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Veröffentlicht am 10.07.2019

Düsteres, atmosphärisches Meisterwerk - besser kann man einen historischen Krimi nicht schreiben!

1793
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Spoilerfreie Rezension!

Inhalt

In Stockholm, im Jahre 1793, wird eine vollkommen entstellte Leiche gefunden. Ihr fehlen Arme, Beine, Zähne und Zunge. Was ist bloß mit dieser armen Person geschehen? ...

Spoilerfreie Rezension!

Inhalt

In Stockholm, im Jahre 1793, wird eine vollkommen entstellte Leiche gefunden. Ihr fehlen Arme, Beine, Zähne und Zunge. Was ist bloß mit dieser armen Person geschehen? Ein ungleiches Paar – ein vom Krieg traumatisierter Stadtknecht und ein idealistischer Jurist, der an Tuberkulose leidet und dem nicht mehr viel Zeit bleibt, – schließt sich zusammen, um den grausamen Mord aufzuklären. Doch was sie herausfinden, ist noch viel schrecklicher, als sie befürchtet haben…

Übersicht

Einzelband oder Reihe: Band 1 einer Dilogie / Reihe (?); laut Goodreads wird es auch eine Fortsetzung geben; „1794“ soll bereits in diesem September auf Schwedisch erscheinen
Verlag: Piper
Seitenzahl: 496
Erzählweise: Figuraler Erzähler, Präsens
Perspektive: männliche (Jean Michael, Cecil etc.) und weibliche Perspektive (Anna)
Kapitellänge: kurz bis mittel
Tiere im Buch: -! Für TierfreundInnen ist dieses Buch leider nicht immer leicht zu verdauen. Im Stockholm des 18. Jahrhunderts geht es ziemlich brutal zu, niemand (bis auf wenige Ausnahmen) scheint da ein Herz für Tiere zu haben. Es werden Tiere erschossen, geschlachtet und gegessen, es gibt Kettenhunde, die jahrelang keinen einzigen Sonnenstrahl zu Gesicht bekommen und tagelang hungern müssen, es wird von Hundekämpfen gesprochen, Rinder und Pferde verbrennen bei lebendigem Leibe, man erfreut sich an Tanzbären (die, wie jede/r mittlerweile weiß, sehr grausam ausgebildet werden) und es gibt einen Fall von furchtbarer Tierquälerei (jemand reißt Mücken die Flügel und alle Beine aus und lässt sie im Anschluss tagelang leiden), der mich unglaublich wütend gemacht hat.

Warum dieses Buch?

Diesem Buch konnte man in der letzten Zeit nicht entkommen! Überall (Instagram, Buchcommunitys) tauchte es auf und die ersten Rezensionen waren so begeistert, dass ich neugierig wurde - obwohl ich momentan eigentlich nicht so gerne Krimis und historische Romane lese. Aber der Klappentext, der Preis, den das Buch schon abgeräumt hat (Schwedischer Krimipreis), das Lob anderer Autoren ("Meisterwerk") und die schwärmerischen LeserInnenstimmen führten schließlich dazu, dass ich das Gefühl bekam, dass man sich dieses Buch auf keinen Fall entgehen lassen darf!

Meine Meinung

Einstieg (♥)

Die Geschichte beginnt ohne Umschweife mit dem Fund der grausam zugerichteten Leiche in einem Stockholmer See. Schon auf den ersten Seiten wird eine derart dichte Atmosphäre geschaffen, dass man sich schon mit Händen und Füßen dagegen wehren müsste, um nicht augenblicklich in die Geschichte hineingezogen zu werden.

Schreibstil (♥)

Daran ist sicherlich auch der grandiose Schreibstil schuld. Als ich das Buch begonnen habe, haben mich mehrere Dinge sehr überrascht: Erstens ist dieser historische Krimi im Präsens verfasst, und zweitens ist von einem altmodischen, schwülstigen Schreibstil in diesem Roman keine Spur! Im Gegenteil: Niklas Natt och Dag schreibt (bis auf wenige alte Wörter) sehr modern, weswegen ich sogar so weit gehen würde, zu sagen, dass ich ihn endlich gefunden habe – den historischen Roman für alle, die keine historischen Romane mögen! „1793“ liest sich wie ein moderner Krimi – nur dass das Setting nach Schweden ins 18. Jahrhundert verlegt wurde.

Meiner Meinung nach ist der Schreibstil eine der größten Stärken des Buches: Der Autor schreibt unglaublich angenehm, sehr anschaulich, kraftvoll, bildlich und atmosphärisch – ohne sich jedoch in Details zu verlieren. Einfache Sätze lassen einen durch das Buch rasen, gelungene Beschreibungen und sprachliche Bilder verwöhnen das LeserInnenherz, zahlreiche lebendige, glaubwürdige Dialoge lockern den Text auf. Egal ob es darum geht, Spannung zu erzeugen oder intensive Gefühle bei seinen LeserInnen auszulösen – Niklas Natt och Dag gelingt beides meisterhaft und scheinbar mühelos. Dass es sich bei diesem Buch um ein Debüt handeln soll, kann man kaum glauben!

Nur eine Kleinigkeit, die die Übersetzung betrifft, hat mich besonders am Beginn massiv gestört: Ich weiß nicht, warum man sich dazu entschieden hat, bei verschiedenen Orten, Brücken, Flüssen etc. den Originalnamen zu belassen, ohne zu erklären, worum es sich genau handelt. Da standen dann Sätze wie „Er ging zu XY (schwedisches Wort)“ - und ich hatte keinen Schimmer, worum es sich handelte! Das fand ich sehr mühsam und nervig! Man wollte hier vermutlich durch die übernommenen Worte eine gewisse schwedische Atmosphäre kreieren – leider ist das meiner Meinung nach hinten losgegangen. Gut hätte ich es gefunden, wenn man den Original-Namen mit der deutschen Bezeichnung für das Ding kombiniert hätte, z. B. „XY-Brücke“ oder „Straße XY“.

Inhalt, Themen, Botschaften & Ende (♥)

„‘Was meinen Sie, Herr Winge – sind wir Menschen einander wie Wölfe, die nur auf die geringste Schwäche lauern, ehe sie zum Angriff übergehen?‘“ E-Book, Position 116

Niklas Natt och Dag wurde unter anderem mit dem Schwedischen Krimipreis ausgezeichnet; sein Buch wurde bereits in 30 Sprachen übersetzt und millionenfach verkauft – und ist somit bereits jetzt ein internationaler Erfolg. Der Hype ist auch in Deutschland und Österreich angekommen. „Jaja“, werdet ihr nun vielleicht sagen, „aber ist der Hype auch berechtigt?“ In einem Wort: Ja! Und wie! Der Autor, der übrigens ein Mitglied der ältesten Adelsfamilie Schwedens ist und daher eine starke persönliche Beziehung zur Geschichte des Landes hat, hat laut seinen eigenen Worten sehr genau recherchiert, bevor er diesen Roman geschrieben hat – und das merkt man auch bei jedem Wort. Die Menschen (viele basieren auf realen Personen), die Schauplätze, das Leben im damaligen Schweden wirken so echt und greifbar, als würde man sich selbst dort befinden.

Das ist übrigens gar nicht immer so angenehm und schön, wie man vielleicht im ersten Moment erwarten würde – Niklas Natt och Dags Geschichte ist nämlich schonungslos ehrlich, brutal und oft auch ekelerregend. Der Autor beschönigt nichts, sondern beschreibt auch das Unschöne bis ins Detail – den Gestank, der damals auf den Straßen herrschte, Seen voller Müll, Unrat und Fäkalien, eiternde Wunden, blutigen Auswurf und unglaublich grausame Hinrichtungen, die für mich beim Lesen kaum zu ertragen waren. Es ist daher ein Buch, das für sensible Seelen und empfindliche Mägen nur bedingt geeignet ist. Nach der Lektüre empfindet man jedenfalls große Dankbarkeit und schätzt die Sauberkeit der heutigen Straßen, die Erfindung der Kanalisation und die fortgeschrittene Entwicklung der Medizin mit neu entfachter Leidenschaft! Mich hat die Geschichte teilweise ein wenig an die Serie „The Alienist“ auf Netflix erinnert – Fans der Serie sollten sich dieses Buch keinesfalls entgehen lassen.

„1793“ ist äußerst interessant aufgebaut. Es ist in vier Teile unterteilt, die teilweise von ganz unterschiedlichen Personen handeln und manchmal auch Rückblenden beinhalten. Im ersten Teil begleiten wir den Juristen Cecil und den Stadtknecht Mickel bei ihren Ermittlungen, in Teil zwei werde wir mit einem Briefroman aus der Sicht einer ganz anderen Figur überrascht, der dritte Teil spielt in einem Spinnhaus, in dem Häftlinge erstmals durch harte Arbeit resozialisiert werden sollen, und im vierten Teil führt der Autor meisterhaft alle losen Fäden zusammen, sodass plötzlich alles einen Sinn ergibt. Am Beginn war ich von der Struktur nicht begeistert, weil mir der erste Abschnitt so gut gefallen hat, dass ich unbedingt wissen wollte, wie es weitergeht, und weil ich durch den Wechsel etwas aus dem Lesefluss gerissen wurde. Doch dem Autor gelingt es, jeden Teil so interessant und spannend zu gestalten, dass ich am Schluss absolut begeistert war! Er hat in „1793“ einen komplexen, wendungsreichen Plot kreiert, der unvorhersehbar ist und einen von der ersten bis zur letzen Seite großartig unterhält!

Doch obwohl die Ermittlungen einen großen Teil des Buches ausmachen, vergisst Niklas Natt och Dag nicht, bei (oft auch schwierigen) Themen wie Freundschaft, Kriegstraumata, dem schwierigen Überleben im damaligen Stockholm und Krankheit in die Tiefe zu gehen, was dieses Buch von vielen anderen Krimis abhebt und nur noch großartiger macht! Das Ende (und seine Auflösung) war eines der besten, das ich dieses Jahr (vielleicht auch jemals!) gelesen habe: Es rundete die Geschichte so elegant und eindrucksvoll ab, spannte den Bogen so gelungen zum Beginn des Buches, dass ich das Buch (bzw. den E-Reader) mit einem absolut begeisterten, emotionalen und befriedigten Gefühl zuschlagen konnte. Ein rundum gelungener Roman, der mir sicher lange im Kopf bleiben wird – grandios von Anfang bis Ende.

ProtagonistInnen (♥)

Wer erwartet, dass wenigstens bei den Figuren etwas schiefgegangen ist, den muss ich leider enttäuschen. Die ProtagonistInnen der Geschichte sind unglaublich liebevoll ausgearbeitet, sie sind authentisch, lebendig, dreidimensional, unvergesslich und haben alle ihre Stärken und Schwächen, ihre Probleme und ihre Vergangenheit. Besonders die langsam entstehende Freundschaft zwischen Cecil und Jean Michael – zwei so unterschiedlichen Personen – hat etwas in mir berührt. Die beiden sind mir sehr schnell ans Herz gewachsen, ich habe mit ihnen intensiv mitgefiebert, mitgefühlt und mitgelitten.

Figuren (♥)

Auch die anderen Figuren sind rundum gelungen. Sogar wenn sie nur kleine Rollen im Buch einnehmen, bemüht sich der Autor sichtlich, sie möglichst gut auszugestalten und glaubwürdig erscheinen zu lassen.

Spannung & Atmosphäre (♥)

„‘Mich täuschen Sie nicht. Natürlich sind Sie ein Wolf. Ich habe genug erlebt, um das zu erkennen, und wenn ich tatsächlich falsch liegen sollte, dann steht Ihnen die Verwandlung kurz bevor – denn niemand streift mit den Wölfen umher, ohne ihrer Art nachzueifern. […] Eines Tages wird Blut auf ihren Zähnen schimmern, und da werden Sie begreifen, wie recht ich hatte.‘“ E-Book, Position 116

Vielleicht ist aber auch die unheimlich dichte Atmosphäre die größte Stärke des Buches. Man fühlt sich sofort in die Vergangenheit versetzt. Die Lektüre hat sich wie das kribbelige Eintauchen in ein düsteres, brutales, aber absolut interessantes und spannendes Abenteuer angefühlt. Obwohl es sich hier nicht um einen Thriller handelt, wird es teilweise atemlos spannend, ich konnte diesen historischen Roman, der sich immer mehr zu einem Pageturner entwickelte, kaum zur Seite legen. Einmal wurde es sogar regelrecht unheimlich: Da gab es eine Szene, die hat mir eine Gänsehaut beschert, wie ich sie lange (auch bei Horrorfilmen) nicht mehr hatte. Für die, die das Buch schon gelesen haben – ihr ahnt bestimmt, welcher Moment es war, oder? Der mit dem Fuß! Ist es euch da nicht auch herrlich eiskalt über den Rücken gelaufen?

Feministischer Blickwinkel (+/-)

Hier gibt es tatsächlich etwas zu kritisieren: Das Geschlechterverhältnis bei den Haupt- und Nebenfiguren (die mehr sagen als zwei Sätze) ist teilweise ziemlich unausgewogen, auch wenn es sogar eine weibliche Protagonistin gibt. Ich weiß natürlich, dass es damals eine andere Zeit war und manche Berufe nur von Männern ausgeübt werden konnten. Trotzdem würde ich mir wünschen, dass wir im Folgeband auf mehr starke Frauenfiguren treffen werden. Andererseits ist die Protagonistin eine starke, intelligente Frau, die um ihr Leben kämpft, und Männer dürfen weinen und Gefühle zeigen. Dass in diesem historischen Roman sogar LGBTQ+-Aspekte thematisiert werden, ist ein weiterer Pluspunkt. Die oft frauenfeindliche Einstellung der Gesellschaft und die manchmal auch frauenfeindliche Sprache (Hu--, Miststück) mancher Nebenfiguren verzeihe ich, weil es sich hier eben um einen historischen Roman handelt, und alles andere (leider) wohl unrealistisch wäre.

Mein Fazit

Mit seinem Debüt hat Niklas Natt och Dag einen komplexen, wendungsreichen, rundum gelungenen historischen Krimi geschaffen, der meisterhaft und erstklassig unterhält. Der Schreibstil ist unerwartet modern, wunderbar angenehm, anschaulich und atmosphärisch und zieht einen schon auf den ersten Seiten in ein unglaublich düsteres, aber auch absolut interessantes und spannendes Abenteuer hinein. Das ist übrigens gar nicht immer so angenehm, wie man vielleicht im ersten Moment denken würde – Niklas Natt och Dags Geschichte ist nämlich schonungslos ehrlich, brutal und oft auch eklig. Der Autor beschreibt nämlich auch Unschönes (den Gestank, der damals auf den Straßen herrschte, Seen voller Müll, Unrat und unglaublich grausame Hinrichtungen) bis ins Detail. Es ist daher ein Buch, das für sensible Seelen und empfindliche Mägen nur bedingt geeignet ist. Obwohl die Ermittlungen einen wichtigen Teil des Buches ausmachen, vergisst Niklas Natt och Dag nicht, bei schwierigen Themen wie Kriegstraumata und Krankheit in die Tiefe zu gehen, was dieses Buch von vielen anderen Krimis abhebt und nur noch großartiger macht! Das Ende (und seine Auflösung) war eines der besten, das ich dieses Jahr (vielleicht auch jemals!) gelesen habe: rund, elegant, emotional, befriedigend, eindrucksvoll, erinnerungswürdig. Auch die Figuren sind absolut gelungen: Besonders die Protagonisten sind unglaublich liebevoll ausgearbeitet; sie sind authentisch, lebendig, dreidimensional, unvergesslich und haben alle ihre Stärken und Schwächen, ihre Probleme und ihre Vergangenheit. Besonders die langsam entstehende Freundschaft zwischen Cecil und Jean Michael – zwei so unterschiedlichen Personen – hat etwas in mir berührt. Vielleicht ist aber auch die unheimlich dichte Atmosphäre die größte Stärke des Buches. Obwohl es sich hier nicht um einen Thriller handelt, wird es teilweise atemlos spannend, weswegen ich diesen historischen Roman kaum zur Seite legen konnte. Lediglich was das Geschlechterverhältnis im Buch betrifft, würde ich mir im Folgeband mehr Ausgewogenheit wünschen. Kurz: „1793“ ist ein düsteres, atmosphärisches Meisterwerk, das den Hype und das Lob absolut verdient hat – besser kann man einen historischen Krimi nicht schreiben! Für mich ein absolutes Lesehighlight 2019! Unbedingt lesen!

Beim zweiten Band bin ich natürlich wieder mit an Bord – ich kann es kaum erwarten, wieder in diese düstere Welt einzutauchen!

Besondere Leseempfehlung: Niklas Natt och Dag schreibt (bis auf wenige alte Wörter) sehr modern, weswegen ich sogar so weit gehen würde, zu sagen, dass ich ihn endlich gefunden habe – den historischen Roman für alle, die keine historischen Romane mögen!

Bewertung

Idee, Themen, Botschaft: 5 Sterne ♥
Umsetzung: 5 Sterne ♥
Worldbuilding: 5 Sterne ♥
Einstieg: 5 Sterne ♥
Schreibstil: 5 Sterne ♥
ProtagonistInnen: 5 Sterne ♥
Figuren: 5 Sterne ♥
Spannung & Atmosphäre: 5 Sterne ♥
Ende / Auflösung: 5 Sterne ♥
Emotionale Involviertheit: 5 Sterne ♥
Feministischer Blickwinkel: +/-
Regt zum Nachdenken an!

Insgesamt:

❀❀❀❀❀♥ Lilien

Dieses Buch bekommt von mir fünf Lilien und ein Herz – und somit den Lieblingsbuchstatus!

Veröffentlicht am 09.07.2019

Wirft tiefgründige moralische & philosophische Fragen auf, aber insgesamt schwächer als Band 1

Die Unvollkommenen
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Spoilerfreie Rezension!


Inhalt

Nach fünf Jahren wacht Lila aus einem künstlich eingeleiteten Koma auf und findet sich in einem luxuriösen Internat für Häftlinge wieder. Sie hat fünf Jahre ihres Lebens ...

Spoilerfreie Rezension!


Inhalt

Nach fünf Jahren wacht Lila aus einem künstlich eingeleiteten Koma auf und findet sich in einem luxuriösen Internat für Häftlinge wieder. Sie hat fünf Jahre ihres Lebens verloren, die sie niemals wiederbekommt. Obwohl es im Internat Essen und Zerstreuung im Überfluss gibt, sind Lila die Regeln dort zuwider und sie fühlt sich wie eine Gefangene. Gemeinsam mit einem Mithäftling plant sie ihre Flucht. Dann findet sie etwas Schreckliches heraus: Ihr ehemaliger Freund Samson Freitag wird mittlerweile als Gott verehrt und herrscht über die Menschheit. Für Lila steht fest, dass er aufgehalten werden muss – und zwar von ihr…

Übersicht

Einzelband oder Reihe: zweiter Teil einer Dilogie; momentan sind keine weiteren Teile geplant, aber die Autorin hat in der Leserunde zukünftige Fortsetzungen nicht ausgeschlossen
Verlag: Bastei Lübbe
Seitenzahl: 400
Erzählweise: Figuraler Erzähler, Präteritum, selten Präsens
Perspektive: weibliche Perspektive (Lila)
Kapitellänge: sehr kurz bis mittel
Tiere im Buch: ♥ Es werden im Buch keine Tiere verletzt, gequält oder getötet. Im Gegenteil, in der Optimalwohlökonomie ist es sogar verboten, Fleisch zu essen.

Warum dieses Buch?

Da mich der erste Band, „Die Optimierer“, vor einigen Jahren absolut begeistern konnte, war für mich die Fortsetzung natürlich ein Must-read, an dem kein Weg vorbeiführte!

Meine Meinung

Einstieg (♥)

Der Einstieg ist mir wieder schnell und gut gelungen, was zu einem großen Teil sicher am angenehmen, mir schon bekannten Schreibstil und an der Hauptfigur, die wir im ersten Band bereits kurz kennenlernen durften, lag. Ich habe das Internat auf den ersten Seiten gerne gemeinsam mit Lila erforscht und über die Erfindungen in der Zukunft gestaunt.

Schreibstil (♥)

Mit ihrem unglaublich angenehmen, flüssigen Schreibstil konnte mich Theresa Hannig wieder absolut überzeugen. Sie schreibt so anschaulich, prägnant und auf den Punkt, dass man nur so durch die Seiten fliegt und man trotzdem alles genau vor sich sehen kann. Dabei geht sie jedoch auch niemals zu sehr ins Detail. Gefühle werden eindrucksvoll und greifbar geschildert, so dass sie intensiv bei den LeserInnen ankommen. Viele glaubwürdige Dialoge lockern die Geschichte auf und sorgen für Lebendigkeit. Auch mit gelungenen Vergleichen und Metaphern kann die Autorin in diesem Band wieder punkten.

„Die zuckenden Schatten der Lampen ließen die Bäume lebendig erscheinen, als hielten sie nur still, solange sie beobachtet wurden, um sich im nächsten Moment auf die ungebetenen Gäste zu stürzen.“ Seite 116

Inhalt, Themen, Botschaften & Ende (+/-)

„‘Es wäre nicht schlimm,‘ sagte er, ‚die Maschinen wie Maschinen zu behandeln, wenn sie nicht leiden würden wie Menschen.‘“ Seite 323

Leider schwächelt bei dieser Fortsetzung der Plot. Die Geschichte braucht lange, bis sie ins Rollen kommt und plätschert meiner Meinung nach über weite Strecken träge dahin, ohne dass etwas Nennenswertes passiert. Vieles war mir zu lang gezogen, die Geschichte scheint sich manchmal im Kreis zu drehen und nicht so recht vom Fleck zu kommen. Hier hätte ich mir gewünscht, dass das Tempo angezogen und manche Stellen gekürzt worden wären. Zusätzlich habe ich mir erhofft, dass die Unvollkommenen eine größere Rolle im Buch einnehmen, als sie es schlussendlich taten. Da meine Erwartungen sehr hoch waren, weil mich „Die Optimierer“ absolut überrascht und begeistert hat, hat mich dieser Band leider insgesamt enttäuscht. Meiner Meinung nach ist er definitiv schwächer als der erste Roman, was sehr schade ist. Wer den ersten Band noch nicht gelesen hat, dem würde ich diesen übrigens wärmstens ans Herz legen – den muss man – im Gegensatz zur Fortsetzung – auf jeden Fall gelesen haben.

Überhaupt nicht überzeugen konnten mich leider dieses Mal manche Entwicklungen im Mittelteil und vor allem das Ende. Es war zwar wieder überraschend (wie in Band 1), aber leider auf keine Weise, die mir gefallen hat. Der Schluss war mir viel zu offen, zu viele Fragen blieben unbeantwortet. Am meisten gestört hat mich jedoch, dass es sehr konstruiert, abgedreht und unglaubwürdig wirkte. Manche Figuren verhielten sich meiner Meinung nach unerwartet und unpassend – so als hätte ich 100 Seiten übersprungen und eine ganz entscheidende Charakterentwicklung überlesen.

Dennoch gab es natürlich auch wieder Aspekte, die mir sehr gut gefallen haben. Zum einen gelingt es Theresa Hannig wieder hervorragend, uns in eine faszinierende Welt in der Zukunft zu entführen: Roboter sind inzwischen von Menschen nicht mehr zu unterscheiden, selbstfahrende Autos bringen die Menschen sicher von A nach B. Gefühle lassen sich mithilfe von Emochips manuell einstellen, wodurch psychische Krankheiten wie Depressionen endlich „geheilt“ werden können. Immer wieder stellt man sich unweigerlich die Frage, ob es sich bei der „Optimalwohlökonomie“ um eine Dystopie oder eine Utopie handelt, da sie doch beides – wunderbare Sonnenseiten und erschreckende Schattenseiten – verbindet. Zahlreiche hochinteressante Details wollen entdeckt werden, kleine Anspielungen und „Easter Eggs“ versüßen den LeserInnen die Lektüre.

Bei der Behandlung ihrer Kernthemen geht die Autorin wieder in die Tiefe. Die größte Stärke des Buches sind auch dieses Mal wieder die spannenden philosophischen und moralischen Fragen, die bei der Lektüre aufgeworfen werden und die einen zum Nachdenken und Grübeln bringen. Was macht uns Menschen eigentlich menschlich? Sollen Roboter, die ein Bewusstsein entwickeln, Menschenrechte erhalten? Sind simulierte Emotionen „unechter“ als unsere natürlichen, auch wenn sie sich ebenso intensiv anfühlen?

Protagonistin (+/-)

Lila haben wir schon in Band 1 kennengelernt; auch in diesem Buch war sie mir wieder sympathisch. Sie ist eine starke, intelligente Frau, die für ihre Ideale kämpft. Ich fand sie gut ausgearbeitet, ihr Verhalten (meist) glaubwürdig und konnte ihre Gefühle gut nachvollziehen. Trotzdem war da zwischen mir und ihr ständig eine seltsame Distanz, die ich das ganze Buch über nicht überbrücken konnte. Deshalb fiel es mir auch schwer, mit ganzen Herzen mit ihr mitzufühlen und mitzufiebern.

Figuren (+/-)

„‘Einsamkeit ist wie eine Krankheit. Nur umgekehrt. […] Wer einsam ist, steckt andere an, indem er sich von ihnen fernhält.‘“ Seite 322

Auch viele der anderen Figuren blieben mir fremd (Anna und der Homunculus sind hier sicher eine Ausnahme, die beiden sind toll!), auch wenn sie an sich liebevoll gezeichnet sind. Mir fehlte eine bestimmte Wärme bei ihnen, sie wirkten seltsam unterkühlt. Besonders mit Eoin konnte ich mich überhaupt nicht anfreunden. Während er mir am Beginn noch latent unsympathisch war, konnte ich ihn am Ende des Buches nicht mehr ausstehen, weil er oft so unberechenbar und egoistisch ist und weil man bei ihm nie weiß, woran man ist.

Spannung & Atmosphäre (-)

Dieses Mal fehlten mir leider über weite Strecken diese kafkaeske Grundstimmung und die subtile Spannung, die „Die Optimierer“ durchzogen hat. Der Spannungsbogen wird zwar immer wieder in einzelnen Szenen / Abschnitten aufgebaut, bricht aber nach einigen Seiten stets wieder ein, was sehr schade ist. Aus diesem Grunde (und im Vergleich zum ersten Teil) fühlte sich das Buch deshalb insgesamt etwas langatmig an. Ich habe das Buch zwar gerne gelesen, aber ich konnte es auch immer wieder mal tagelang beiseitelegen, weil es keinen richtigen Sog auf mich ausgeübt hat. Leider!

Feministischer Blickwinkel (♥)

Hier gibt es nichts zu kritisieren. Im Gegenteil, Lila ist eine starke Frau und traditionelle Rollenbilder werden immer wieder gebrochen, zum Beispiel, wenn Eoin kocht und Lila sich bekochen lässt. Zudem erinnert uns die Autorin im Buch, dass das Wort "Klassiker" kein Synonym für "Literatur, die von Männern geschaffen wurde" ist. Das kann man schließlich schnell vergessen, denn: Frauen werden bei den Kanonbildung ja leider immer noch sehr gerne übersehen und außen vor gelassen. Das ist schade, weil uns auf diese Weise so viel entgeht!

Mein Fazit

„Die Unvollkommenen“ ist eine Fortsetzung mit Stärken und Schwächen, die insgesamt aber deutlich schwächer ist als der erste Band und mich deshalb leider etwas enttäuscht hat. Die Autorin punktet zwar mit ihrem unglaublich angenehmen, prägnanten und anschaulichen Schreibstil, durch den sich das Buch schnell lesen lässt, konnte mich jedoch mit ihrer Hauptfigur leider nicht erreichen. Obwohl Lila sympathisch und gut ausgearbeitet ist, war da eine gewisse Distanz zwischen ihr und mir, die ich bis zum Ende des Buches nicht überbrücken konnte. Die Nebenfiguren wirkten teilweise (nicht alle!) ebenfalls seltsam unterkühlt, weswegen ich nicht richtig mit ihnen mitfühlen und mitfiebern konnte. Das Buch wirft zwar hochinteressante moralische und philosophische Fragen auf, die einen zum Nachdenken bringen, enttäuscht aber leider mit einem zu offenen, abgedrehten und unglaubwürdigen Ende und einem Plot, der dahinplätschert und nicht richtig in Schwung kommt. Die Geschichte wirkte auf mich leider oft zu lang gezogen, die subtile Spannung und kafkaeske, düstere Stimmung des Vorgängers fehlten mir. Kurz: „Die Unvollkommenen“ ist eine faszinierende, tiefgründige, aber auch lang gezogene Dystopie mit Schwächen, die man (im Gegensatz zum brillanten ersten Teil!) nicht unbedingt gelesen haben muss.

Sollte ein weiterer Band der Reihe erscheinen, werde ich diesem sicher noch eine Chance geben – dass der aktuelle Roman nicht so richtig meinen Geschmack getroffen hat, finde ich nicht schlimm. Ich hoffe darauf, dass mir die Fortsetzung wieder besser gefällt!

Bewertung

Idee, Themen, Botschaft: 5 Sterne ♥
Umsetzung: 3 Sterne
Worldbuilding: 4 Sterne
Einstieg: 5 Sterne
Schreibstil: 5 Sterne ♥
Protagonistin: 3 Sterne
Figuren: 3 Sterne
Spannung & Atmosphäre: 2 Sterne
Ende / Auflösung: 1 Sterne
Emotionale Involviertheit: 3 Sterne
Feministischer Blickwinkel: +

Insgesamt:

❀❀❀ Lilien

Dieses Buch bekommt von mir insgesamt drei etwas enttäuschte Lilien!

  • Einzelne Kategorien
  • Cover
  • Idee
  • Geschichte
  • Figuren
  • Erzählstil
Veröffentlicht am 30.06.2019

Spannender, wendungsreicher Pageturner mit interessanter Thematik, aber überhastetem Ende

Auris
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Spoilerfreie Rezension!

Inhalt

Jula ist eine engagierte junge Journalistin, die in ihren True-Crime-Podcast viel Herzblut steckt. Sie hat es sich zur Aufgabe gemacht, unschuldig Verurteilten zu helfen ...

Spoilerfreie Rezension!

Inhalt

Jula ist eine engagierte junge Journalistin, die in ihren True-Crime-Podcast viel Herzblut steckt. Sie hat es sich zur Aufgabe gemacht, unschuldig Verurteilten zu helfen und zu erreichen, dass ihr Fall neu aufgerollt wird. Irgendwann stößt Jula auf einen ganz und gar unglaublichen Fall: Matthias Hegel - ein gefeierter, hoch intelligenter forsensischer Phonetiker - soll eine Obdachlose brutal ermordet haben. Zumindest hat er das gestanden. Für Jula gibt es in seinem Fall zu viele Ungereimtheiten, sie ist überzeugt von seiner Unschuld. Sie beginnt fieberhaft, nach der Wahrheit zu suchen - eine Suche, die sie bald in große Gefahr bringt...

Übersicht

Einzelband oder Reihe: erster Teil einer Dilogie; Teil 2, „Aurelia“, wird 2020 erscheinen
Verlag: Droemer Taschenbuch
Seitenzahl: 352
Erzählweise: Figuraler Erzähler, Präteritum
Perspektive: hauptsächlich weibliche Perspektive (Jula), zwischendurch auch männliche Perspektive (Matthias, Elyas)
Kapitellänge: sehr kurz bis mittel
Tiere im Buch: + Auch TierfreundInnen können dieses Buch problemlos lesen. Julas Katze wird von dieser liebevoll umsorgt und muss nicht – wie so oft in Thrillern – bereits im ersten Viertel das Zeitliche segnen, um die Grausamkeit des Täters zu betonen. Fleisch wird von den Figuren im Buch jedoch schon gegessen. Einmal wird das Ponyreiten erwähnt. Da es Tieren auf Jahrmärkten etc. meist sehr schlecht ergeht, ist jedoch von dieser Freizeitbeschäftigung für Kinder dringend abzuraten.

Warum dieses Buch?

Da ich vor einiger Zeit auf der Uni einen Einführungskurs zum Thema „Forensische Phonetik“ besucht habe und dieses Gebiet sehr faszinierend und interessant finde, war mein Interesse sofort geweckt, als ich den Klappentext gelesen habe. Ich war neugierig, wie der Autor das Thema in seinem Thriller verarbeiten würde. Die erstmalige Zusammenarbeit von Kliesch und Fitzek hat mich ebenfalls neugierig gemacht.

Meine Meinung

Einstieg (♥)

Ich hatte absolut keine Probleme, in die Geschichte zu finden. Der Einstieg ist direkt, das Buch beginnt nämlich mit einer nervenaufreibenden Geiselnahme. Auf diese Weise gelingt es dem Autor schon auf den ersten Seiten, Spannung zu erzeugen.

"Das Sonnenlicht fiel aus einem kinderbuchblauen Himmel auf die Ziegeldächer der Spandauer Neubausiedlung und ließ die Tragödie, die sich im Inneren des Einfamilienhauses abspielte, noch schrecklicher erscheinen." Seite 9

Schreibstil (♥)

Den Schreibstil empfand ich als einfach, flüssig und sehr angenehm lesbar. Für einen Thriller ist die Sprache perfekt: Sie ist sehr anschaulich (das Kopfkino springt sofort an), geht jedoch nicht zu stark ins Detail (was die Geschichte Tempo kosten würde) und kann sowohl in spannenden als auch in emotionalen Momenten glänzen. So muss das sein! Man merkt jedem Satz an, dass der Autor Routine hat, da hier wirklich jedes Wort am richtigen Platz ist.

Teilweise hat mich der Schreibstil auch sehr an Fitzeks Bücher erinnert – ich weiß nicht, ob das an der sehr engen Zusammenarbeit der beiden liegt (wie stark Fitzek auf die Schreibweise Einfluss genommen hat, kann ich schlussendlich nicht abschätzen, da ich von Kliesch bisher kein Buch gelesen habe) oder daran, dass Klieschs Schreibstil einfach von Natur aus jenem von Fitzek ähnelt. Eines lässt sich aber mit Sicherheit sagen: Wer Fitzeks Thriller mag, wird wahrscheinlich auch mit diesem Buch von Kliesch seine Freude haben.

Inhalt, Themen, Botschaften & Ende (+)

„‘Von niemandem‘, dachte Jula, ‚kann man mehr missbraucht werden als von jemandem, dem man vertraut.“ Seite 47

Am Beginn des Buches steht ein charmantes Vorwort von Fitzek, in dem dieser erklärt, wie es überhaupt zur Zusammenarbeit kommen konnte. Interessant finde ich übrigens, dass sich das Hörbuch vom Buch unterscheiden soll – wie stark weiß ich allerdings nicht. Vielleicht hat ja eine/r von euch schon beides gehört / gelesen und kann es mir in die Kommentare schreiben? Sehr interessant finde ich zudem, dass der Autor nicht studiert hat, sondern eine Lehre zum Restaurantfachmann gemacht hat. Ich finde es schön, dass Menschen mit verschiedenen beruflichen Werdegängen und professionellen Hintergründen Geschichten schreiben.

Vincent Kliesch hat seine Sache meiner Meinung nach sehr gut gemacht. Er präsentiert uns in „Auris“ eine wendungsreiche Geschichte, die sich mit einem sehr interessanten Feld der Forensik auseinandersetzt. Manchmal hat der Autor sicherlich das Recht auf künstlerische Freiheit wahrgenommen, die Fakten und die Rechtslage etwas „angepasst“ und die Realität zum Wohle der Spannung / der Wirkung des Thrillers ein bisschen verändert. Das stört mich aber überhaupt nicht, solange das Thema noch plausibel dargestellt wird – und das wird es auf jeden Fall. Ein Thriller muss schließlich weder ein Sachbuch noch eine wissenschaftliche Abhandlung sein. In „Auris“ werden Themen wie Familie, Schuldgefühle, die Suche nach der Wahrheit, kompromisslose Nachforschungen, aber auch Vergewaltigung und Traumata gelungen behandelt. Bei vielen Aspekten schafft es der Autor auch in die Tiefe zu gehen, nur selten fielen mir eine gewisse Oberflächlichkeit oder auch Klischees auf.

Das Ende der Geschichte sehe ich mit einem lachenden und mit einem weinenden Auge: Einerseits ist es gelungen und macht neugierig – man will sofort weiterlesen. Andererseits wirkt der Schluss überhastet (einige Seiten mehr hätten dem Buch mit Sicherheit gut getan) und so, als hätte man sich im letzten Moment dazu entschlossen, doch noch eine Fortsetzung zu schreiben und als hätte man deshalb dringend noch schnell einen Cliffhanger gebraucht. Ich finde, dass diese Tendenz, offene Enden und Fortsetzungen zu schreiben und die LeserInnen damit zu überraschen, in letzter Zeit exzessiv wird - es passiert ständig, dass ich beim Lesen mit einem Einzelband rechne und dann am Ende feststellen muss, dass ich mich geirrt habe (zuletzt bei "Ein wirklich erstaunliches Ding" von Hank Green). Ich weiß gerne im Vorhinein, worauf ich mich einlasse (!), und mag es nicht gerne, wenn versucht wird, mit dem Ende eines Buches zum Kauf der Fortsetzung zu „zwingen“.

Protagonistin (♥)

„‘Ich weiß, dass Sie es nicht waren!‘
‚WISSEN Sie es, oder WÜNSCHEN Sie es sich nur?‘“ Seite 154

Der größte Teil des Buches wird aus Julas Sicht erzählt. Ich mochte die sympathische Protagonistin und engagierte Podcasterin von der ersten Seite an. Sie ist eine mutige, starke, selbstbewusste Persönlichkeit mit Humor, die sehr schlagfertig und eloquent sein kann - trotz der schlimmen Dinge, die ihr widerfahren sind. Mir gefällt, wie zielstrebig und kompromisslos sie ihre Ziele verfolgt und dass sie sich nicht leicht beeindrucken oder abwimmeln lässt. Meiner Meinung nach ist Jula sehr liebevoll ausgearbeitet, was mir auch in Thrillern sehr wichtig ist. Mir gefällt zudem, dass ihre dunkle Vergangenheit Spuren an ihr hinterlassen hat und dass sie sich den LeserInnen manchmal auch sehr verletzlich präsentiert. Es ist mir aus diesem Grund sehr leicht gefallen, mit Jula mitzufühlen, mitzuleiden und mitzufiebern, wodurch die Geschichte einen gewissen Sog auf mich ausgeübt hat.

Figuren (+)

Auch die anderen Figuren, wie zum Beispiel der forensische Phonetiker Hegel und Julas Bruder Elyas, sind meiner Meinung nach sehr gut gelungen, auch wenn sie nur wenige Auftritte im Buch haben. Auch die Nebenfiguren wirkten auf mich authentisch und „echt“, was mir auch in einem Thriller sehr wichtig ist.

Spannung & Atmosphäre (♥)

„‘Sie rühren an einem Mordfall, der unberührt bleiben sollte.‘“ Seite 131

Die größten Stärken dieses Thrillers sind meiner Meinung nach das hohe Tempo und die oft atemlose Spannung. Geschickt platzierte, sehr effektive Cliffhanger, die allerdings nie zu konstruiert wirken, sondern sich sehr harmonisch in die Geschichte einfügen, die kurzen Kapitel und die unerwarteten Wendungen führen dazu, dass sich dieses Buch sehr schnell lesen lässt und schnell zu einem Pageturner wird, den man kaum zur Seite legen kann. Nur selten gab es kleinere Spannungseinbrüche in der Mitte des Buches, diese haben mich jedoch nicht weiter gestört.

Feministischer Blickwinkel (+/-)

Zuerst zu den positiven Aspekten: Jula ist eine sehr starke, selbstbewusste Protagonistin, die sich nichts sagen lässt und für das, was ihr wichtig ist, kämpft wie eine Löwin. Männer kochen, die Themen Diskriminierung und Sexismus werden zumindest beiläufig gestreift. Das alles hat mir sehr gut gefallen. Auch fand ich es gut, dass die Folgen der Vergewaltigung thematisiert wurden – obwohl ich mir nicht sicher bin, ob es unbedingt diese Form von Gewalt sein musste, die Jula unbedingt erleben musste. Dieser Weg wird meiner Meinung nach zu leichtfertig eingeschlagen, wenn die Figur, die etwas Schlimmes durchgemacht haben soll, eine Frau ist.

Nicht so gut gefallen haben mir manchmal die stereotypen Beschreibungen verschiedener Nebenfiguren. Ein Beispiel aus dem ersten Kapitel: Die führende Psychologin schaut Matthias „mit großen Augen an“ und „scrollt eilig“, der männliche Einsatzleiter hingegen stemmt „mit festem Blick“ die Hände in die Hüften. Die eine gegenderte Beschimpfung des Bösewichts (Fo---) kann ich verzeihen, problematisch finde ich hingegen, dass ein Jugendlicher Frauen als „geile Bitches“ bezeichnet. Dieser toxische Blick auf Frauen macht mich zugleich traurig und wütend. Absolut nicht okay fand ich die Aussage „Der kämpft wie ein Mädchen“, die Frauen und Mädchen eindeutig abwertet. Weiblichkeit darf in der heutigen Zeit kein Synonym mehr für Schwäche sein!

Mein Fazit

„Auris“ ist ein rundum gelungener Thriller, der sich mit einer sehr interessanten Thematik – der forensischen Phonetik – beschäftigt und mich sehr gut unterhalten hat. Der anschauliche Schreibstil ist angenehm zu lesen und für einen Thriller perfekt geeignet: Er kann sowohl in spannenden als auch in emotionalen Momenten glänzen. Die mutige, schlagfertige, aber auch verletzliche Protagonistin ist liebevoll ausgearbeitet, so dass es mir sehr leicht gefallen ist, mit ihr mitzufühlen. Auch die anderen Figuren sind gut gelungen. Die größten Stärken dieses Thrillers sind aber meiner Meinung nach das hohe Tempo und die oft atemlose Spannung: Geschickt platzierte, effektive Cliffhanger, unerwartete Wendungen und kurze Kapitel machen dieses Buch zu einem Pageturner, den man kaum zur Seite legen kann. Vincent Kliesch geht meist angemessen in die Tiefe, nur selten wird es klischeehaft oder oberflächlich. Das Ende und den unerwarteten Cliffhanger sehe ich mit einem lachenden und mit einem weinenden Auge: Einerseits macht er neugierig, andererseits wirkt der Schluss aber auch sehr überhastet. Generell finde ich diese Tendenz, offene Enden und Fortsetzungen zu schreiben und die LeserInnen damit zu überraschen, in letzter Zeit exzessiv – eine Entwicklung, die mir nicht wirklich gefällt. Ich weiß gerne im Vorhinein, worauf ich mich einlasse (!), und mag es nicht gerne, wenn versucht wird, mich mit dem Ende eines Buches zum Kauf der Fortsetzung zu „zwingen“. Kurz: „Auris“ ist ein sehr unterhaltsamer, atemlos spannender Pageturner, der nur leider ein überhastetes, ihm unwürdiges Ende erhalten hat.

Den zweiten Band werde ich sehr wahrscheinlich auch lesen.

Bewertung

Idee, Themen, Botschaft: 5 Sterne ♥
Umsetzung: 4 Sterne
Worldbuilding: 4 Sterne
Einstieg: 5 Sterne ♥
Schreibstil: 5 Sterne ♥
Protagonistin: 5 Sterne ♥
Figuren: 4-5 Sterne
Spannung & Atmosphäre: 5 Sterne ♥
Ende / Auflösung: 2 Sterne
Emotionale Involviertheit: 5 Sterne ♥
Feministischer Blickwinkel: +/-

Insgesamt:

❀❀❀❀ Lilien

Dieses Buch bekommt von mir insgesamt vier zufriedene Lilien!

Veröffentlicht am 21.06.2019

Grandioses, höchst unterhaltsames Debüt - eines der besten Bücher des Jahres!

Vater unser
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Spoilerfreie Rezension!

Inhalt

Eva Gruber landet in der psychiatrischen Abteilung des Otto-Wagner-Spitals in Wien. Hingebracht wird sich auf der Rückbank eines Polizeiwagens, weil sie nämlich behauptet, ...

Spoilerfreie Rezension!

Inhalt

Eva Gruber landet in der psychiatrischen Abteilung des Otto-Wagner-Spitals in Wien. Hingebracht wird sich auf der Rückbank eines Polizeiwagens, weil sie nämlich behauptet, eine Kindergartenklasse im Zuge eines Amoklaufs getötet zu haben. Der Chefpsychiater Korb nimmt sich ihrer an und versucht, einen Blick hinter die von Eva sorgsam nach außen getragene Fassade zu erhaschen. Eine Suche nach der Wahrheit, die nicht nur für Korb, sondern auch für die LeserInnen dieses Romans zu einer Herausforderung wird…

Übersicht

Einzelband oder Reihe: Einzelband
Verlag: Hanser Berlin
Seitenzahl: 284
Erzählweise: Ich-Erzähler, Präsens & Präteritum
Perspektive: weibliche Perspektive (Eva)
Kapitellänge: eher kurz
Tiere im Buch: - Für TierfreundInnen ist dieses Buch nicht immer einfach zu ertragen: Es wird darin viel Fleisch gegessen, es werden Fische getötet, es gibt umherstreunende Bauernkatzen, unglückliche Tiere im Zoo, zerstampfte Regenwürmer, verletzte Käfer, es ist von kindlichen Tierquälereien die Rede (keine genauen Beschreibungen) und bei Vergleichen wie „wie ein verdroschener Welpe“ schwingt auch nicht gerade Tierliebe mit.

Warum dieses Buch?

Zuerst hat mich das auffällige Cover ja ehrlich gesagt ein bisschen abgeschreckt, doch als ich immer mehr begeisterte Leserstimmen vernahm und schließlich auch den Klappentext las, wusste ich, dass ich mir dieses Buch nicht entgehen lassen darf. Die unheimlich lustige, coole Art der Autorin auf Instagram hat mir dann sozusagen noch den Rest gegeben. Ich musste dieses Buch lesen – ich musste!

Meine Meinung

Einstieg (♥)

Der Einstieg in den Roman ist mir wunderbar leicht gefallen, denn: Die Geschichte ist wirklich ein Lesegenuss – und dieser beginnt schon auf den ersten Seiten, als man Eva kennenlernt und neugierig verfolgt, wie die Geschichte weitergeht.

"Auf einem handbestickten Tischtuch liegt ein Rosenkranz neben einem gerahmten Porträtfoto von Jörg Haider. Darüber hängt ein kleiner Jesus auf einem Kreuz herum.
'Mein Gott' , sag ich, 'sind wir in Kärnten?'" E-Book, Position 37

Schreibstil (♥)

Der Schreibstil ist möglicherweise das Beste am ganzen Buch. Er ist einfach gehalten, anschaulich und unglaublich angenehm zu lesen – er zergeht einem fast auf der Zunge. Angela Lehner verzichtet auf prätentiöse Schachtelsätze und hochgestochenes Vokabular, sondern schreibt erfrischend klar, bodenständig, unaufgeregt, witzig und gnadenlos ehrlich. Sie verzückt das LeserInnenherz immer wieder mit originellen, sehr gelungenen Metaphern und Vergleichen. Die Suche nach schönen/gelungenen Zitaten für meine Rezension gestaltete sich so schwierig wie nur selten zuvor: Es gibt einfach viel zu viele davon!

Besonders toll finde ich am Schreibstil außerdem, dass die Autorin nicht versucht, das Österreichische aus ihrer Sprache zu tilgen, wie viele andere AutorInnen das machen. Im Gegenteil: Angela Lehner ist sich ihrer Herkunft bewusst und lässt auf charmante Weise österreichische Begriffe, Dialekte und den typischen „österreichischen Schmäh“ einfließen. Jedoch können sich auch Nicht-ÖsterreicherInnen ohne Angst vor Verständnisschwierigkeiten an dieses Werk heranwagen, da die österreichischen Begriffe niemals überhandnehmen. Ich fühlte mich jedenfalls sofort in diesem Buch zu Hause!

Inhalt, Themen, Botschaften & Ende (♥)

„Ich muss sagen, das ist gar nicht so schlecht: Den ganzen Tag in Gummizug-Hosen flanieren und zu den Fütterungszeiten im Aufenthaltsraum abhängen. Urlaub in Lignano ist auch nicht viel anders.“ E-Book, Position 172

Mit „Vater unser“ hat Angela Lehner ein unvergessliches, unheimlich originelles und wahnsinnig unterhaltsames Debüt mit zahlreichen unerwarteten Wendungen geschaffen, das zu recht mit Lob überschüttet und gehypt wird. Die stets unvorhersehbare Geschichte handelt von Eva Gruber, einer (wie sie sich selbst bezeichnet) „Verrückten“, die in der Psychiatrie versucht, sich ihrem schwer magersüchtigen Bruder wieder anzunähern und ihn zu beschützen. Sie hat auch schon eine Idee, weiß genau, was getan werden muss, um ihn zu retten: Der Vater muss durch ihre Hand sterben. In der Psychiatrie, zwischen familiären Diskussionen, Gesprächen mit ihrem Psychiater und Musiktherapie, feilt Eva an ihren Plänen für dieses Vorhaben. Immer wieder fragt man sich beim Lesen: Wie konnte es so weit kommen? Was ist mit Eva geschehen? Wie ist sie so geworden? Durch die zahlreichen Rückblenden in die Kindheit von Eva und Bernhard wird deutlich, dass irgendetwas passiert sein muss, das Eva schwer traumatisiert hat. Ein Trauma, von dem sich beide Kinder noch immer nicht erholt haben. Was genau vorgefallen ist, wirft Rätsel auf.

„Vater unser“ kann mit Sicherheit auch als eine Milieustudie betrachtet werden, die sich mit dem Alltag in einer Psychiatrie und der Kindheit in einem konservativen Dorf auf dem Lande beschäftigt. Dabei ist die Atmosphäre so dicht, dass man sich fast fühlt, als würde man selbst im Jogginganzug durch die Korridore des Otto-Wagner-Spitals schlendern. Zahlreiche (auch unschöne) Themen behandelt die Autorin eindrucksvoll und tiefgründig: Es geht um psychische Krankheiten, um Gewalt gegen Kinder, um die Frage nach unserer subjektiven Realität, um Familie, Schmerz, Verlust, Kindheit und unverarbeitete Traumata. Über weite Strecken bedenkt die Autorin Österreich mit liebevollem Spott, immer wieder wird ihre (Gesellschafts)Kritik aber auch schärfer, was für mich sehr gut funktioniert hat.

Dieses Buch kann trotz des über weite Strecken lockeren Tons keinesfalls nebenbei gelesen werden – sonst ist das Risiko, wichtige Hinweise zu verpassen, zu groß. Sehr viel steckt nämlich zwischen den Zeilen, wird nur angedeutet. Die Suche nach der Wahrheit in Evas Geschichten und Wahrnehmung gestaltet sich äußerst schwierig. Was ist real? Was ist wirklich passiert? Was existiert nur in Evas Einbildung? Was sagt sie, um die Menschen in ihrem Umfeld zu manipulieren? Man weiß es nicht – bis zum Schluss, der leider sehr vage bleibt. Hier hätte ich mir noch mehr Informationen gewünscht (vielleicht ein Kapitel aus einer anderen, neutraleren Sicht) – andererseits, vielleicht ist es auch gerade dieses kompromisslose, völlige Abtauchen in der Psyche dieser schwer verstörten Protagonistin, das dieses Buch so großartig macht!

Protagonistin (♥)

Eva im Gespräch mit ihrem Psychiater:

"'Ach, Frau Gruber', sagt Korb und seufzt, 'so klug sind Sie. Was hätte aus Ihnen bloß alles werden können, wenn Sie nicht so verrückt wären?'
Ich nicke. 'Ja', sag ich, 'wenn ich einfach nur ein bisschen blöder wär, hätt ich zum Beispiel Psychiater werden können.'" E-Book, Position 1550

Meiner Meinung nach ist Eva eine grandiose Protagonistin – so eine ungewöhnliche, komplexe und unvergessliche Frau habe ich selten in der Literatur gesehen! Ich stimme einer Rezension zu, die ich vor einiger Zeit gelesen habe: Eva ist jung, wild, stark, mutig und rebellisch – und lebt vielleicht manchmal genau das aus, was wir uns (oft auch aus nachvollziehbaren Gründen) nicht trauen. Gleichzeitig sind wir von ihr schockiert, fasziniert und beeindruckt. Eva ist widersprüchlich (mal höflich, mal derb), verletzlich, entwaffnend ehrlich, hochintelligent und sehr humorvoll.

Ihr Blick auf die Welt ist erfrischend: Sie hinterfragt das Alltägliche, unsere Regeln und Konventionen und bringt uns damit zum Nachdenken. Ihre Ausdrucksweise hat mich manchmal vage an die Hauptfigur in Thomas Bernhards Debüt erinnert. Manchmal wirkt sie auch sehr unberechenbar. Ist Eva gefährlich? Kann man ihr als LeserIn überhaupt vertrauen? Warum behauptet sie, eine Kindergartenklasse ermordet zu haben? Trotz des Misstrauens: Es geht gar nicht anders, man fühlt und fiebert zunehmend mit Eva mit. Man fragt sich, was diese arme Person durchgemacht hat, um so zu werden und möchte sie manchmal einfach nur in den Arm nehmen. Mir ist Eva jedenfalls mit jeder Seite mehr ans Herz gewachsen und ich liebte sie am Ende des Buches mehr, als man diese manipulative, „verrückte“ Narzisstin vermutlich lieben sollte!

Figuren (♥)

Egal ob Bruder, Mutter oder Psychiater: Auch die anderen Figuren sind sehr gut gelungen, sogar jene, die nur kleine Rollen haben. Auch die Nebenfiguren wirken sehr plastisch und „echt“. Es menschelt stark in Angela Lehners Debütroman, der sich übrigens überhaupt nicht nach einem Debüt anfühlt.

Spannung & Atmosphäre (♥)

Beim Lesen wurde auch ich langsam „verrückt“ – und zwar verrückt nach diesem Buch! Ich fand die Geschichte von der ersten Seite bis zur letzten unheimlich spannend. Das lag nicht nur am angenehmen Schreibstil, der dazu führt, dass man nur so durch die Geschichte rast, sondern auch an der Sogwirkung, die das Buch auf einen ausübt. Ich war so neugierig, wie es weitergeht, dass ich das Buch kaum auf die Seite legen konnte. Die überraschenden Wendungen, die Suche nach der Wahrheit, in die man sich beim Lesen irgendwie immer mehr hineinsteigert, und die kurzen Kapitel führen zu einem unglaublich hohen Lesetempo.

Den Humor und Sarkasmus im Buch fand ich großartig! Die Lektüre war absolut unterhaltsam und hat wirklich Spaß macht. Immer wieder musste ich schmunzeln, noch öfter jedoch habe ich laut aufgelacht! Dennoch gibt es auch sehr gelungene tiefgründige, ernste, düstere, verzweifelte und traurige Momente im Buch, die mich sehr berührt haben. Genau so muss das sein!

„Im Grunde unseres Herzens sind wir Menschen doch ewige Volksschullehrer mit Betragenslisten, auf denen wir den anderen Rot- und Schwarzpunkte geben.“ E-Book, Position 488

Feministischer Blickwinkel (♥)

Die Autorin bezeichnet sich selbst offen als Feministin – alleine das finde ich schon ziemlich cool. Noch cooler ist allerdings ihre starke, mutige Hauptfigur, die sich nicht viel sagen lässt und die gerne mal mit Geschlechterklischees bricht, z. B. wenn sie versucht, ihren schwachen und sensiblen Bruder zu schützen, oder wenn sie sich selbst als „Alpha-Tier“ bezeichnet. Nicht so gut gefallen haben mir die vereinzelten gegenderten Beschimpfungen (Fo---) und der Blondinen-Witz. Aber das verzeihe ich gern, wenn der Rest so großartig ist!

Mein Fazit

Mit „Vater unser“ hat Angela Lehner ein originelles, erfrischendes und höchst unterhaltsames Debüt geschaffen. Der Schreibstil ist unglaublich angenehm zu lesen und hat einen charmanten österreichischen Einschlag. Mit entwaffnender Ehrlichkeit, genialem Humor und sehr gelungenen sprachlichen Bilder entzückt die Autorin das Leserherz. Die Geschichte ist wendungsreich und unvorhersehbar und überzeugt mit einem interessanten Setting (einer schon etwas heruntergekommenen Psychiatrie) und einer manipulativen, hochintelligenten, komplexen, traumatisierten Protagonistin, die einem schneller ans Herz wächst, als es einem lieb ist. Zahlreiche (auch unschöne) Themen wie psychische Krankheiten, die Frage nach unserer subjektiven Realität, Familie, Schmerz, Verlust, Kindheit und unverarbeitete Traumata behandelt die Autorin eindrucksvoll und tiefgründig. Eines wird schnell klar: Dieses Buch kann nicht nebenbei gelesen werden, denn sehr viel steckt zwischen den Zeilen und wird nur angedeutet. Lediglich am Ende hätte ich mir noch mehr klare Antworten auf meine Fragen gewünscht – andererseits, vielleicht ist es auch gerade dieses kompromisslose, völlige Abtauchen in der Psyche dieser schwer verstörten Protagonistin, das dieses Buch so großartig macht. Auf mich übte die spannende Geschichte jedenfalls eine so große Sogwirkung aus, dass ich das Buch kaum beiseitelegen konnte. Kurz: Mit „Vater unser“ hat Angela Lehner ein unvergessliches Debüt geschaffen, das absolut zu recht mit Lob überschüttet und gehypt wird. Für mich eines der besten Bücher 2019! Unbedingt lesen!

Bewertung

Idee, Themen, Botschaft: 5 Sterne ♥
Umsetzung: 5 Sterne ♥
Worldbuilding: 5 Sterne ♥
Einstieg: 5 Sterne ♥
Schreibstil: 5 Sterne ♥
Protagonistin: 5 Sterne ♥
Figuren: 5 Sterne ♥
Atmosphäre: 5 Sterne ♥
Spannung: 5 Sterne ♥
Humor: 5 Sterne ♥
Ende / Auflösung: 4 Sterne
Emotionale Involviertheit: 5 Sterne ♥
Feministischer Blickwinkel: ♥
Regt zum Nachdenken an!

Insgesamt:

❀❀❀❀❀♥ Lilien

Dieses Buch bekommt von mir fünf begeisterte Lilien und ein Herz – und somit den Lieblingsbuchstatus!

Veröffentlicht am 11.06.2019

3,5 Sterne: Vom ruhelosen Warten auf das drohende Unheil

Die Mauer
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Spoilerfreie Rezension!

Inhalt

Für Joseph Kavanagh ist der große, gefürchtete Tag gekommen: Er tritt seinen Dienst auf der Mauer an, die England seit dem „Wandel“ umgibt. Gemeinsam mit seinen KameradInnen ...

Spoilerfreie Rezension!

Inhalt

Für Joseph Kavanagh ist der große, gefürchtete Tag gekommen: Er tritt seinen Dienst auf der Mauer an, die England seit dem „Wandel“ umgibt. Gemeinsam mit seinen KameradInnen wird er zwei Jahre lang abwechselnd Tag und Nacht die Mauer gegen Flüchtlinge – „Andere“ – verteidigen. Er wird sich langweiligen, zu Tode ängstigen und alles geben – das muss er auch, denn er weiß: Für jeden Anderen, der die Mauer überquert, wird einer von ihnen mit einem kleinen Boot auf dem Meer ausgesetzt und muss dort ums Überleben kämpfen…

Übersicht

Einzelband oder Reihe: Einzelband
Verlag: Klett-Cotta
Seitenzahl: 348
Erzählweise: Ich-Erzähler (am Beginn kurz ein Du-Erzähler), Präteritum
Perspektive: männliche Perspektive (Joseph)
Kapitellänge: mittel bis lang
Tiere im Buch: - Es werden keine Tiere gequält. Es werden Möwen und Fische getötet, um sie zu essen. Das Fleisch ist allerdings wirklich überlebensnotwendig für die Menschen.

Warum dieses Buch?

Bei diesem Buch hat mich der Klappentext sofort neugierig gemacht, da der Autor die momentane Isolationspolitik Englands in seiner Dystopie auf die Spitze treibt!

Meine Meinung

Einstieg (+)

Der Einstieg, der sehr atmosphärisch war, ist mir rasch gelungen und eigentlich auch recht leicht gefallen. Sofort meint man, die eisige Kälte und den kalten Wind auf der Mauer selbst am Körper zu spüren.

"Es ist kalt auf der Mauer. Das ist das Erste, was einem jeder erzählt, und auch das Erste, was einem auffällt, wenn man dorthin versetzt wird. Das ist es, woran man die ganze Zeit denken muss, wenn man sich auf ihr befindet, und daran erinnert man sich, wenn man nicht mehr dort ist. Es ist kalt auf der Mauer." E-Book, Position 25

Schreibstil (+/-)

John Lanchesters Schreibstil ist eindringlich, bedeutungsschwer, lässt sich meist flüssig lesen und geht bei Beschreibungen oft sehr ins Detail. Selten ist auch ein wenig Humor enthalten, was mir sehr gut gefallen hat, weil es die Stimmung auflockert. Er besteht aus einfachen Wörtern, ist jedoch dennoch stellenweise durch eine gewisse Komplexität gekennzeichnet, die es einem nicht erlaubt, das Buch nebenbei zu lesen. Das liegt vor allem daran, dass der Autor teilweise zu langen Schachtelsätzen und Hauptsatzreihen neigt. In manchen Momenten fand ich, dass er dadurch perfekt die Ruhelosigkeit, die auf der Mauer herrscht, und die rasenden Gedanken der VerteidigerInnen einfängt (teilweise rutscht der Schreibstil sogar in einen Bewusstseinsstrom ab) – dann war ich begeistert.

In anderen Momenten (vor allem auch später im Buch, als der Schreibstil langsam begann, mir auf die Nerven zu gehen) hätte ich den Autor manchmal am liebsten gefragt, ob es ihn umbringen würde, doch einfach mal einen Punkt zu setzen. Teilweise wirkte die Sprache auf mich dadurch nämlich auch ein wenig prätentiös und unnötig kompliziert. Auch die sachliche, unterkühlte Erzählweise und die Wiederholungen haben mich gestört. Dennoch: Gegen Ende habe ich mich wieder mit dem Schreibstil versöhnt und konnte das Buch mit einem zufriedenen Gefühl beenden.

Inhalt, Themen, Botschaften & Ende (+/-)

„‘Sie haben sich wieder aufgemacht, und zwar sehr zahlreich – so zahlreich wie damals, vor vielen Jahren, als uns der Wandel zum ersten Mal traf. Das ist also der erste Punkt, den ich Ihnen heute mitteilen wollte. Die Anderen kommen.‘“ E-Book, Position 1677

Über „Die Mauer“ von John Lanchester hatte ich im Vorhinein schon viel Gutes gehört. Mit der Wahl des Inhalts, der in drei Teile gegliedert ist („Die Mauer“, „Die Anderen“, „Das Meer“) bewegt sich John Lanchester mit Sicherheit am Puls der Zeit: Während aktuell in England der Brexit bevorsteht, treibt der Autor die selbstgewählte Isolationspolitik auf die Spitze, indem er eine dystopische Welt erschafft, in der Großbrittanien von einer hohen Mauer umgeben ist, um "Eindringlinge" fernzuhalten. Wer jemanden (versehentlich) ins Land lässt, wird dem Meer übergeben und wird sehr wahrscheinlich sterben.

Ein Szenario, das einen erst einmal schlucken und – vor allem – nachdenklich werden lässt. Denn so könnte es auch bei uns eines Tages aussehen, wenn durchgesetzt wird, was viele fordern: dass wir unsere Grenzen um jeden Preis schützen und keinen einzelnen Flüchtling mehr durchlassen. Die langweiligen, trostlosen, von Angst und Ungeduld geprägten Wachdienste auf der Mauer bringen einen ebenfalls zum Nachdenken. Minutiös schildert der Autor die gleichförmigen Tage, an denen nichts Nennenswertes passiert. Wir begleiten den Protagonisten dabei, wie er in Zeitlupe seinen Müsliriegel verspeist, wie er lernt, nicht mehr auf die Uhr zu schauen (weil die Zeit dadurch nur langsamer vergeht), wie er Freundschaften schließt und sich verliebt. Themen wie Kameradschaft, Überleben, Tod, Krieg, Verlust und Trauer stehen ebenfalls im Mittelpunkt der Geschichte. Wie viele andere LeserInnen hat auch mich die Mauer im ersten Moment an jene in „Game of Thrones“ erinnert – jedoch verschwindet dieses Gefühl schnell wieder – zu sehr unterscheiden sich die beiden Geschichten.

Auch wenn ich Kavanagh gerne auf seiner Reise begleitet habe und auch wenn uns John Lanchester hier eine wendungsreiche, unvorhersehbare, durchaus unterhaltsame Geschichte bietet: Um eine Gesellschaftskritik zu sein, behandelt das Buch seine eigentlichen Themen – Brexit, Isolationspolitik, Flüchtlingsströme und Klimawandel – jedoch viel zu oberflächlich. Der Autor geht hier nicht genug in die Tiefe, liefert kaum Hintergrundinfos, wie es zu dieser verfahrenen Lage kommen konnte. Meiner Meinung nach hat es sich der Autor auf diese Weise leicht gemacht – zu leicht. Das Ende fand ich – auch wenn es vielleicht nicht allzu kreativ war – gelungen. Ich mochte die Mischung aus Hoffnung, Ungewissheit und Trostlosigkeit, die mitschwang, sehr.

Haupt- & Nebenfiguren (-)

Die Figurenzeichnung ist meiner Meinung nach leider eine der größten Schwächen des Buches. Es war sehr schwer für mich, eine Bindung zum Protagonisten aufzubauen. Das lag am zu nüchternen, emotionslosen Schreibstil und an der farblosen, latent unsympathischen Hauptfigur Kavanagh selbst. Er hält sich – vor allem am Beginn des Buches – für etwas Besseres als seine KameradInnen, ist sehr arrogant (die letzte Generation hat alles falsch gemacht und seine alles richtig!), gewissenlos und unreflektiert, was seine Tätigkeit auf der Mauer und die „Dienstlinge“ (moderne Sklaverei!) betrifft. Nur langsam hat er sich positiv verändert und ebenso langsam habe ich mich ihm angenähert. Gerade als ich begann, mit ihm mitzufühlen und mitzufiebern, war das Buch zu Ende.

Auch die meisten Nebenfiguren blieben blass und eindimensional. Die oberflächlichen Dialoge und die wenige Zeit, die Joseph mit ihnen verbringt, machen es leider nicht möglich, sie näher kennenzulernen. Jedoch gibt es auch hier Ausnahmen – manche Figuren wie zum Beispiel der Hauptmann sind meiner Meinung nach sehr gut gelungen. Richtig cool fand ich übrigens Hifa, die statt zum Gewehr immer lieber gleich zum Granatwerfer greift und damit allen zu Hilfe eilt.

Liebesgeschichte (+/-)

Gut gefallen hat mir, dass sich die Beziehung zwischen Joseph und Hifa nur langsam entwickelt, was unter solchen Umständen sehr glaubwürdig ist. Zuerst freunden sich die beiden an, erst später wird mehr daraus. Leider fand ich auch die Liebesgeschichte zu emotionslos – sie konnte mich leider nicht mitnehmen und berühren. Dafür war zu viel Distanz zwischen mir und den Figuren.

Spannung (+/-)

Eines steht fest: „Die Mauer“ ist nur etwas für Fans (sehr!) ruhiger Bücher. Es gibt in dieser Geschichte nur wenige Dialoge, dafür aber viele Beobachtungen. Es passiert wenig auf der Mauer – und es passiert dementsprechend wenig im Buch. Ist es eigentlich genial, dass wir uns als LeserInnen vor allem im ersten Teil der Geschichte so durchs Buch quälen müssen wie die VerteidigerInnen sich durch ihre Wachdienste? Oder zeugen die fehlende Spannung, die statischen Beschreibungen des Alltages und die Langatmigkeit der Geschichte von schlechtem Handwerk und sind eher enttäuschend? Ich bin unschlüssig, tendiere jedoch eher zu Letzterem. In der zweiten Hälfte wird es dann endlich spannender (es passiert auch mehr) – diesen Teil fand ich sehr unterhaltsam. Auch die vereinzelten Cliffhanger und die kryptischen Vorausdeutungen haben mich absolut überzeugt.

Atmosphäre (♥)

Begeistert war ich jedoch von der Atmosphäre im Buch. Ich liebte diese düstere, beklemmende, trostlose, hoffnungslose (Kasernen-)Stimmung, die Sorgen und die Verzweiflung der VerteidigerInnen und dieses regungslose, aufgeladene, unruhige Warten auf das Unheil und die drohende Gefahr!

„Nachts, auf der Mauer, ist deine Fantasie dein Feind. […] Du siehst und hörst Dinge, die gar nicht da sind.“ E-Book, Position 900

Feministischer Blickwinkel (+)

Nur wenige Dinge haben mich hier gestört: Bei den Eltern von Joseph gibt es eine sehr traditionelle Rollenverteilung, bei der die Mutter sich um den Haushalt kümmert. Frauen werden entführt, um wahrscheinlich vergewaltigt zu werden (macht wütend, ist aber leider auch realistisch in einer solchen Situation) – stattdessen wird für sie entschieden, dass der Tod besser für sie ist. Ich bin unschlüssig, wie ich das finden soll! Andererseits sind auch viele Frauen auf der Mauer vertreten, die ihren männlichen Kollegen, was Mut und Einsatz betrifft, in nichts nachstehen und immer wieder ihre KameradInnen retten. Männer dürfen weinen, die Beziehung von Joseph und Hifa ist gleichberechtigt. Zudem gibt es auch keinerlei frauenfeindliche Sprache im Buch – danke dafür! In den Führungspositionen hätte ich mir allerdings ein ausgeglicheneres Verhältnis gewünscht (Politiker, Hauptmann, Sergeant etc.).

Mein Fazit

„Die Mauer“ ist eine düstere, beklemmende Dystopie am Puls der Zeit, die meine hohen Erwartungen leider nicht zur Gänze erfüllen konnte. Der Schreibstil ist einfach, flüssig und fängt die Ruhelosigkeit der VerteidigerInnen auf der Mauer gelungen ein, aber er zeigt sich oft auch zu nüchtern und emotionslos, die teilweise langen Sätze strengen im Laufe des Buches an. Ich habe die durchaus unterhaltsame, wendungsreiche und unvorhersehbare Dystopie über Liebe, Freundschaft, Überleben und Tod vor allem in der zweiten Hälfte sehr gerne gelesen. Um jedoch eine Gesellschaftskritik zu sein, behandelt das Buch seine Kernthemen – Brexit, Isolationspolitik, Flüchtlingsströme und Klimawandel – viel zu oberflächlich. Der Autor geht hier nicht genug in die Tiefe, liefert kaum Hintergrundinfos, wie es zu dieser verfahrenen Lage kommen konnte – und macht es sich auf diese Weise zu leicht. Die Figurenzeichnung ist meiner Meinung nach leider eine der größten Schwächen des Buches. Es war sehr schwer für mich, eine Bindung zum farblosen, arroganten, unreflektierten, latent unsypathischen Protagonisten aufzubauen. Auch von den anderen Figuren sind nur wenige besser gelungen. Die zweite große Schwäche des Buches ist seine fehlende Spannung und Langatmigkeit – zumindest im ersten Teil. Ich habe mich hier leider so durch die Geschichte quälen müssen wie Joseph sich durch seine Wachdienste. Großartig fand ich hingegen die düstere, beklemmende, trostlose Stimmung, dieses regungslose, aufgeladene Warten auf das drohende Unheil! Kurz: In „Die Mauer“ macht John Lanchester vieles richtig, aber leider auch bei wichtigen, grundlegenden Dingen einiges falsch. Seine Zukunftsvision konnte mich leider nicht auf ganzer Linie überzeugen.

Bewertung

Idee, Themen, Botschaft: 5 Sterne ♥
Umsetzung: 3,5 Sterne
Worldbuilding: 3 Sterne
Einstieg: 5 Sterne
Schreibstil: 4 Sterne
Hauptfigur: 2 Sterne
Figuren: 3 Sterne
Atmosphäre: 5 Sterne ♥
Spannung: 2,5 Sterne
Ende / Auflösung: 4 Sterne
Emotionale Involviertheit: 3 Sterne
Feministischer Blickwinkel: +

Insgesamt:

❀❀❀,5 Lilien

Dieses Buch bekommt von mir dreieinhalb Lilien!