Ein Meisterwerk? Ein Buch, das dein Leben verändert, dich tief in deinem Kern berührt und nie wieder loslässt?“ Meine (ernüchterte) Antwort lautet: eher nicht. Aber hat es mich trotzdem am Ende gekriegt und zum Heulen gebracht: Jap!

Lasst mich das genauer erklären: Es gibt einiges, was mich an diesem Roman auf ganzer Linie überzeugt hat. Cormac McCarthy zeichnet eine unheimlich düstere, hoffnungslose postapokalyptische Welt – es ist wahrscheinlich die finsterste, deprimierendste Dystopie, die ich lese gelesen habe. Ich vermute auch, dass mir zukünftige dystopische Werke vorkommen werden wie der sprichwörtliche „Ponyhof“, weil es schwer sein wird, DAS zu überbieten – und alleine das ist schon eine Leistung! In „Die Straße“ gibt es außer verkohlten Bäumen, schmutzigen Flüssen und haufenweise Asche nichts mehr. Keine lebendigen Pflanzen, keine Tiere, dafür gefährliche Sekten, K+nnibalismus und kalte, nasse und lichtlose Nächte. Die wahren Schrecken werden oft nur angedeutet, trotzdem zeichnet der Autor eindringliche Bilder, die einen aufwühlen und sich einem ins Gedächtnis brennen: ein vom Blitz getroffener Mann, dem nicht geholfen werden kann, die kopflose Leiche eines Kleinkindes, die sich über einem Lagerfeuer auf einem Spieß dreht, immer wieder die unschuldige Frage des Sohnes an den Vater, ob sie auch WIRKLICH noch „die Guten“ seien, obwohl sie schreckliche Dinge tun müssen, um zu überleben…

Der Autor führt uns ganz nah an menschliche Abgründe, dorthin, wo es wehtut, zeigt uns, was es heißt, in einer solchen Welt zu überleben, was man dafür opfern muss. Er stellt auch immer wieder die philosophische Frage, ob es das überhaupt wert ist. Wofür jeden Tag aufstehen, wenn alles so mühsam ist und es keine Hoffnung auf Besserung gibt? Soll man trotzdem weiterkämpfen, obwohl das geliebte Kind jederzeit von den K+nnibalen gefangen, gequält und gegessen werden kann? Obwohl man ihm beibringen muss, wie es sich im Notfall mit der eigenen Waffe erschießen kann, um sich selbst Schlimmeres zu ersparern? Oder wäre es doch für alle besser, „es“ (das eigene Leben und das des Kindes) zu beenden? Das sind tiefgehende Gedankengänge, die man meist nicht wagt, sich zu stellen, Fragen, die einem noch Tage später schwer im Magen liegen. „Die Straße“ ist deshalb AUCH irgendwie eine Lektion in Dankbarkeit: SO schlecht geht es uns ja doch nicht…

Nach dem „Meisterwerk“ und der vielfach gelobten „Sprachgewalt“ habe ich aber dann leider doch vergeblich gesucht. Ich hatte damit gerechnet, dass mich dieses Buch emotional zerstören, ganz tief runterziehen, mein Leben verändern würde – doch all das blieb aus. Stattdessen erwarteten mich eine (bis auf einzelne Fachbegriffe) sehr einfache, eintönige Sprache, viele sprachliche und inhaltliche Wiederholungen (die Welt ist von Asche überzogen, we get it!), uninspirierte Satzanfänge (ständig „Er“) und minutiöse Schilderungen der immergleichen Abläufe: Essen suchen, Essen finden, Feuerholz suchen, Feuerholz finden, Feuer machen, Essen zubereiten, nach Gefahren Ausschau halten, Decken holen, zudecken, schlafen – und von vorne. Mir ist klar, dass die Sprache bewusst gewählt wurde, um zu zeigen, wie gleichförmig und mechanisch und anstrengend und langweilig und ganz und gar hoffnungslos das Leben des Vaters und Sohns ist – aber müssen die Leser:innen zwangsläufig auch leiden und sich langweilen? McCarthy würde vermutlich antworten: Unbedingt! Ich sage aber: Das geht besser!

Dazu kommt noch, dass die Sprache sehr distanziert und kühl ist, Dialoge weder Anführungszeichen noch Begleitsätze bekommen (die Zuordnung fällt teilweise schwer) und unsere Hauptfiguren nicht einmal einen Namen haben – auch diese schriftstellerischen Entscheidungen sind nachvollziehbar, muss man doch seine Gefühle in einer solchen Welt beseiteschieben, um das alles überleben zu können. Trotzdem hat auch das es für mich und meine Mitleser:innen schwer gemacht, mit den Charakteren mitzufühlen und mitzuleiden (obwohl sie sich glaubwürdig weiterentwickeln!). Am Ende hat mich der Autor aber doch noch gekriegt – gänzlich unerwartet übrigens, ich habe schon die letzten Seiten herbeigesehnt und gar nicht mehr damit gerechnet. In der einzigen Szene, in der dann endlich mal Gefühle gezeigt und besprochen werden, sind dann bei mir doch noch die Tränen gekullert – was mich gefreut hat. Und einem Buch, das mich zum Weinen gebracht hat, kann und will ich nicht weniger als 3,5 Sterne geben. Das Ende selbst war mir dann gleichzeitig zu positiv (und inkonsequent) und auch zu offen – auch wenn es natürlich mehrere Möglichkeiten gibt, es zu interpretieren…

Eine feministische Analyse fällt leider ernüchternd aus. Das Geschlechterverhältnis ist vollkommen unausgeglichen, das Buch ist meilenweit davon entfernt, den Bechdel-Test zu bestehen und die einzige Frau, die vorkommt, wird (abgesehen von ihrer Intelligenz) sehr negativ dargestellt. Außerdem wird sie ständig objektifiziert und sexualisiert (wer denkt nicht bei seiner verstorbenen Frau zuerst mal an ihre Brüste?), bezeichnet sich sogar selbst als „Schl+mpe“ und „H+re“. Ich meine, wer kennt sie nicht, diese Frauen, die sich selbst so nennen? Come on! Das ist einfach nur misogyn und unglaubwürdig, typischer Fall von „Männer schreiben Frauenfiguren, können sich aber nicht wirklich in die Lebensrealität von diesen hineinversetzen“. Dass McCarthy beim Verfassen dieses Romans bereits über 70 (= ein alter weißer Mann) war, ist hier leider nicht zu übersehen (auch das I-Wort und „schwachsinnig“ [Ableismus] kommen übrigens einmal im Buch vor). Pluspunkte gibt es immerhin dafür, dass hier ein alleinerziehender Vater mit seinem Sohn im Mittelpunkt steht und auch immer wieder Gefühle zeigt und vor dem Kind weint.

Mein Fazit

Ja, die „Straße“ hat mich am Ende doch noch gekriegt und zum Weinen gebracht, manche Bilder werde ich vermutlich nie mehr aus dem Kopf bekommen und keine Welt wird jemals wieder so düster und hoffnungslos und finster sein wie Cormac McCarthys – trotzdem habe ich mehr erwartet, denn ein absolutes Meisterwerk und neues Lieblingsbuch ist sie für mich leider nicht geworden. Dafür fand ich den postapokalyptischen Roman sprachlich und emotional nicht überzeugend genug. Wer endlich auch mitreden möchte, kann dieses Buch durchaus lesen – aber ein Must-read ist es meiner Meinung nach nicht…

Bewertung (in Schulnoten)

Cover / Aufmachung (altes Cover): 3
Idee: 1+ ♥
Inhalt, Themen, Botschaft: 2-3
Umsetzung: 2-3
Worldbuilding: 2
Einstieg: 2
Ende: 3
Schreibstil: 3
Figuren: 2-3
Spannung: 3-4
Pacing/Tempo: 3-4
Wendungen: 3
Atmosphäre: 2
Emotionale Involviertheit: 2-3
Feministischer Blickwinkel: 4
Einzigartigkeit: 2

Insgesamt:

Note 2-3

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