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Meinungen aus der Lesejury

Veröffentlicht am 15.08.2020

3,5*: Entschleunigende, poetische Liebeserklärung an die Natur & ungewöhnliche Freundschaften – stellenweise leider langatmig!

Offene See
0

Spoilerfreie Rezension!

Inhalt

Der junge Robert soll (zu seinem Missfallen) in die Fußstapfen seines Vaters treten und auch Bergarbeiter werden. Zuerst unternimmt er aber nach dem Schulabschluss (kurz ...

Spoilerfreie Rezension!

Inhalt

Der junge Robert soll (zu seinem Missfallen) in die Fußstapfen seines Vaters treten und auch Bergarbeiter werden. Zuerst unternimmt er aber nach dem Schulabschluss (kurz nach dem 2. Weltkrieg) eine Reise zum Meer. Dabei trifft er auf eine unkonventionelle Dame, die seinen Blick auf die Welt für immer verändern wird…

Übersicht

Einzelband oder Reihe: Einzelband
Erzählweise: Ich-Erzähler, Präteritum
Perspektive: männliche Perspektive
Kapitellänge: mittel bis lang
Tiere im Buch: +/- Es wird Fleisch und Fisch gegessen, Tiere sind nach dem Krieg unterernährt und verhungern. Außerdem berichtet die Hauptfigur, dass sie als Kind aus Spaß Tiere getötet hat. Nichts davon wird im Detail beschrieben und als Erwachsener verhält sich Robert sehr tierlieb.
Triggerwarnung: Tod von Menschen, Tod von Tieren, Suizid, Depressionen, Alkohol, Trauer, Krieg;

Warum dieses Buch?

Zuerst war ich ja unsicher, ob ich das Buch lesen sollte. Ich hatte Angst, dass es vielleicht langatmig sein könnte wegen der Naturbeschreibungen. Die vielen positiven und begeisterten Rezensionen haben mir dann aber keine Ruhe gelassen – also musste ich es auch lesen!

Meine Meinung

Einstieg (2 Lilien)

„Manchmal fühlt es sich an, als würde [mein Körper] fast nur noch von Sehnen der Erinnerung und Bändern der Hoffnung zusammengehalten. Der Verstand ist ein verstaubtes Museum.“ E-Book, Position 33

Den dialogarmen und sehr stillen Einstieg empfand ich leider als etwas zäh. Erst als Robert auf die alte Dame Dulcie trifft, kommt Schwung in die Geschichte. Ab diesem Zeitpunkt war ich in der Geschichte angekommen.

Schreibstil (4 Lilien)

„‘Die Nacht legte sich über die Wiese wie ein Schleppnetz, das langsam in tieferes Wasser sinkt, und die untergehende Sonne tauchte alles in Dunkelheit.‘“ E-Book, Position 681

Auf die Schönheit des Schreibstils wurden einige Lobeshymnen gesungen, weswegen ich Großartiges erwartete. Tatsächlich lässt sich das Buch trotz seiner komplexen Sprache sehr angenehm und flüssig lesen, Benjamin Myers schreibt poetisch und schön. Trotzdem haben mich seine Naturbeschreibungen und Vergleiche nicht durchgehend begeistert, ich habe großartigere, kreativere sprachliche Bilder erwartet und mich leider nicht so in die Sprache verliebt, wie ich mir das erhofft hätte.

Idee, Inhalt, Themen & Ende (3,5 Lilien)

„‘Das da draußen ist die offene See‘, sagte Dulcie leise. ‚Dieser ferne Streifen, wo Himmel und Wasser eins werden.‘“ E-Book, Position 1252

Mit „Offene See“ hat Benjamin Myers eine entschleunigende, poetische Liebeserklärung an die Natur und ungewöhnliche Freundschaften geschrieben, der viele starke Momente enthält, mich aber trotzdem nicht auf ganzer Linie überzeugen konnte.

Richtig gut gefallen hat mir die Entschleunigung im Roman, dieses Erkennen der Schönheit der Natur und das Wertschätzen der einfachen Dinge. Das Buch sollte übrigens lieber nicht mit hungrigem Bauch gelesen werden, weil einem die wunderbaren Essenbeschreibungen das Wasser im Mund zusammenlaufen lassen! Dem Autor gelingt es sogar, einem frisches, kühles Wasser so schmackhaft zu machen, dass man sofort etwas trinken will! Auch Themen wie Liebe, Tod, Vergänglichkeit, Krieg, Bildung, Literatur, gesellschaftliche Konventionen und Erwartungen und LGBT-Themen werden teilweise tiefgründig behandelt, was mir sehr gut gefallen hat. Immer wieder hat mich der Autor mit seinem Roman zum Nachdenken gebracht. Auch den Humor, der an manchen Stellen durchblitzt, mochte ich sehr. Ein passendes, gelungenes Ende rundet die Geschichte perfekt ab.

Trotzdem waren es mir stellenweise zu viele Naturbeschreibungen, durch die sich die Geschichte oft zog und langatmig war. An manchen Stellen hätte ich mir noch mehr Tiefe gewünscht und außerdem fürchte ich, dass der Roman nicht allzu lange nachwirken wird.

„‘Niemand gewinnt einen Krieg wirklich; manche verlieren bloß ein bisschen weniger als andere.‘“ E-Book, Position 76

Protagonist & Figuren (3 Lilien & 5 Lilien ♥)

„‘Wie spät ist es?‘
‚Ich habe keine Ahnung‘, sagte sie. ‚Ich besitze nämlich keine Uhr.‘“ E-Book, Position 740

Mit Dulcie hat der Autor eine ungewöhnliche, erfrischend unkonventionelle und absolut unvergessliche weibliche Figur geschaffen. Ich liebe ihre direkte, unverblümte Art, ihre Unabhängigkeit, ihr Hinwegsetzen über gesellschaftliche Normen, ihre Intelligenz und ihre Liebe zur Literatur. Sie ist für mich das Beste am ganzen Buch!

Robert hingegen, unser eigentlicher Protagonist, bleibt dagegen ein wenig blass. Er hätte durchaus noch etwas mehr Persönlichkeit und Ecken und Kanten haben dürfen. Stattdessen schien er nur aus klischeehaften Attributen zu bestehen, um einen Kontrast zu Dulcie zu bilden: Jugend, mangelnder Bildung, Arbeiterklasse, Selbstfindung, Unerfahrenheit. Aus dieser Figur hätte man noch mehr machen können!

Spannung (2 Lilien) & Atmosphäre (5 Lilien ♥)

„‘Denn nichts anderes sind Gespenster: die nackten Wahrheiten, denen wir lieber nicht ins Gesicht sehen, oder die Stimmen derjenigen, die wir im Stich gelassen haben. Wir tragen unsere eigenen Gespenster in uns, mit denen wir uns selbst heimsuchen.‘“ E-Book, Position 2048

Trotz des Geheimnisses, das Dulcie zu haben scheint und das von Anfang an angedeutet wird, ist der Roman sehr spannungsarm, obwohl er ja eigentlich recht kurz ist. Mir war er stellenweise zu zäh und langatmig, besonders wenn Robert alleine war. Da musste ich mich manchmal schon aufraffen, das Buch zur Hand zu nehmen. Die Gespräche mit Dulcie hingegen fand ich sehr lebendig und unterhaltsam.

Dafür punktet „Offene See“ mit seiner dichten englischen Landatmosphäre in der Nachkriegszeit, die ich sehr genossen haben! Wenn man das Buch im Sommer liest, kann man (wie ich) sicher noch besser in die Geschichte eintauchen. Man hat beim Lesen das Summen der Bienen im Ohr, köstlichen Essensgeruch in der Nase und fühlt den lauen Sommerwind im Gesicht. Toll!

Feministischer Blickwinkel (4,5 Lilien)

Bechdel-Test (zwei Frauen mit Namen sprechen miteinander über etwas anderes als einen Mann): bestanden!
Frauenfeindliche / gegenderte Beleidigungen: Schlam++

Eine feministische Analyse dieses Romans fällt positiv aus. Das Buch besteht den Bechdel-Test, enthält starke, intelligente weibliche Figuren und sogar ein weibliches Genie (endlich!). Zusätzlich werden auch LGBT-Themen angesprochen und gesellschaftliche Normen kritisiert. Zudem ist das Buch großteils (bis auf wenige Ausnahmen) frei von Geschlechterstereotypen.

Mein Fazit

Mit „Offene See“ hat Benjamin Myers eine entschleunigende, poetische Liebeserklärung an die Natur und ungewöhnliche Freundschaften geschrieben, der viele starke Momente enthält, mich aber trotzdem nicht auf ganzer Linie überzeugen konnte. Gefallen haben mir der flüssige, komplexe, schöne und poetische Schreibstil, die unkonventionelle Dulcie, die starken weiblichen Figuren, die Entschleunigung, das Erkennen der Schönheit der Natur, die Zufriedenheit mit den einfachen Dingen, die köstlichen Essensbeschreibungen, der Humor, die Dialoge, die Behandlung und Auswahl der Themen und die dichte Landatmosphäre. Nicht überzeugen konnte mich der schwierige Einstieg, der etwas blasse Protagonist, die ausufernden Naturbeschreibungen (mir waren es zu viele), das fehlende Nachhallen des Romans und die mangelnde Spannung. Zudem hätte ich mir großartigere, kreativere sprachliche Bilder und an manchen Stellen mehr Tiefe gewünscht. Eine uneingeschränkte Leseempfehlung gibt es von mir nicht, aber wer gerne stille, atmosphärische Bücher über ungewöhnliche Freundschaften liest, wird den Griff zu diesem Roman bestimmt nicht bereuen!

Bewertung

Idee: 5 Lilien ♥
Inhalt, Themen, Botschaft: 3,5 Lilien
Umsetzung: 3,5 Lilien
Worldbuilding: 5 Lilien ♥
Einstieg: 2 Lilien
Ende / Auflösung: 5 Lilien
Schreibstil: 4 Lilien
Protagonist: 3 Lilien
Figuren: 5 Lilien ♥
Spannung: 2 Lilie
Atmosphäre: 5 Lilien ♥
Emotionale Involviertheit: 3,5 Lilien
Feministischer Blickwinkel: 4,5 Lilien

Insgesamt:

❀❀❀,5 Lilien

Dieses Buch bekommt von mir dreieinhalb Lilien!

  • Einzelne Kategorien
  • Cover
  • Erzählstil
  • Handlung
  • Charaktere
Veröffentlicht am 03.08.2020

4,5*: Unterhaltsamer, herzerwärmender Roman mit liebevoll ausgearbeiteten Figuren und viel Humor!

Pandatage
0

Spoilerfreie Rezension!

Inhalt

Seit dem tragischen Unfalltod seiner Frau ist Danny alleinerziehender Vater eines Sohnes, der kein Wort mehr spricht. Aus finanzieller Not kauft er sich ein Pandakostüm, ...

Spoilerfreie Rezension!

Inhalt

Seit dem tragischen Unfalltod seiner Frau ist Danny alleinerziehender Vater eines Sohnes, der kein Wort mehr spricht. Aus finanzieller Not kauft er sich ein Pandakostüm, um als Straßenkünstler aufzutreten. Sein Sohn fasst bei einer zufälligen Begegnung Vertrauen in den fremden Panda – und er spricht …

Übersicht

Einzelband oder Reihe: Einzelband
Erzählweise: Figuraler Erzähler, Präteritum
Perspektive: männliche Perspektive
Kapitellänge: mittel bis lang
Tiere im Buch: +/- Es stirbt ein Kaninchen, weil es ein Kabel durchnagt. Zusätzlich gibt es einige Vergleiche, die verletzte oder tote Tiere enthalten, und eine Katze, die allein gehalten wird. Deshalb hier ein wichtiger Hinweis: Katzen sind alleine niemals glücklich (sie sind EinzelJÄGER, keine EinzelGÄNGER), sondern sehr einsam und unglücklich. Sie können verschiedene Verhaltensstörungen entwickeln und depressiv und/oder aggressiv werden. Wer seine Katze liebt, schenkt ihr deshalb mindestens einen Gefährten.
Triggerwarnung: Tod von Menschen, Tod von Tieren, Mobbing, Trauer;

Warum dieses Buch?

Leider ist in den Augen vieler Menschen immer noch hauptsächlich die Frau für die Kindererziehung und – betreuung zuständig, was ich sehr traurig finde! Dieses Buch rückt einen alleinerziehenden Vater und die Beziehung zu seinem Sohn in den Mittelpunkt – deshalb konnte ich es mir nicht entgehen lassen.

Meine Meinung

Einstieg (5 Lilien ♥)

Der Einstieg ist mir sehr leichtgefallen! Durch das einnehmende erste Kapitel fand ich schnell in die Geschichte und wollte sofort weiterlesen.

Schreibstil (4 Lilien)

Der Schreibstil ist anschaulich, flüssig und angenehm lesbar. Ich mochte die kreativen Vergleiche, und auch die Dialoge fand ich sehr lebendig und authentisch – es macht wirklich Spaß, sie zu lesen! Lediglich eine Sache hat mich ein bisschen gestört: Ich hätte mir an manchen Stellen gewünscht, dass der Autor öfter einmal einen Punkt gesetzt hätte, da die Länge der Sätze manchmal (meiner Meinung nach grundlos) etwas ausufert. Das hätte sicher positiv zum Lesefluss und zum Verständnis beigetragen.

„Es war, als lebte sie in einer Welt, die parallel zu seiner eigenen verlief, wie zwei Fremde in einem Hochhaus, die einander hörten, sich aber nie begegneten.“ E-Book, Position 285

Idee, Inhalt, Themen & Ende (4,5 Lilien)

„‘Und jetzt hat er keine Mutter mehr‘, hatte Roger gesagt und auf Will gezeigt, der gerade erst aus dem Krankenhaus entlassen worden war und noch einen Kopfverband trug, der zwischen den schwarzen Hemden und Kleidern wie ein Leuchtturm strahlte. ‚Jetzt ist er allein mit ‚dir‘.‘“ E-Book, Position 398

Mit „Pandatage“ ist James Gould-Bourn ein ganz besonderer, erfrischend unvorhersehbarer und herzerwärmender Wohlfühl-Roman gelungen, der mich sehr gut unterhalten und mich berührt hat. Bei Themen wie Trauer und Verlust, Freundschaft, Familie, Mobbing und finanzielle Not geht der Autor durchaus auch in die Tiefe. Besonders gut gefallen hat mir hier die Auseinandersetzung von Will mit seinem Mobber. Die paar Klischees, die in der Geschichte vorkommen, verzeihe ich gern. Das Ende ließ mich zufrieden zurück; es war so, wie man es bei einem Roman dieser Art erwartet, dabei aber nicht zu kitschig.

Am besten an diesem Roman hat mir aber der Humor gefallen. Mein Humor ist speziell, und er wird von Büchern nur selten getroffen. Die Situationskomik in „Pandatage“ hat mich aber nicht nur zum Schmunzeln gebracht, sondern sogar an einer Stelle (der „Ich nenne jeden Danny“-Szene) zu einem Lachkrampf geführt – das ist mir noch nie bei einem Buch passiert. Einfach nur köstlich – alleine für den Humor lohnt es sich, diesen Roman zu lesen!

„‘Kapier ich nicht‘, sagte Gavin, der so viele Pickel hatte, dass sein Kopf mehr Eiter als Hirn enthielt.“ E-Book, Position 196

Protagonisten & Figuren (5 Lilien ♥ & 5 Lilien ♥)

Die Figuren in „Pandatage“ konnten mich ausnahmslos überzeugen. Von den beiden Protagonisten (Will und Danny) bis hin zu den Nebenfiguren sind die Charaktere liebevoll ausgearbeitet, authentisch und gut gelungen. Die meisten sind sehr sympathisch und alle haben etwas Besonderes an sich, wodurch man sie nicht so schnell vergisst. Lediglich der „böse Zauberer“ blieb etwas eindimensional, aber das war, denke ich, Absicht.

Spannung (4 Lilien) & Atmosphäre (3 Lilien)

Ich habe „Pandatage“ sehr gern gelesen, mochte die überraschenden Wendungen und war auch immer neugierig, wie es weitergeht. Mit der Spannungskurve bin ich prinzipiell zufrieden, auch wenn ich das Buch zwischendurch problemlos aus der Hand legen konnte. Im Mittelteil hätten es allerdings durchaus noch etwas mehr Spannung und Tempo sein dürfen.

Als besonders atmosphärisch würde ich das Buch nicht beschreiben, dafür waren die Beschreibungen der Umgebung nicht detailliert und stimmungsvoll genug. Das stört bei diesem Roman aber nicht weiter, da andere Aspekte klar im Vordergrund stehen.

Feministischer Blickwinkel (3 Lilien)

Bechdel-Test (zwei Frauen mit Namen sprechen miteinander über etwas anderes als einen Mann): nicht bestanden!
Frauenfeindliche / gegenderte Beleidigungen: Flitt++++, Schlam++, Bit++

Eine feministische Betrachtung dieses Romans hinterlässt bei mir eher gemischte Gefühle. Einerseits ist es zwar schön, dass hier der Alltag eines alleinerziehenden Vaters in den Mittelpunkt gerückt wird, dass Männer Gefühle zeigen, es eine starke, selbstbewusste weibliche Figur gibt und dass immer wieder mit Geschlechterstereotypen gebrochen wird. Andererseits gibt es im Buch ein großes Geschlechterungleichgewicht (einen Männerüberschuss), was absolut nicht mehr zeitgemäß ist. Dadurch besteht der Roman natürlich auch den Bechdel-Test nicht, was ich sehr schade finde! Zusätzlich wird deutlich, dass Danny viele Haushaltspflichten und andere Dinge erst lernen muss, weil dafür vor ihrem Tod großteils seine Ehefrau zuständig war. Diese ungleiche Verteilung der Haushalts- und Betreuungspflichten wird leider nur unzureichend thematisiert – es werden lediglich Ausreden serviert, warum Danny damals so viel gearbeitet hat. Ebenso gestört hat mich das Slutshaming an einer Stelle, an der Krystal behauptet, dass die Affäre ihres Freundes eine „Schlam++“ sei, obwohl doch ihr Freund untreu war und hier die Schuld trägt! Hier merkt man leider, dass dem Autor teilweise noch das Bewusstsein für feministische Problematiken und Ungerechtigkeiten fehlt. Es bleibt zu hoffen, dass er das bis zur Veröffentlichung seines nächsten Buches ändert.

Mein Fazit

Mit „Pandatage“ ist James Gould-Bourn ein ganz besonderer, erfrischend unvorhersehbarer und herzerwärmender Wohlfühl-Roman gelungen, der mich sehr gut unterhalten konnte und mich berührt hat. Der angenehme, anschauliche Schreibstil mit den lebendigen Dialogen und den gelungenen Vergleichen, der einfache Einstieg in die Geschichte, die köstliche Situationskomik, die liebevoll ausgearbeiteten Figuren, die tiefgründige Verarbeitung der Themen, das Ende, die Wendungen und der Spannungsbogen konnten mich überzeugen. Gestört haben mich lediglich die teilweise unnötig langen Sätze, die vereinzelten Klischees, das Geschlechterungleichgewicht (Männerüberschuss), das Slutshaming und kleinere Spannungseinbrüche. Von mir gibt es jedenfalls eine Leseempfehlung – wenn ihr zur Abwechslung mal Tränen LACHEN anstatt weinen wollt, solltet ihr euch diesen tanzenden Panda definitiv nicht entgehen lassen!

Bewertung

Idee: 5 Lilien ♥
Inhalt, Themen, Botschaft: 4,5 Lilien
Umsetzung: 4,5 Lilien
Worldbuilding: 4 Lilien
Einstieg: 5 Lilien ♥
Ende / Auflösung: 4 Lilien
Schreibstil: 4 Lilien
Protagonisten: 5 Lilien ♥
Figuren: 5 Lilien ♥
Spannung: 4 Lilie
Atmosphäre: 3 Lilien
Emotionale Involviertheit: 4 Lilien
Feministischer Blickwinkel: 3 Lilien

Insgesamt:

❀❀❀❀,5 Lilien

Dieses Buch bekommt von mir viereinhalb Lilien!

  • Einzelne Kategorien
  • Cover
  • Erzählstil
  • Handlung
  • Charaktere
Veröffentlicht am 24.07.2020

4,5*: Atemlos spannender, wendungsreicher Thriller mit unheimlichem Setting und Gänsehautmomenten!

Verschließ jede Tür
0

Spoilerfreie Rezension!

Inhalt

Eine junge Frau mit finanziellen Problemen erhält einen sehr gut bezahlten Wohnungssitter-Job in einem berühmten Wohnhaus für die Reichen in Manhattan. Sie kann ihr Glück ...

Spoilerfreie Rezension!

Inhalt

Eine junge Frau mit finanziellen Problemen erhält einen sehr gut bezahlten Wohnungssitter-Job in einem berühmten Wohnhaus für die Reichen in Manhattan. Sie kann ihr Glück kaum fassen! Jedenfalls bis eine Sitter-Kollegin spurlos verschwindet – angeblich ist sie überstürzt ausgezogen. Doch Jules kann das nicht glauben. Sie fängt an, gefährliche Nachforschungen anzustellen…

Übersicht

Einzelband oder Reihe: Einzelband
Erzählweise: Ich-Erzähler, Präsens
Perspektive: weibliche Perspektive
Kapitellänge: kurz bis mittel
Tiere im Buch: ♥ Es wird zwar Fleisch gegessen und von einzelnen Personen Pelz getragen, aber es werden keine Tiere verletzt, gequält oder getötet – im Gegenteil, ein Hund wird sogar mehrmals gerettet.
Triggerwarnung: Tod von Menschen, Feuer, Suizid, Depression, selbstverletzendes Verhalten;

Warum dieses Buch?

Der Klappentext klang so unheimlich, spannend und vielversprechend, dass für mich an diesem Buch kein Weg vorbeiführte!

Meine Meinung

Einstieg (3 Lilien)

Gleich die ersten, rätselhaften Seiten machen neugierig, danach dauert es aber etwas, bis die Geschichte in Schwung kommt und man ins Buch findet.

Schreibstil (4 Lilien)

Riley Sager hat einen einfachen, flüssig lesbaren und anschaulichen Schreibstil. Trotzdem fand ich ihn gewöhnungsbedürftig. Irgendwie störte mich diese Unruhe (mich erinnerte der Schreibstil ein wenig an Casey McQuistons) und die fehlende Präzision bei dem Formulierungen. Nach und nach freundete ich mich aber immer mehr mit der Sprache des Autors an und mochte sie zunehmend.

Idee, Inhalt, Themen & Ende (4 Lilien)

„‘[…] so fühlt sich’s für mich an. Als würde in dem Haus all das spuken, was dort schon passiert ist. All die schlimmen Dinge. Wie Staub, der sich ansammelt und in der Luft liegt. Und wir atmen ihn ein, Jules.‘“ E-Book, Position 1140

„Verschließ jede Tür“ ist ein rundum gelungener Thriller, der bekannte Elemente auf neue, überzeugende Weise miteinander verbindet. Großartig fand ich zudem den Aufbau: Es gibt zwei Zeitebenen. In der Gegenwart liegt Jules nach einem Autounfall im Krankenhaus, in der Vergangenheit (die nur 6 Tage zurückliegt) begleiten wir Jules bei ihrem Einzug und in den Tagen danach. Man fragt sich unweigerlich, was in dieser kurzen Zeit passiert ist, dass Jules solche Angst hat. Das macht natürlich neugierig! Ich konnte das Buch kaum mehr beiseitelegen – genau so muss das bei einem Thriller sein!

Thematisch stehen finanzielle Probleme, Familie, Trauer, Klassenunterschiede, Moral, Reichtum und Freundschaft im Mittelpunkt – der Autor (dessen Name übrigens ein Pseudonym ist) behandelt alle diese Themenbereiche mit angemessener Tiefe. Das Ende fand ich rund, es hat mich zufrieden zurückgelassen, auch wenn es mir nicht allzu lange in Erinnerung bleiben wird. „Verschließ jede Tür“ wird jedenfalls nicht mein letztes Buch des Autors bleiben – dafür war dieser Thriller einfach zu gut!

Protagonistin & Figuren (4 Lilien & 5 Lilien ♥)

Die fünfundzwanzigjährige Jules habe ich als Protagonistin sehr gerne begleitet. Sie ist eine bescheidene, intelligente Frau, der moralisches Handeln wichtig ist. Gestört hat mich an ihr nur, dass sie es meiner Meinung nach mit ihrem „Ich-bin-so-arm-und-ein-Niemand-im-Vergleich-zu-den-Reichen-Leuten-in-diesem-Haus“-Gerede ein wenig übertrieben hat, das fand ich echt anstrengend und nervig. Ähnlich war es mit den Verweisen auf das Schicksal ihrer Schwester. Ich hatte es schon beim ersten Mal verstanden, also hätte man sich hier die (übertrieben gesagt) 200 Wiederholungen sparen können. Hierfür ziehe ich einen halben Punkt ab!

Die anderen Figuren haben mir auch durch die Bank wirklich gut gefallen, sie sind interessant und liebevoll ausgearbeitet und wirken sehr lebendig. Besonders Greta mochte ich sehr.

Spannung (5 Lilien ♥) & Atmosphäre (5 Lilien ♥)

„Aus der Nähe ist das Tapetenmuster noch erdrückender. All die Blumen sind aufgesperrt wie Mäuler. Die Blütenblätter berühren sich, die ovalen Zwischenräume sind so dunkelrot, dass es an Schwarz grenzt. Sie erinnern an Augen. Als wäre die Tapete mit Augen besetzt.“ E-Book, Position 656

Die größten Stärken dieses Thrillers sind seine atemlose Spannung, seine unheimlichen Gänsehautmomente, die schaurigen Traumsequenzen und die unheilvolle, dichte Atmosphäre im geschichtsträchtigen Bartholomew-Wohnhaus. Das Miträtseln macht großen Spaß! Obwohl ich schon weit vor der ersten Hälfte geahnt habe, was hinter den mysteriösen Vorkommnissen steckt, tat das der Spannung keinen Abbruch – und das ist wirklich eine Leistung! Ich habe es geliebt, mich abends mit diesem Buch im Bett richtig schön zu gruseln!

Feministischer Blickwinkel (4 Lilien)

Bechdel-Test (zwei Frauen mit Namen sprechen miteinander über etwas anderes als einen Mann): bestanden!
Frauenfeindliche / gegenderte Beleidigungen: Tussi

Eine feministische Analyse fällt bei diesem Thriller ebenfalls positiv aus. Das Buch besteht den Bechdel-Test und enthält viele starke weibliche Figuren. Zudem ist es großteils frei von Geschlechterstereotypen. Lediglich dass eine Frau nach einem One-Night-Stand ihren Heimweg am Morgen als „walk of shame“ bezeichnet und sich Sorgen macht, ob ihr Partner nun denken könnte, sie sei „leicht zu haben“, hat mich gestört. Dieses Denken muss endlich aufhören! Jede Frau darf ihr Liebesleben heutzutage so leben, wie sie mag – und es gibt keinen Grund, sich dafür zu schämen oder sich schlecht zu fühlen!

Mein Fazit

„Verschließ jede Tür“ ist ein rundum gelungener Thriller, der bekannte Elemente auf neue, überzeugende Weise miteinander verbindet. Es dauert ein wenig, bis die Geschichte in Schwung kommt, aber Dranbleiben lohnt sich! Der Plot, die Verarbeitung der Themen, die intelligente Protagonistin, die interessanten Nebenfiguren, die unheilvolle, dichte Atmosphäre und die atemlose Spannung konnten mich auf ganzer Linie überzeugen. Einen halben Stern Abzug gibt es für inhaltliche Wiederholungen und den Schreibstil, an den ich mich erst einmal gewöhnen musste. Ich kann euch diesen Thriller jedenfalls nur wärmstens ans Herz legen! Zieht gemeinsam mit Jules ins unheimliche Bartholomew ein und begleitet sie bei ihren spannenden Nachforschungen – aber kontrolliert vor der Lektüre unbedingt, ob ihr auch alle eure Türen verschlossen habt! Ihr wollt euch doch nicht während des Lesens einer gruseligen Szene fragen müssen: War da etwas? Ein Geräusch? Bin ich vielleicht nicht alleine?

Bewertung

Idee: 5 Lilien ♥
Inhalt, Themen, Botschaft: 5 Lilien ♥
Umsetzung: 4,5 Lilien
Worldbuilding: 5 Lilien ♥
Einstieg: 3 Lilie
Ende / Auflösung: 4 Lilien
Schreibstil: 5 Lilien ♥
Protagonistin: 5 Lilien ♥
Figuren: 5 Lilien ♥
Spannung: 4 Lilie
Atmosphäre: 2 Lilien
Emotionale Involviertheit: 5 Lilien
Feministischer Blickwinkel: 4 Lilien

Insgesamt:

❀❀❀❀,5 Lilien

Dieses Buch bekommt von mir viereinhalb Lilien!

  • Einzelne Kategorien
  • Cover
  • Erzählstil
  • Handlung
  • Charaktere
Veröffentlicht am 22.07.2020

Handwerklich gut gemachter, unterhaltsamer Reihenauftakt – lediglich etwas mehr Island-Atmosphäre hätte ich mir noch gewünscht!

Das Netz
0

Spoilerfreie Rezension!


Inhalt

Nach einer schmutzigen Scheidung hat Sonja das Sorgerecht für ihren Sohn verloren. Um sich finanziell abzusichern und es wieder zurückzubekommen, ist sie bereit, alles ...

Spoilerfreie Rezension!


Inhalt

Nach einer schmutzigen Scheidung hat Sonja das Sorgerecht für ihren Sohn verloren. Um sich finanziell abzusichern und es wieder zurückzubekommen, ist sie bereit, alles zu tun – auch Drogen zu schmuggeln. 3 Menschen verfangen sich in einem Netz der Kriminalität…

Übersicht

Einzelband oder Reihe: Band 1 einer Trilogie (Band 2 erscheint im Oktober 2020)
Erzählweise: Figuraler Erzähler, Präteritum
Perspektive: weibliche und männliche Perspektive
Kapitellänge: sehr kurz
Tiere im Buch: - Es werden Hunde vergiftet, ein Tiger wird nicht artgerecht gehalten, eine Fliege stirbt. Zusätzlich wird Fleisch gegessen. Es werden keine Tiere gequält.
Triggerwarnung: Drogen, Alkoholismus, (auch sexualisierte und häusliche) Gewalt, Depression, Folter, Tod von Tieren;

Warum dieses Buch?

Die positiven Rezensionen auf Goodreads haben mich neugierig gemacht. Außerdem liebe ich Island!

Meine Meinung

Einstieg (4 Lilien)

„Die Sorgen und Nöte von damals wirkten in der Rückschau so unglaublich unbedeutend. Seit Sonja in die Falle geraten war.“ E-Book, Position 58

Im ersten Kapitel begleiten wir Sonja bei einem Drogenschmuggel. Man fiebert gleich mit ihr mit und ist gespannt, ob sie erwischt wird. Schon nach wenigen Seiten war ich in die Geschichte eingetaucht.

Schreibstil (5 Lilien ♥)

„Das Wasser spiegelte das Grau des Himmels, kräuselte ihn und warf ihn mit den Wellen hin und her.“ E-Book, Position 1691

Lilja Sigurðardóttirs Schreibstil hat mir sehr gut gefallen! Ihre Sätze haben eine nordische Kühle, die ich mochte, und weisen eine gewisse Komplexität auf, die einem aber kaum auffällt, weil sie so flüssig und angenehm lesbar sind. Die Autorin schreibt relativ schnörkellos und verzichtet großteils auf Metaphern und Vergleiche. Trotzdem gelingt es ihr, anschauliche Formulierungen zu finden und sowohl Spannung zu erzeugen als auch das Innenleben ihrer Figuren sehr greifbar und intensiv zu schildern.

Idee, Inhalt, Themen & Ende (4 Lilien)

„Die Falle, wie sie diesen ganzen Schlamassel im Stillen nannte, war in Wirklichkeit gar keine Falle. Es war ein Netz. Ein Netz, das sich immer weiter zuzog, je verzweifelter sie versuchte, sich daraus zu befreien.“ E-Book, Position 2898

„Das Netz“ ist ein rundum gelungener Krimi-Reihenauftakt, der mich wirklich gut unterhalten konnte und der auch die eine oder andere unerwartete Wendung zu bieten hat. Im Mittelpunkt stehen das Island der Jahre 2010-2011, das tief in der Wirtschaftskrise steckt, und ernste Themen wie Drogenschmuggel, gescheiterte Beziehungen, der Kampf ums Sorgerecht, Alkoholismus und andere menschliche Abgründe. Dieser Krimi geht der Frage nach, warum Menschen in die Kriminalität rutschen und was ihre Motive sind. Deshalb könnte das „Netz“ durchaus auch als tiefgründige Charakterstudie beschrieben werden.

Spannung entsteht durch das Entdecken dieser menschlichen Abgründe und durch das Mitfiebern, ob die Kriminellen wohl erwischt werden. Interessanterweise stellt man sich beim Lesen immer wieder auf die Seite der TäterInnen, weil man sie natürlich kennen und lieben gelernt hat und ihre Notlagen sehr gut verstehen kann. Großartig fand ich auch den Humor, der in einzelnen Momenten durchblitzt – manche Situationen haben mich echt zum Schmunzeln gebracht (vor allem jene mit der Nachbarin, die immer wieder ihren kaputten Computer zu Sonja bringt).

Dass das Buch relativ dünn ist, merkt man ihm vor allem am Schluss an: Dieser ist sehr offen. Alle Erzählstränge hängen in der Luft, enden in einem Cliffhanger. Ich hätte mir hier mehr Antworten und ein runderes, abgeschlosseneres Ende gewünscht, aber auch mit dem vorhandenen kann ich leben. Es macht auf jeden Fall neugierig auf die Fortsetzung, das steht fest!

ProtagonistInnen & Figuren (5 Lilien ♥ & 5 Lilien ♥)

„‘Wir sind alle Raubtiere, auch wenn wir etwas anderes vorgeben.‘“ E-Book, Position 1225

Eine der größten Stärken dieses Krimis sind mit Sicherheit seine liebevoll ausgearbeiteten und interessanten Figuren. Sie sind frei von Klischees und haben nicht diese „typischen“, schon hundertmal gelesenen, sondern erfrischend andere Probleme: Sonja kämpft um das Sorgerecht für ihren Sohn, Agla will sich ihre Bi- oder Homosexualität nicht eingestehen und ist in illegale Bankengeschäfte verwickelt und Bragi leidet darunter, seine demente Frau in ein Pflegeheim gegeben zu haben. Ich habe die drei sympathischen ProtagonistInnen sehr gerne begleitet und mit ihnen mitgefiebert, mitgefühlt und mitgelitten.

Die Nebenfiguren konnten mich ebenfalls durch die Bank überzeugen, auch wenn viele von ihnen nur eine kleine Rolle haben. Besonders gern mochte ich Sonjas patente und beherzte Nachbarin, um die ich sie ehrlich gesagt sogar ein bisschen beneide.

Spannung (4 Lilien) & Atmosphäre (2 Lilien)

Durch die vielen kurzen Kapitel erzeugt dieses Buch von Beginn an ein gewisses Tempo und eine unterschwellige Spannung. Insgesamt habe ich mich von diesem Krimi sehr gut unterhalten gefühlt. Trotzdem kommt die Geschichte ein wenig langsam in Schwung. Etwas mehr Spannung hätte es also durchaus noch sein dürfen.

Hauptsächlich habe ich diese Geschichte ausgewählt, weil sie in Island spielt und weil ich das Lebensgefühl dort und die kühle nordische Atmosphäre sehr schätze. Leider kam im Buch nur wenig Island-Atmosphäre auf. Sicher, das Land und seine Probleme werden immer wieder erwähnt, aber die Geschichte hätte im Prinzip überall spielen können. Hier hätte ich mir schon mehr erhofft.

Feministischer Blickwinkel (4 Lilien)

Bechdel-Test (zwei Frauen mit Namen sprechen miteinander über etwas anderes als einen Mann): bestanden!
Frauenfeindliche / gegenderte Beleidigungen: Schlam++

Eine feministische Analyse führt bei diesem Krimi zu einem zufriedenstellenden Ergebnis, was vor allem an den starken Frauenfiguren liegt. Das Buch besteht zudem auch problemlos den Bechdel-Test. Gestört haben mich nur vereinzelte Geschlechterstereotypen und dass im professionellen Bereich verhältnismäßig wenige Frauen vertreten waren. Da war noch etwas Luft nach oben.

Mein Fazit

„Das Netz“ ist ein rundum gelungener Krimi-Reihenauftakt, der mich gut unterhalten konnte und der auch die eine oder andere unerwartete Wendung zu bieten hat. Überzeugen konnten mich der schnörkellose, kühle und angenehm lesbare Schreibstil, die liebevoll ausgearbeiteten Figuren und starken Frauen im Buch, der Humor und die ernsten und tiefgründig verarbeiteten Themen. Lediglich etwas mehr Spannung, ein weniger offenes Ende und mehr Island-Atmosphäre hätte ich mir gewünscht. Von mir gibt es für diesen handwerklich wirklich gut gemachten Krimi jedenfalls eine Leseempfehlung!

Bewertung

Idee: 4 Lilien
Inhalt, Themen, Botschaft: 4 Lilien
Umsetzung: 4 Lilien
Worldbuilding: 3,5 Lilien
Einstieg: 4 Lilie
Ende / Auflösung: 3 Lilien
Schreibstil: 5 Lilien ♥
ProtagonistInnen: 5 Lilien ♥
Figuren: 5 Lilien ♥
Spannung: 4 Lilie
Atmosphäre: 2 Lilien
Emotionale Involviertheit: 5 Lilien
Feministischer Blickwinkel: 4 Lilien

Insgesamt:

❀❀❀❀ Lilien

Dieses Buch bekommt von mir vier Lilien!

  • Einzelne Kategorien
  • Cover
  • Erzählstil
  • Handlung
  • Charaktere
Veröffentlicht am 09.07.2020

Tolles Setting und traurige Geschichte – leider kamen mir die Gefühle zu kurz!

Ich bleibe hier
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Achtung: Die Rezension enthält Spoiler zum Ausgang der Geschichte (sie geht auf den heutigen Zustand des Ortes ein)!

Inhalt

In „Ich bleibe hier“ begleiten wir die Südtiroler Lehrerin Trina von ihren ...

Achtung: Die Rezension enthält Spoiler zum Ausgang der Geschichte (sie geht auf den heutigen Zustand des Ortes ein)!

Inhalt

In „Ich bleibe hier“ begleiten wir die Südtiroler Lehrerin Trina von ihren Jugendjahren als Studentin bis ins mittlere Alter. Dabei muss die Bäuerin gegen viele Bedrohungen ankämpfen: den italienischen Faschismus, den Zweiten Weltkrieg und den Bau eines Staudamms, durch den ihr Heimatdorf überflutet und für immer zerstört werden soll.

Übersicht

Einzelband oder Reihe: Einzelband
Erzählweise: Ich-Erzähler, Präteritum
Perspektive: weibliche Perspektive
Kapitellänge: kurz
Tiere im Buch: - Es werden Tiere geschlachtet und getötet (sie ertrinken, werden mit einem Stock erschlagen), außerdem gibt es einen Kettenhund, ein Hund wird zurückgelassen und ein Hund wird an einen Schlachter verkauft.
Triggerwarnung: Tod von Tieren, Tod von Menschen, Mord, Blut, Gewalt, Krieg, Diskriminierung;

Warum dieses Buch?

Der Klappentext, der eine starke Protagonistin versprach, hat mich neugierig gemacht – außerdem wollte ich wieder einmal einen historischen Roman lesen.

Meine Meinung

Einstieg (2 Lilien)

„Bis zum Marsch auf Bozen verlief das Leben in den Grenztälern im Rhythmus der Jahreszeiten. Es schien, als käme die Geschichte nicht bis hier herauf. Sie war wie ein Echo, das verhallte.“ E-Book, Position 100

Es fiel mir schwer, in die Geschichte zu finden, weil ich mit dem Schreibstil Probleme hatte. Nach einem Drittel war ich dann endlich im Buch angekommen.

Schreibstil (3 Lilien)

Marco Balzano hat einen flüssigen und angenehm lesbaren Schreibstil. Die Sätze und Beschreibungen sind schnörkellos und klar, was mir gefallen hat. Leider empfand ich die Erzählweise aber auch als sehr nüchtern und emotionslos, was es mir schwer machte, mit den Figuren mitzufühlen und mitfiebern. Die Dialoge wirkten zudem hölzern, küsntlich und nicht besonders lebendig. Ob das wohl zum Teil an der Übersetzung liegt?

Idee, Inhalt, Themen & Ende (3,5 Lilien)

„Ich werde dir berichten, was sich hier in Graun abgespielt hat. An dem Ort, den es nicht mehr gibt.“ E-Book, Position 711

Marco Balzanos historischer Roman „Ich bleibe hier“ basiert auf wahren Begebenheiten. Der einsame Kirchturm, der mitten im Reschensee aus dem Wasser ragt und ein beliebtes Touristenziel geworden ist, bezeugt noch heute den Untergang des idyllischen Bergdorfes Graun, das beim Bau eines Staudammes überflutet wurde. Das Buch behandelt viele ernste Themen und ist nicht immer leicht zu verdauen. Es geht um Krieg, Faschismus, Diskriminierung, Sprache, Heimat, Verlust, Bildung, Mutterschaft, Familie und das Überleben unter widrigen Umständen. Auch das einfache, friedliche, aber auch harte Landleben in dieser Gegend, der Bau des Staudammes und die ungerechte Behandlung der Grauner Bevölkerung werden thematisiert. Für sein Buch hat der Autor sorgfältig recherchiert, was man auch merkt. Er hat dazu mit Augenzeugen gesprochen, aber auch viel schriftliches Material gesichtet.

In Briefen an ihre Tochter erzählt Trina ihre Geschichte. Obwohl die Vorkommnisse objektiv betrachtet teilweise schrecklich sind und obwohl einige Themen durchaus tiefgründig behandelt werden, blieben für mich die Gefühle leider beinahe vollkommen auf der Strecke. Die Geschichte konnte mich weder richtig emotional erreichen noch fesseln. Ich fühlte mich wie eine entfernte Beobachterin. Lediglich das zweite (und stärkste) Drittel des Buches konnte mich überzeugen, da gab es einige sehr starke, schockierende und berührende Momente, die ich nicht so schnell vergessen werde.

Ein weiterer Grund dafür, dass mich die Geschichte insgesamt etwas enttäuscht zurückgelassen hat, ist, dass der Klappentext meiner Meinung nach irreführend ist. Erstens nehmen der Bau des Staudammes und der Protest dagegen nur einen sehr kleinen Teil der Geschichte ein und werden dann auch schnell abgehandelt, was ich sehr schade fand. Dass das Buch eine halbe Biographie ist und Trina so viele Jahre lang begleitet, habe ich auch nicht erwartet. Zweitens wird die Protagonistin im Klappentext als starke, mutige Rebellin dargestellt, die „mit Leib und Seele“ kämpft – in Wirklichkeit ist sie das aber nur am Beginn, als sie nach dem Verbot heimlich Deutsch unterrichtet. Ab dann wird sie zu einer Mitläuferin, die großteils ihren Mann entscheiden lässt und ihm dann folgt und tut, was er sagt. Ich habe etwas anderes erwartet und bin daher enttäuscht. Vieles lässt Trina scheinbar emotionslos über sich ergehen. Vor allem bei der Szene mit dem Hund – wie konnte sie da zulassen, dass Erich sich durchsetzt? Ich würde mein Tier mit Zähnen und Klauen verteidigen, wenn es mir jemand wegnehmen wollen würde! Das Ende selbst fand ich dann aber wieder rund und gelungen – es hat mir gut gefallen.

Protagonistin & Figuren (3 Lilien & 2 Lilien)

„Es wird schon seinen Grund haben, wenn Gott und die Augen vorne eingesetzt hat! Das ist die Richtung, in die wir schauen müssen, sonst hätten wir die Augen an der Seite wie die Fische.“ E-Book, Position 743

Trina mochte ich als Protagonistin, besonders in ihrer Studienzeit, in der sie noch sehr frei und offen wirkte (später hinterlässt ihr hartes Schicksal seine Spuren an ihr). Ich habe sie gerne begleitet, auch wenn ich das Gefühl hatte, nicht an sie heranzukommen. Es blieb ständig eine gewisse Distanz, ihre Gefühle kamen zu oft nicht bei mir an. Das machte es sehr schwer (und bisweilen sogar unmöglich) für mich, eine emotionale Bindung zu ihr aufzubauen. Bis zum Ende ist mir das nicht richtig gelungen.

Auch die anderen Figuren blieben mir bis zum Schluss fremd. Sie wirkten großteils leblos, farblos und konstruiert, sie waren nicht greifbar für mich. Außerdem war mir Erich irgendwie latent unsympathisch – ich kann nicht genau sagen warum. Für mich sind liebevoll ausgearbeitete Figuren einer der wichtigsten Aspekte bei einem Buch – wenn sie mich nicht überzeugen, hat es ein Roman bei mir sehr schwer.

Spannung (3 Lilien) & Atmosphäre (3 Lilien)

„Das Tal war nicht mehr erfüllt vom Läuten der Kuhglocken und vom Rascheln des Grases. Der Lärm der Lastwagen und Traktoren hatte die Stille getötet.“ E-Book, Position 911

Es ist nicht so, dass ich die Geschichte langatmig fand – es gab durchaus einige Szenen, in denen mir der Atem gestockt hat, aber etwas mehr Spannung und Tempo hätten ihr meiner Meinung schon gutgetan. Der Spannungbogen baut sich im ersten Drittel sehr langsam auf und erreicht im zweiten Drittel seinen Höhepunkt. Auch im letzten Drittel gibt es noch einige spannende Szenen. Dazwischen bricht die Spannung immer wieder ein, was ich aber nicht so schlimm fand, da es sich um einen historischen Roman handelt und nicht um einen Thriller. Hauptsächlich waren es die Schrecken des Krieges, die Unterdrückung, die herannahenden Bedrohungen, die eine subtile Beklemmung und Spannung erzeugten.

Das Setting der Geschichte – ein idyllisches Bergdorf in Südtirol – und die ruhige, friedliche, aber auch einfache und genügsame Lebensweise dort mochte ich sehr. Teilweise waren die Beschreibungen sehr atmosphärisch und anschaulich, in manchen Momenten hätte ich mir aber auch mehr Details (besonders was das Aussehen von Menschen betrifft) für das Kopfkino gewünscht.

Feministischer Blickwinkel (3 Lilien)

Bechdel-Test (zwei Frauen mit Namen sprechen miteinander über etwas anderes als einen Mann): bestanden!
Frauenfeindliche / gegenderte Beleidigungen: Hu++

Was den feministischen Blickwinkel auf die Geschichte betrifft, bin ich zwiegespalten. Einerseits ist Trina intelligent, kompetent und durch ihr Studium besser gebildet, als alle Männer in ihrem Umfeld; sie ist in manchen Momenten sehr stark, setzt sich durch und trifft eigene Entscheidungen. Andererseits ordnet sie sich Erichs Meinung viel zu oft unter, lässt ihn viel zu oft entscheiden und lässt sich zu viel gefallen. Ich hätte mir eine emanzipiertere, rebellischere, energischere Trina gewünscht. Damals waren zwar die Geschlechterrollen zwar noch anders verteilt (das sehe ich ein), aber manche Geschlechterstereotypen hätten nicht sein müssen. Gestört haben mich auch Aussagen wie die, dass Erich mit dem Baby nichts anfangen kann, weil es noch nicht reden kann. Na, Glück gehabt, dass Frauen mit ihren Babys etwas anfangen können, denn wer würde sie sonst versorgen? So eine Aussage können sich nur Männer erlauben – ich finde es schade!

Mein Fazit

Marco Balzanos historischer Roman „Ich bleibe hier“ basiert auf wahren Begebenheiten, behandelt viele ernste Themen und ist nicht immer leicht zu verdauen. Ich mochte die Klarheit des angenehm lesbaren Schreibstils, die Protagonistin, das schöne Setting und das starke zweite Drittel des Romans mit seinen berührenden und schockierenden Momenten. Insgesamt lässt mich das Buch aber etwas enttäuscht zurück, was vor allem an der emotionslosen Nüchternheit des Schreibstils, am irreführenden Klappentext, an den hölzernen Dialogen und daran, dass mich das Buch emotional leider nicht erreichen und fesseln konnte, liegt. Von mir gibt es daher keine klare Leseempfehlung – aber da so viele Leser*innen von der Geschichte begeistert waren, solltet ihr dieser Reise nach Südtirol auf jeden Fall eine Chance geben! Vielleicht gefällt sie euch ja besser als mir.

Bewertung

Idee: 5 Lilien
Inhalt, Themen, Botschaft: 3,5 Lilien
Umsetzung: 3 Lilien
Worldbuilding: 3,5 Lilien
Einstieg: 2 Lilie
Ende / Auflösung: 4 Lilien
Schreibstil: 3 Lilien
Protagonistin: 3 Lilien
Figuren: 2 Lilien
Spannung: 3 Lilie
Atmosphäre: 3 Lilien
Emotionale Involviertheit: 2 Lilien
Feministischer Blickwinkel: 3 Lilien

Insgesamt:

❀❀❀ Lilien

Dieses Buch bekommt von mir drei Lilien!

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