Spoilerfreie Rezension!
Inhalt
In Stockholm, im Jahre 1793, wird eine vollkommen entstellte Leiche gefunden. Ihr fehlen Arme, Beine, Zähne und Zunge. Was ist bloß mit dieser armen Person geschehen? Ein ungleiches Paar – ein vom Krieg traumatisierter Stadtknecht und ein idealistischer Jurist, der an Tuberkulose leidet und dem nicht mehr viel Zeit bleibt, – schließt sich zusammen, um den grausamen Mord aufzuklären. Doch was sie herausfinden, ist noch viel schrecklicher, als sie befürchtet haben…
Übersicht
Einzelband oder Reihe: Band 1 einer Dilogie / Reihe (?); laut Goodreads wird es auch eine Fortsetzung geben; „1794“ soll bereits in diesem September auf Schwedisch erscheinen
Verlag: Piper
Seitenzahl: 496
Erzählweise: Figuraler Erzähler, Präsens
Perspektive: männliche (Jean Michael, Cecil etc.) und weibliche Perspektive (Anna)
Kapitellänge: kurz bis mittel
Tiere im Buch: -! Für TierfreundInnen ist dieses Buch leider nicht immer leicht zu verdauen. Im Stockholm des 18. Jahrhunderts geht es ziemlich brutal zu, niemand (bis auf wenige Ausnahmen) scheint da ein Herz für Tiere zu haben. Es werden Tiere erschossen, geschlachtet und gegessen, es gibt Kettenhunde, die jahrelang keinen einzigen Sonnenstrahl zu Gesicht bekommen und tagelang hungern müssen, es wird von Hundekämpfen gesprochen, Rinder und Pferde verbrennen bei lebendigem Leibe, man erfreut sich an Tanzbären (die, wie jede/r mittlerweile weiß, sehr grausam ausgebildet werden) und es gibt einen Fall von furchtbarer Tierquälerei (jemand reißt Mücken die Flügel und alle Beine aus und lässt sie im Anschluss tagelang leiden), der mich unglaublich wütend gemacht hat.
Warum dieses Buch?
Diesem Buch konnte man in der letzten Zeit nicht entkommen! Überall (Instagram, Buchcommunitys) tauchte es auf und die ersten Rezensionen waren so begeistert, dass ich neugierig wurde - obwohl ich momentan eigentlich nicht so gerne Krimis und historische Romane lese. Aber der Klappentext, der Preis, den das Buch schon abgeräumt hat (Schwedischer Krimipreis), das Lob anderer Autoren ("Meisterwerk") und die schwärmerischen LeserInnenstimmen führten schließlich dazu, dass ich das Gefühl bekam, dass man sich dieses Buch auf keinen Fall entgehen lassen darf!
Meine Meinung
Einstieg (♥)
Die Geschichte beginnt ohne Umschweife mit dem Fund der grausam zugerichteten Leiche in einem Stockholmer See. Schon auf den ersten Seiten wird eine derart dichte Atmosphäre geschaffen, dass man sich schon mit Händen und Füßen dagegen wehren müsste, um nicht augenblicklich in die Geschichte hineingezogen zu werden.
Schreibstil (♥)
Daran ist sicherlich auch der grandiose Schreibstil schuld. Als ich das Buch begonnen habe, haben mich mehrere Dinge sehr überrascht: Erstens ist dieser historische Krimi im Präsens verfasst, und zweitens ist von einem altmodischen, schwülstigen Schreibstil in diesem Roman keine Spur! Im Gegenteil: Niklas Natt och Dag schreibt (bis auf wenige alte Wörter) sehr modern, weswegen ich sogar so weit gehen würde, zu sagen, dass ich ihn endlich gefunden habe – den historischen Roman für alle, die keine historischen Romane mögen! „1793“ liest sich wie ein moderner Krimi – nur dass das Setting nach Schweden ins 18. Jahrhundert verlegt wurde.
Meiner Meinung nach ist der Schreibstil eine der größten Stärken des Buches: Der Autor schreibt unglaublich angenehm, sehr anschaulich, kraftvoll, bildlich und atmosphärisch – ohne sich jedoch in Details zu verlieren. Einfache Sätze lassen einen durch das Buch rasen, gelungene Beschreibungen und sprachliche Bilder verwöhnen das LeserInnenherz, zahlreiche lebendige, glaubwürdige Dialoge lockern den Text auf. Egal ob es darum geht, Spannung zu erzeugen oder intensive Gefühle bei seinen LeserInnen auszulösen – Niklas Natt och Dag gelingt beides meisterhaft und scheinbar mühelos. Dass es sich bei diesem Buch um ein Debüt handeln soll, kann man kaum glauben!
Nur eine Kleinigkeit, die die Übersetzung betrifft, hat mich besonders am Beginn massiv gestört: Ich weiß nicht, warum man sich dazu entschieden hat, bei verschiedenen Orten, Brücken, Flüssen etc. den Originalnamen zu belassen, ohne zu erklären, worum es sich genau handelt. Da standen dann Sätze wie „Er ging zu XY (schwedisches Wort)“ - und ich hatte keinen Schimmer, worum es sich handelte! Das fand ich sehr mühsam und nervig! Man wollte hier vermutlich durch die übernommenen Worte eine gewisse schwedische Atmosphäre kreieren – leider ist das meiner Meinung nach hinten losgegangen. Gut hätte ich es gefunden, wenn man den Original-Namen mit der deutschen Bezeichnung für das Ding kombiniert hätte, z. B. „XY-Brücke“ oder „Straße XY“.
Inhalt, Themen, Botschaften & Ende (♥)
„‘Was meinen Sie, Herr Winge – sind wir Menschen einander wie Wölfe, die nur auf die geringste Schwäche lauern, ehe sie zum Angriff übergehen?‘“ E-Book, Position 116
Niklas Natt och Dag wurde unter anderem mit dem Schwedischen Krimipreis ausgezeichnet; sein Buch wurde bereits in 30 Sprachen übersetzt und millionenfach verkauft – und ist somit bereits jetzt ein internationaler Erfolg. Der Hype ist auch in Deutschland und Österreich angekommen. „Jaja“, werdet ihr nun vielleicht sagen, „aber ist der Hype auch berechtigt?“ In einem Wort: Ja! Und wie! Der Autor, der übrigens ein Mitglied der ältesten Adelsfamilie Schwedens ist und daher eine starke persönliche Beziehung zur Geschichte des Landes hat, hat laut seinen eigenen Worten sehr genau recherchiert, bevor er diesen Roman geschrieben hat – und das merkt man auch bei jedem Wort. Die Menschen (viele basieren auf realen Personen), die Schauplätze, das Leben im damaligen Schweden wirken so echt und greifbar, als würde man sich selbst dort befinden.
Das ist übrigens gar nicht immer so angenehm und schön, wie man vielleicht im ersten Moment erwarten würde – Niklas Natt och Dags Geschichte ist nämlich schonungslos ehrlich, brutal und oft auch ekelerregend. Der Autor beschönigt nichts, sondern beschreibt auch das Unschöne bis ins Detail – den Gestank, der damals auf den Straßen herrschte, Seen voller Müll, Unrat und Fäkalien, eiternde Wunden, blutigen Auswurf und unglaublich grausame Hinrichtungen, die für mich beim Lesen kaum zu ertragen waren. Es ist daher ein Buch, das für sensible Seelen und empfindliche Mägen nur bedingt geeignet ist. Nach der Lektüre empfindet man jedenfalls große Dankbarkeit und schätzt die Sauberkeit der heutigen Straßen, die Erfindung der Kanalisation und die fortgeschrittene Entwicklung der Medizin mit neu entfachter Leidenschaft! Mich hat die Geschichte teilweise ein wenig an die Serie „The Alienist“ auf Netflix erinnert – Fans der Serie sollten sich dieses Buch keinesfalls entgehen lassen.
„1793“ ist äußerst interessant aufgebaut. Es ist in vier Teile unterteilt, die teilweise von ganz unterschiedlichen Personen handeln und manchmal auch Rückblenden beinhalten. Im ersten Teil begleiten wir den Juristen Cecil und den Stadtknecht Mickel bei ihren Ermittlungen, in Teil zwei werde wir mit einem Briefroman aus der Sicht einer ganz anderen Figur überrascht, der dritte Teil spielt in einem Spinnhaus, in dem Häftlinge erstmals durch harte Arbeit resozialisiert werden sollen, und im vierten Teil führt der Autor meisterhaft alle losen Fäden zusammen, sodass plötzlich alles einen Sinn ergibt. Am Beginn war ich von der Struktur nicht begeistert, weil mir der erste Abschnitt so gut gefallen hat, dass ich unbedingt wissen wollte, wie es weitergeht, und weil ich durch den Wechsel etwas aus dem Lesefluss gerissen wurde. Doch dem Autor gelingt es, jeden Teil so interessant und spannend zu gestalten, dass ich am Schluss absolut begeistert war! Er hat in „1793“ einen komplexen, wendungsreichen Plot kreiert, der unvorhersehbar ist und einen von der ersten bis zur letzen Seite großartig unterhält!
Doch obwohl die Ermittlungen einen großen Teil des Buches ausmachen, vergisst Niklas Natt och Dag nicht, bei (oft auch schwierigen) Themen wie Freundschaft, Kriegstraumata, dem schwierigen Überleben im damaligen Stockholm und Krankheit in die Tiefe zu gehen, was dieses Buch von vielen anderen Krimis abhebt und nur noch großartiger macht! Das Ende (und seine Auflösung) war eines der besten, das ich dieses Jahr (vielleicht auch jemals!) gelesen habe: Es rundete die Geschichte so elegant und eindrucksvoll ab, spannte den Bogen so gelungen zum Beginn des Buches, dass ich das Buch (bzw. den E-Reader) mit einem absolut begeisterten, emotionalen und befriedigten Gefühl zuschlagen konnte. Ein rundum gelungener Roman, der mir sicher lange im Kopf bleiben wird – grandios von Anfang bis Ende.
ProtagonistInnen (♥)
Wer erwartet, dass wenigstens bei den Figuren etwas schiefgegangen ist, den muss ich leider enttäuschen. Die ProtagonistInnen der Geschichte sind unglaublich liebevoll ausgearbeitet, sie sind authentisch, lebendig, dreidimensional, unvergesslich und haben alle ihre Stärken und Schwächen, ihre Probleme und ihre Vergangenheit. Besonders die langsam entstehende Freundschaft zwischen Cecil und Jean Michael – zwei so unterschiedlichen Personen – hat etwas in mir berührt. Die beiden sind mir sehr schnell ans Herz gewachsen, ich habe mit ihnen intensiv mitgefiebert, mitgefühlt und mitgelitten.
Figuren (♥)
Auch die anderen Figuren sind rundum gelungen. Sogar wenn sie nur kleine Rollen im Buch einnehmen, bemüht sich der Autor sichtlich, sie möglichst gut auszugestalten und glaubwürdig erscheinen zu lassen.
Spannung & Atmosphäre (♥)
„‘Mich täuschen Sie nicht. Natürlich sind Sie ein Wolf. Ich habe genug erlebt, um das zu erkennen, und wenn ich tatsächlich falsch liegen sollte, dann steht Ihnen die Verwandlung kurz bevor – denn niemand streift mit den Wölfen umher, ohne ihrer Art nachzueifern. […] Eines Tages wird Blut auf ihren Zähnen schimmern, und da werden Sie begreifen, wie recht ich hatte.‘“ E-Book, Position 116
Vielleicht ist aber auch die unheimlich dichte Atmosphäre die größte Stärke des Buches. Man fühlt sich sofort in die Vergangenheit versetzt. Die Lektüre hat sich wie das kribbelige Eintauchen in ein düsteres, brutales, aber absolut interessantes und spannendes Abenteuer angefühlt. Obwohl es sich hier nicht um einen Thriller handelt, wird es teilweise atemlos spannend, ich konnte diesen historischen Roman, der sich immer mehr zu einem Pageturner entwickelte, kaum zur Seite legen. Einmal wurde es sogar regelrecht unheimlich: Da gab es eine Szene, die hat mir eine Gänsehaut beschert, wie ich sie lange (auch bei Horrorfilmen) nicht mehr hatte. Für die, die das Buch schon gelesen haben – ihr ahnt bestimmt, welcher Moment es war, oder? Der mit dem Fuß! Ist es euch da nicht auch herrlich eiskalt über den Rücken gelaufen?
Feministischer Blickwinkel (+/-)
Hier gibt es tatsächlich etwas zu kritisieren: Das Geschlechterverhältnis bei den Haupt- und Nebenfiguren (die mehr sagen als zwei Sätze) ist teilweise ziemlich unausgewogen, auch wenn es sogar eine weibliche Protagonistin gibt. Ich weiß natürlich, dass es damals eine andere Zeit war und manche Berufe nur von Männern ausgeübt werden konnten. Trotzdem würde ich mir wünschen, dass wir im Folgeband auf mehr starke Frauenfiguren treffen werden. Andererseits ist die Protagonistin eine starke, intelligente Frau, die um ihr Leben kämpft, und Männer dürfen weinen und Gefühle zeigen. Dass in diesem historischen Roman sogar LGBTQ+-Aspekte thematisiert werden, ist ein weiterer Pluspunkt. Die oft frauenfeindliche Einstellung der Gesellschaft und die manchmal auch frauenfeindliche Sprache (Hu--, Miststück) mancher Nebenfiguren verzeihe ich, weil es sich hier eben um einen historischen Roman handelt, und alles andere (leider) wohl unrealistisch wäre.
Mein Fazit
Mit seinem Debüt hat Niklas Natt och Dag einen komplexen, wendungsreichen, rundum gelungenen historischen Krimi geschaffen, der meisterhaft und erstklassig unterhält. Der Schreibstil ist unerwartet modern, wunderbar angenehm, anschaulich und atmosphärisch und zieht einen schon auf den ersten Seiten in ein unglaublich düsteres, aber auch absolut interessantes und spannendes Abenteuer hinein. Das ist übrigens gar nicht immer so angenehm, wie man vielleicht im ersten Moment denken würde – Niklas Natt och Dags Geschichte ist nämlich schonungslos ehrlich, brutal und oft auch eklig. Der Autor beschreibt nämlich auch Unschönes (den Gestank, der damals auf den Straßen herrschte, Seen voller Müll, Unrat und unglaublich grausame Hinrichtungen) bis ins Detail. Es ist daher ein Buch, das für sensible Seelen und empfindliche Mägen nur bedingt geeignet ist. Obwohl die Ermittlungen einen wichtigen Teil des Buches ausmachen, vergisst Niklas Natt och Dag nicht, bei schwierigen Themen wie Kriegstraumata und Krankheit in die Tiefe zu gehen, was dieses Buch von vielen anderen Krimis abhebt und nur noch großartiger macht! Das Ende (und seine Auflösung) war eines der besten, das ich dieses Jahr (vielleicht auch jemals!) gelesen habe: rund, elegant, emotional, befriedigend, eindrucksvoll, erinnerungswürdig. Auch die Figuren sind absolut gelungen: Besonders die Protagonisten sind unglaublich liebevoll ausgearbeitet; sie sind authentisch, lebendig, dreidimensional, unvergesslich und haben alle ihre Stärken und Schwächen, ihre Probleme und ihre Vergangenheit. Besonders die langsam entstehende Freundschaft zwischen Cecil und Jean Michael – zwei so unterschiedlichen Personen – hat etwas in mir berührt. Vielleicht ist aber auch die unheimlich dichte Atmosphäre die größte Stärke des Buches. Obwohl es sich hier nicht um einen Thriller handelt, wird es teilweise atemlos spannend, weswegen ich diesen historischen Roman kaum zur Seite legen konnte. Lediglich was das Geschlechterverhältnis im Buch betrifft, würde ich mir im Folgeband mehr Ausgewogenheit wünschen. Kurz: „1793“ ist ein düsteres, atmosphärisches Meisterwerk, das den Hype und das Lob absolut verdient hat – besser kann man einen historischen Krimi nicht schreiben! Für mich ein absolutes Lesehighlight 2019! Unbedingt lesen!
Beim zweiten Band bin ich natürlich wieder mit an Bord – ich kann es kaum erwarten, wieder in diese düstere Welt einzutauchen!
Besondere Leseempfehlung: Niklas Natt och Dag schreibt (bis auf wenige alte Wörter) sehr modern, weswegen ich sogar so weit gehen würde, zu sagen, dass ich ihn endlich gefunden habe – den historischen Roman für alle, die keine historischen Romane mögen!
Bewertung
Idee, Themen, Botschaft: 5 Sterne ♥
Umsetzung: 5 Sterne ♥
Worldbuilding: 5 Sterne ♥
Einstieg: 5 Sterne ♥
Schreibstil: 5 Sterne ♥
ProtagonistInnen: 5 Sterne ♥
Figuren: 5 Sterne ♥
Spannung & Atmosphäre: 5 Sterne ♥
Ende / Auflösung: 5 Sterne ♥
Emotionale Involviertheit: 5 Sterne ♥
Feministischer Blickwinkel: +/-
Regt zum Nachdenken an!
Insgesamt:
❀❀❀❀❀♥ Lilien
Dieses Buch bekommt von mir fünf Lilien und ein Herz – und somit den Lieblingsbuchstatus!