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Meinungen aus der Lesejury

Veröffentlicht am 03.09.2019

2,5*: Gute Ansätze & viel verschenktes Potenzial: Habe von einer kulinarischen Dystopie mehr erwartet

Hysteria
0

Spoilerfreie Rezension!

Inhalt

Bei diesem Buch handelt es sich um etwas ganz Ungewöhnliches: nämlich um eine "kulinarische Dystopie", in der das Künstliche das Natürliche bereits ersetzt hat. Und die ...

Spoilerfreie Rezension!

Inhalt

Bei diesem Buch handelt es sich um etwas ganz Ungewöhnliches: nämlich um eine "kulinarische Dystopie", in der das Künstliche das Natürliche bereits ersetzt hat. Und die ganze Geschichte beginnt mit ungewöhnlichen Himbeeren. Die fallen Bergheim nämlich beim Einkauf auf, als er sie genauer betrachtet. Sofort beschließt er, dem Rätsel nachzugehen und landet schließlich im Kulinarischen Institut. Eine fieberhafte Suche nach der Wahrheit beginnt…

Übersicht

Einzelband oder Reihe: Einzelband
Verlag: Piper
Seitenzahl: 240
Erzählweise: Figuraler Erzähler, Präteritum
Perspektive: männliche Perspektive (Bergheim)
Kapitellänge: kurz bis lang
Tiere im Buch: + An sich lautet das Ziel der Gesellschaft im Buch, sich möglichst wenig in die Natur einzumischen. Zusätzlich gibt es an mehreren Tagen der Woche ein Fleischverbot – hier entwickelt sich ohne Frage einiges in die richtige Richtung. Auch handelt es sich bei den „Nutztieren“ teilweise nicht mehr um „echte Tiere“ (mehr kann ich nicht verraten, ohne zu spoilern). Bergheim fordert jedoch, dass die Jagd verherrlicht und der Mensch dem Tier wieder gleichgesetzt wird. Zudem verletzt sich ein Tier selbst.

Warum dieses Buch?

Dieses Buch war im letzten Jahr für den „Deutschen Buchpreis“ nominiert, was natürlich sofort mein Interesse geweckt hat. Zudem liebe ich Dystopien – und eine kulinarische Dystopie kannte ich bisher noch nicht. Ich erwartete also etwas Erfrischendes, Neuartiges – und wollte deshalb das Buch unbedingt lesen.

Meine Meinung

Einstieg (+)

"Mit den Himbeeren stimmte etwas nicht." E-Book, Position 31

Die Geschichte beginnt sehr mysteriös und rätselhaft, wodurch sofort meine Neugier geweckt wurde. Dennoch fiel es mir schwer, nach den ersten, interessanten Kapiteln wirklich in die Geschichte zu finden und ganz darin einzutauchen.

Schreibstil (+/-)

Hier bin ich zwiegespalten. Einerseits schätze ich Nickels anspruchsvollen, ästhetischen Schreibstil und mochte den gelegentlichen satirischen Unterton, andererseits erschien er mir auch oft (vor allem bei den Dialogen) etwas angestaubt, altmodisch, zu umständlich oder sogar prätentiös. Das lag daran, dass es der Autor an manchen Stellen meiner Meinung nach mit den langen Schachtelsätzen übertrieben hat. Teilweise gibt es Einschübe an seltsamen Stellen, so dass ich aus dem Lesefluss geraten bin und manche Abschnitte noch einmal lesen musste. Zudem wirkte es manchmal auch ein wenig gewollt, als hätte der Autor unbedingt zeigen wollen, wie anspruchsvoll er schreiben kann – auch wenn das durch die Verwendung von manchem Fachausdruck, der nicht erklärt wurde, zulasten des Verständnisses geht. Die Beschreibungen waren manchmal sehr gut gelungen und anschaulich, an anderen Stellen musste ich mir das Geschriebene bewusst und mit Mühe vorstellen.

Inhalt, Themen, Botschaften & Ende (+/-)

„Bergheim kam der Verdacht, dass sie gar keine wirklichen Wanderer seien, sondern eine als getarnt arbeitende Spezialeinheit der Tierzüchter vom Markt, die auf der Suche nach ihm war, weil er zufällig etwas gesehen hatte, das niemand jemals zu Gesicht bekommen hätte sollen.“ E-Book, Position 221

Insgesamt hat mich „Hysteria“ leider enttäuscht, da ich mir von einer kulinarischen Dystopie einfach mehr erhofft habe – mehr Innovation, mehr Spannung, mehr Hintergrundwissen, mehr Tiefe, mehr Worldbuilding und ein erschreckenderes Zukunftsszenario. Die Geschichte hat sehr spannend und mysteriös begonnen, verliert sich dann aber streckenweise leider in zahlreichen Rückblenden (die einen aus dem Lesefluss reißen), hölzernen, uninteressanten Dialogen und in langatmigen Beschreibungen von alltäglichen Begebenheiten.

Es gibt zwar durchaus einige sehr interessante Informationen, die eingewoben werden, gute Ansätze (Kritik an der Lebensmittelindustrie, an allem Künstlichen) und gelungene Passagen, aber insgesamt ist der Inhalt dünn. Der rote Faden ging leider (wie viele andere RezensentInnen schon geschrieben haben) in der Mitte des Buches ein wenig verloren, die Handlung wirkte oft verworren und undurchsichtig. Zwischendurch fragte ich mich sogar, warum eine Szene nun wichtig war, worauf der Autor überhaupt hinauswill, was seine Botschaft und sein Inhalt sind. Insgesamt blieb mir einfach zu viel offen, es gab viele gute Ansätze, aber bei der Umsetzung wurde leider viel Potential verschenkt. Nach dem gruseligen Ende ließ mich das Buch leider mit vielen Fragezeichen und eher unbefriedigt zurück - meiner Meinung nach lohnt es sich nicht wirklich, sich „durchzuquälen“ – denn das musste ich abschnittsweise leider tun. „Hysteria“ war für den Deutschen Buchpreis 2018 nominiert, aber ich kann damit nur wenig anfangen. Darum kann ich es euch leider nicht weiterempfehlen.

Protagonist (+/-)

Bergheim war mir zwar in gewisser Weise sympathisch, und er erschien mir auch mit seinen zahlreichen Ängste und seiner Hochsensibilität gut ausgearbeitet, dennoch blieb immer eine gewisse Distanz zu ihm. Ich habe keinen Zugang zu ihm gefunden; ich konnte nicht richtig mitfühlen und mitfiebern, sein Schicksal berührte mich nicht.

Figuren (-!)

Die anderen Figuren fand ich hingegen, bis auf Charlotte aus der Vergangenheit, sehr farblos und blass. Man erfährt fast nichts über sie, sie bleiben absolut ungreifbar und austauschbar. Hier konnte mich der Autor leider gar nicht überzeugen.

Spannung & Atmosphäre (+/-)

Auch wenn die Spannung leider über weite Teile der Geschichte nicht vorhanden war und sie sich für mich vor allem im Mittelteil sehr gezogen hat, gab es auch einige Dinge, die mir sehr gut gefallen haben: Großartig fand ich die Horror-Elemente und die unheimliche, kafkaeske Grundstimmung der Geschichte. Ständig liegt so eine herrlich ungreifbare Bedrohung über allem. Nie weiß man, ob der Protagonist nur paranoid ist, oder ob er wirklich einer Verschwörung auf der Spur ist. Überhaupt fand ich die Handlung in der Gegenwart im kulinarischen Institut sehr atmosphärisch, spannend und gelungen. Ich wollte dieses seltsame, kunstvolle, faszinierende und kalte Gebäude erforschen und mehr über seine dunklen Geheimnisse erfahren! Leider wurde mir das verwehrt, weil die Handlung in der Vergangenheit so viel Raum einnimmt.

Feministischer Blickwinkel (+)

Hier ist mir nichts Negatives aufgefallen. Charlotte und auch Kirsten sind starke weibliche Figuren, und da Bergheim sehr sensibel ist, bricht er mit Stereotypen und repräsentiert keine toxische Maskulinität. Den Bechdel-Test besteht das Buch trotzdem nicht, da niemals zwei weibliche Figuren über etwas anderes sprechen als einen Mann.

Mein Fazit

„Hysteria“ ist ein Buch, das mich insgesamt leider enttäuscht hat, da ich mir von einer kulinarischen Dystopie einfach mehr erwartet habe – mehr Innovation, mehr Tiefe, mehr Spannung, mehr Hintergrundwissen und ein erschreckenderes Zukunftsszenario. Was den Schreibstil betrifft, bin ich zwiegespalten: Einerseits schätze ich Nickels anspruchsvollen, ästhetischen Schreibstil, andererseits erschien er mir manchmal auch etwas angestaubt, altmodisch, zu umständlich, zu gewollt oder sogar prätentiös. Während mir Bergheim mit seinen Ängsten und seiner Hochsensibilität durchaus sympathisch war und gut ausgearbeitet wurde, blieb trotzdem immer eine gewisse Distanz zu ihm. Die anderen Figuren fand ich großteils sehr farblos, ungreifbar und austauschbar. Der Einstieg war noch sehr mysteriös und spannend, doch danach wurde die Geschichte verworren und verlor ihren roten Faden. Sie verlor sich dann streckenweise leider in zahlreichen Rückblenden (die einen aus dem Lesefluss reißen), hölzernen, künstlichen, uninteressanten Dialogen und in langatmigen Beschreibungen von alltäglichen Begebenheiten. Es gibt zwar durchaus einige sehr gelungene Passagen und gute Ansätze, aber insgesamt ist der Inhalt dünn, viel Potenzial wird verschenkt. Zwischendurch fragte ich mich sogar, worauf das Buch überhaupt hinauswill, was seine Botschaft ist. Auch wenn die Spannung leider über weite Teile der Geschichte nicht vorhanden war und sie sich für mich vor allem im Mittelteil sehr gezogen hat, gab es auch etwas, das mir sehr gut gefallen hat: Großartig fand ich die Horror-Elemente und die unheimliche, kafkaeske Grundstimmung der Geschichte. Ständig liegt so eine herrlich ungreifbare Bedrohung über allem. Nie weiß man, ob der Protagonist nur paranoid ist, oder ob er wirklich einer Verschwörung auf der Spur ist. Nach dem gruseligen Ende ließ mich das Buch jedoch leider mit vielen Fragezeichen und eher unbefriedigt zurück - meiner Meinung nach lohnt es sich nicht, sich durchzuquälen – denn das musste ich abschnittsweise leider tun. „Hysteria“ war für den deutschen Buchpreis nominiert, aber ich konnte damit nur wenig anfangen. Darum kann ich es euch leider nicht weiterempfehlen.

Bewertung

Idee: 5 Sterne ♥
Inhalt, Themen, Botschaft: 2 Sterne
Umsetzung: 2,5 Sterne
Worldbuilding: 2 Sterne
Einstieg: 5 Sterne
Schreibstil: 3,5 Sterne
Protagonist: 3,5 Sterne
Figuren: 2 Sterne
Spannung: 2 Sterne
Atmosphäre: 5 Sterne ♥
Ende / Auflösung: 2,5 Sterne
Emotionale Involviertheit: 2,5 Sterne
Feministischer Blickwinkel: +/-

Insgesamt:

❀❀,5 Lilien

Dieses Buch bekommt von mir insgesamt zweieinhalb Lilien!

Veröffentlicht am 03.09.2019

Starker Beginn & wunderschöner Schreibstil, aber auf hohe Erwartungen folgte leider Ernüchterung

Washington Black
1

Spoilerfreie Rezension!

Inhalt

Schon auf den ersten Seiten tauchen wir ein in eine Geschichte, die uns ins Jahre 1830 nach Barbados entführt. Auf einer Zuckerplantage ändert sich für die vielen SklavInnen ...

Spoilerfreie Rezension!

Inhalt

Schon auf den ersten Seiten tauchen wir ein in eine Geschichte, die uns ins Jahre 1830 nach Barbados entführt. Auf einer Zuckerplantage ändert sich für die vielen SklavInnen alles, als der alte Besitzer stirbt und sein jünger, viel grausamerer Nachfolger seinen Dienst antritt. Auch das junge Leben von Washington ändert sich von heute auf morgen, als er zum Assistenten von Titch, dem Bruder des Besitzers, gemacht wird. Denn Titch ist ein Wissenschaftler, der an einem Wolkenkutter tüftelt, der bald fliegen soll. Als etwas Schlimmes passiert, beschließt Titch mit Washington zu fliehen. Es wird der erste Flug der Maschine sein - und das in einer finsteren, stürmischen Nacht...

Übersicht

Einzelband oder Reihe: Einzelband
Verlag: Eichborn
Seitenzahl: 512
Erzählweise: Ich-Erzähler, Präteritum
Perspektive: männliche Perspektive
Kapitellänge: mittel
Tiere im Buch: -! Für TierliebhaberInnen ist dieses Buch nicht leicht zu ertragen: Es wird in diesem Buch viel Fleisch und Fisch gegessen, Tiere werden ausgestopft und in der Wildnis zum Zwecke einer Ausstellung gefangen. Viele werden absichtlich getötet, andere sterben versehentlich, weil die Bedingungen in den Aquarien nicht passen. Es wird gejagt, Tiere werden erschossen, mit toten Tieren wird pietätlos umgegangen und es gibt mindestens einen Fall von Tierquälerei. Das Bemühen von Wash, die Tiere gut zu versorgen und sich für eine lebendige Ausstellung einzusetzen, wiegt die zahlreichen problematischen Punkte keinesfalls auf.

Warum dieses Buch?

Über dieses Buch hatte ich im Vorfeld so viel Gutes gehört: Es war für Preise nominiert, wurde von verschiedenen Zeitschriften und Institutionen im englischsprachigen Raum zum „Buch des Jahres“ gekürt und war sogar eines der Lieblingsbücher von Ex-Präsident Obama. So viel Lob macht mich natürlich sofort neugierig, besonders da mich das letzte „Buch des Jahres“ – „Sag den Wölfen, ich bin zu Hause“ – so begeistern konnte!

Meine Meinung

Einstieg (♥)

„‘Wie ist das, Kit? Frei sein?‘ […]
‚Oh, Kind, das ist wie nichts in dieser Welt. Wenn du frei, du kannst machen, was du willst.‘“ E-Book, Position 161

Ich habe sehr schnell in die Geschichte gefunden. Man fühlt sofort mit dem jungen Washington mit, der bereits in seiner Kindheit als Sklave solche Grausamkeiten miterleben muss.

Schreibstil (♥)

„Er schien nicht gerade zu lächeln; in seinen Gesichtszügen lag eine Art unglückliche Heiterkeit, als freue sich jemand auf einer Beerdigung, eine lang nicht gesehene Tante zu treffen.“ E-Book, Position 2529

„Washington Black“ ist eine Geschichte, die in der ersten Person erzählt wird und in der wir als LeserInnen immer wieder direkt adressiert werden. Der Schreibstil ist mit Sicherheit die größte Stärke des Buches: Esi Edugyan schreibt sehr kraftvoll, angenehm und anschaulich, sodass ich sofort alles lebendig vor mir sehen konnte. Zudem ist ihre Sprache wunderschön – es gibt zahllose gelungene Vergleiche und Metaphern, weise Zitate und wunderbare Stellen, die man sich am liebsten alle rausschreiben möchte. Vor allem im ersten Teil schildert sie zudem Washingtons Gefühle – sein Misstrauen Titch gegenüber, seine Angst, seine Unsicherheit – sehr nuanciert und feinfühlig. Man hat sofort Mitleid mit ihm und ist erschüttert, was dieser Kinderseele alles angetan wird.

Lediglich bei den lateinischen Bezeichnungen für die Tiere hätte ich mir manchmal zusätzlich eine deutsche Übersetzung gewünscht, da ich viele der Lebewesen googeln musste.

Inhalt, Themen, Botschaften & Ende (+/-)

„Unter unserem neuen Master wurde es auf Faith zunehmend düster. […] James versuchte, wegzulaufen, also statuierten sie an ihm ein Exempel. Der Master befahl einem Aufseher, ihn vor unseren Augen bei lebendigem Leib zu verbrennen.“ E-Book, Position 139

Das Buch beginnt sehr stark mit Washingtons hartem Leben als Sklave auf der Zuckerplantage „Faith“ in Barbados. Nach dem Tod des alten Masters kommt ein jüngerer, viel grausamerer und sadistischer Mann an die Macht und nutzt diese aus, um seine Untergebenen zu quälen und ihnen jede Hoffnung zu rauben. Diese erste Hälfte des Buches konnte mich absolut überzeugen; sie war interessant, schockierend und hat mich immer wieder sehr wütend gemacht, da es solche erschreckenden Zustände früher wirklich gegeben hat.

Ab der abenteuerlichen Flucht von der Plantage ging es für mich aber leider bergab. Ich bin eigentlich ein Fan von Genrevermischungen, da sie manchmal sehr erfrischende, neuartige Bücher hervorbringen, doch hier finde ich die Verbindung aus historischem Roman mit Gesellschaftskritik, Coming-of-Age-Roman und Abenteuerroman nicht ganz gelungen; vor allem der Mittelteil schwächelte. Das Buch entwickelte viele Längen, es übte keinen Sog auf mich aus. So musste ich mich immer wieder aktiv motivieren, weiterzulesen. Viele überraschende Wendungen fand ich zwar sehr gelungen, doch irgendwann wurden mir die „praktischen Zufälle“ zu zahlreich und die Vorkommnisse zu unrealistisch, sodass die Geschichte stellenweise unglaubwürdig, sogar ein bisschen lächerlich und so wirkte, als würde sie sich über Bücher dieser Art lustig machen. Zudem fehlte mir vor allem im Mittelteil die erzählerische Tiefe. Vieles wird schnell, etwas lieblos und recht emotionslos abgehandelt, manchmal wirkt der Roman wie eine lose verbundene Aneinanderreihung von Geschehnissen.

Im Buch geht es um viele Dinge: um Sklaverei und das Leid, das dadurch verursacht wurde, um Einsamkeit, Abhängigkeit, um Enttäuschungen, um die faszinierenden Veränderungen und neuen Erkenntnisse, die die Welt und Wissenschaft damals geprägt haben, um Heimat, Familie und Freiheit. Zusätzlich sensibilisiert die Autorin uns auch für Rassismus, der mir in nächster Zeit sicher verstärkt auffallen wird. Obwohl ihre Themen sehr interessant sind und obwohl die Gesellschaftskritik stellenweise auch sehr gut gelungen ist, gelingt es der Autorin leider nicht immer, in die Tiefe zu gehen. Besonders im Mittelteil fehlten mir oft Beschreibungen des Innenlebens und der Gefühle des jungen Washington. Beispielsweise ist er auf der Plantage aufgewachsen und sieht das zum ersten Mal Schnee. Ein Moment voller Staunen – würde man meinen. Der bedeutende Augenblick wird aber nur kurz in einem Nebensatz abgehandelt.

Leider führt die Autorin ihre Geschichte zu einem für mich mehr als unbefriedigenden, fast schon ärgerlichen Ende. Der Schluss lässt nämlich viel zu viel Interpretationsspielraum zu, ist viel zu offen. Er kann nämlich auf zwei gegensätzliche Weisen verstanden werden – und bei der wahrscheinlicheren Möglichkeit davon handelt der Protagonist nicht nur schäbig, sondern auch sehr unglaubwürdig. Zudem bleiben so viele Aspekte ungeklärt – es gibt zu viele lose Fäden, zu viele offene Fragen, zu viele Dinge, die uns zuerst als wichtig präsentiert werden, dann aber im Nichts enden. Mir kam es leider so vor, als würde das Buch zu früh enden, als würde uns etwas Wichtiges vorenthalten. Insgesamt habe ich mir von „Washington Black“ leider mehr erwartet. Schade, ich habe mir so gewünscht, dass mich das Buch begeistert!

Protagonist & Figuren (+/-)

„‘Halte dich an das, was du siehst, Washington, nicht daran, was du sehen sollst.‘“ E-Book, Position 742

Washington fand ich als Hauptfigur gut gelungen. Er ist sehr intelligent und hat großes Talent, wird aber sein ganzes Leben aufgrund seiner Hautfarbe diskriminiert und beleidigt. Er war mir sympathisch, auch wenn er manchmal etwas unglaubwürdig handelt. Richtig ans Herz gewachsen ist er mir aber leider nicht.

Die anderen Figuren sind großteils sehr gut gelungen und liebevoll ausgearbeitet, auch wenn sie nur kurz in Washs Leben verweilen; trotzdem hätte ich über manche gerne noch mehr erfahren. Sie haben meist äußerliche Besonderheiten, sodass man sie leicht auseinanderhalten kann und nicht so schnell vergisst.

Spannung & Atmosphäre (+/-)

Während der erste Abschnitt sehr atmosphärisch beschrieben war – ich konnte die Hitze fast auf der Haut spüren, hatte Zuckergeruch in der Nase – und für mich nicht nur schockierend, sondern auch sehr interessant und spannend war, konnte der Mittelteil bei mir, auch was diesen Aspekt betrifft, leider nicht punkten. Vieles wurde zu schnell abgehandelt, oft fehlten Details, sodass die Geschichte nicht ganz rund wirkte und sowohl Spannung als auch Atmosphäre fehlten. Dieser Sog, der am Anfang spürbar war, verschwand leider und wollte bis zum Schluss nicht mehr so richtig zurückkommen. Schade!

Feministischer Blickwinkel (+/-)

Das Geschlechterverhältnis ist unausgewogen, was ich aber bei einem historischen Roman in gewisser Weise verzeihe. Den Bechdel-Test besteht das Buch leider ebenfalls nicht, da es kein kein Gespräch zwischen zwei weiblichen Figuren gibt, in denen nicht über einen Mann gesprochen wird. Einmal wird auch beschrieben, dass Männer Frauen anbieten wie „Hu+++“. Dennoch gibt es einige starke, selbstbewusste Frauenfiguren im Buch, die durchaus mit Geschlechterstereotypen brechen, weil sie entweder körperlich sehr stark sind oder sehr direkt sagen, was sie wollen. Immer wieder wird im Buch zudem Missbrauch durch die weißen Sklavenbesitzer angedeutet und kritisiert. Zusätzlich ist eine Figur taub (sie spricht mit Gebärdensprache), und es wird sogar angedeutet, dass zwei der Figuren schwul sind und eine Beziehung miteinander haben, was mir sehr gut gefallen hat, da mir Vielfältigkeit in Büchern sehr wichtig ist.

Mein Fazit

„Washington Black“ ist ein Buch, an das ich mit hohen Erwartungen herangegangen bin, das mich aber leider insgesamt ernüchtert und etwas enttäuscht zurücklässt. Der Schreibstil ist mit Sicherheit die größte Stärke des Buches: Esi Edugyan schreibt äußerst angenehm, sehr anschaulich, einfühlsam und wunderschön. Es gibt unzählige gelungene Vergleiche und sprachliche Bilder und weise Zitate, die man sich rausschreiben möchte. Der Protagonist und auch die anderen Figuren sind meiner Meinung nach ebenfalls gut gelungen, sie sind liebevoll ausgearbeitet; trotzdem hätte ich über manche gerne noch mehr erfahren. Nach einem starken ersten Abschnitt folgt ein schwacher Mittelteil, von dem sich das Buch auch im immerhin wieder etwas besseren letzten Viertel nicht mehr erholen kann. Im Mittelteil, der hastig und lieblos wirkte und mich emotional leider nicht erreichen konnte, fehlten mir vor allem erzählerische Tiefe, Spannung, Atmosphäre und Beschreibungen des Innenlebens und der Gefühle von Washington. Das Buch entwickelte viele Längen, es übte keinen Sog auf mich aus. So musste ich mich immer wieder aktiv motivieren, weiterzulesen. Mir wurden es zudem irgendwann zu viele „praktische Zufälle“ und unrealistische Vorkommnisse. Trotzdem gab es auch viele Passagen, die mich überzeugen konnten, weil in ihnen Themen wie Sklaverei, Enttäuschungen, Abhängigkeit, Heimat und Freiheit sehr gelungen und tiefgründig behandelt wurden. Zusätzlich sensibilisiert die Autorin uns mit ihrer Geschichte für Rassismus, der mir in nächster Zeit sicher verstärkt auffallen wird. Leider gipfelt die Geschichte dann in ein offenes, sehr unbefriedigendes Ende, das wirkt, als würde das Buch plötzlich abbrechen. Mir waren es zu viele lose Fäden, zu viele unbeantwortete Fragen, zu viele Dinge, die uns zuerst als wichtig präsentiert wurden, dann aber im Nichts endeten.

Bewertung

Idee: 5 Sterne ♥
Inhalt, Themen, Botschaft: 3 Sterne
Umsetzung: 3 Sterne
Worldbuilding: 3 Sterne
Einstieg: 5 Sterne ♥
Schreibstil: 5 Sterne ♥
Protagonist: 4 Sterne
Figuren: 4 Sterne
Spannung: 2 Sterne
Atmosphäre: 3 Sterne
Ende / Auflösung: 1 Stern
Emotionale Involviertheit: 3 Sterne
Feministischer Blickwinkel: +/-

Insgesamt:

❀❀❀ Lilien

Dieses Buch bekommt von mir insgesamt drei Lilien!

  • Einzelne Kategorien
  • Cover
  • Idee
  • Geschichte
  • Erzählstil
  • Atmosphäre
Veröffentlicht am 25.08.2019

Leckere, gesunde, ausgefallene Lunch-Ideen, teilweise waren mit die Zutaten aber zu exotisch

Lunch im Glas
0

Inhalt

Cora Wetzstein verspricht hier gesunden, stressfreien Genuss in der Mittagspause und garantiert, dass mit ihren Rezepten (die es einem leicht machen sollen, ungesundem Kantinenessen und fettigen ...

Inhalt

Cora Wetzstein verspricht hier gesunden, stressfreien Genuss in der Mittagspause und garantiert, dass mit ihren Rezepten (die es einem leicht machen sollen, ungesundem Kantinenessen und fettigen Snacks zu entgehen) das Mittagstief ausbleibt.

Übersicht

Genre: Rezeptbuch
Verlag: GRÄFE UND UNZER Verlag GmbH
Seitenzahl: 64
Tiere im Buch: +/- Es gibt viele vegetarische Gerichte, aber auch viele Rezepte, die Fleisch enthalten.

Warum dieses Buch?

Ich bin leider kein Morgenmensch. Mich am Morgen aufzuraffen, mir ein reichhaltiges Frühstück oder Mittagessen vorzubereiten und in die Uni oder zur Arbeit mitzunehmen, fällt mir unheimlich schwer. Ich habe gehofft, dass mir dieses Buch derart unwiderstehliche, schnelle Rezept-Ideen präsentiert, dass auch ich mich von nun an für „Lunch im Glas“ statt für Mensa-Essen, nicht satt machende Snacks oder schlicht Hunger entscheide.

Meine Meinung

Aufbau (+)

Der Aufbau ist meiner Meinung nach gut gelungen. Das Kochbuch weist (bis auf das erste Rezept, eine Kürbissuppe, die ohne weitere Erklärung keiner Kategorie zugeordnet wurde) eine klare Struktur auf. Nach dem Abkürzungsverzeichnis, einer kurzen Einleitung und dem Hinweis, dass es zum Buch auch eine App gibt (die ich jedoch selbst nicht ausprobiert habe) präsentiert uns die Autorin zuerst Salate, dann Suppen und am Ende Süßes und Fruchtiges. Abgerundet wird das Buch durch eine kleine „Gläserkunde“; hier erklärt die Autorin die Vorteile verschieden geformter Gläser für verschiedene Mahlzeiten, was ich sehr interessant fand.

Gestaltung & Fotos (♥)

Die kreative Gestaltung des Buches ist ebenfalls sehr gut gelungen. Cora Wetzsteins Speisen sehen farbenfroh, interessant, schön und – im wahrsten Sinne des Wortes – zum Anbeißen aus! Die Fotos machen wirklich Lust, die Rezepte auszuprobieren!

Inhalt (+/-)

Vieles an diesem Buch hat mir sehr gut gefallen. Das Kochbuch ermuntert uns, einmal etwas Neues auszuprobieren und überrascht immer wieder mit exotischen Zutaten und ausgefallenen, aber vielversprechenden Geschmackskombinationen. Cora Wetzstein bietet hier eine vielfältige, fast immer gesunde (auch eher fettige Zutaten und Schokolade sind nämlich selten dabei) Rezeptsammlung, bei der für jeden etwas dabei sein sollte: Es gibt pikante, schnelle, vitaminreiche, scharfe, einfache, asiatische und süße Rezepte. Sowohl VegetarierInnen als auch FleischesserInnen werden in diesem Buch fündig werden. Ob man mit diesen Speisen wirklich dem Mittagstief den Kampf ansagen kann, weiß ich nicht, aber mit Sicherheit liegen einem die Rezepte weniger schwer im Magen als fettiges Kantinen-Essen.

Jedes der Rezepte ist für 2 Gläser (meist ca. 500-600ml) gedacht. Für Single-Haushalte sind die Rezepte trotzdem auch geeignet: Suppen und Salate halten sich im Kühlschrank mindestens 2-3 Tage. Durch die relativ hohe Kalorienzahl, die meist zwischen 500 und 600 liegt, und die Zusammenstellung der Speisen wird man sicher satt. Die Zubereitungszeit liegt meist unter einer halben Stunde, was ich in Ordnung finde und was sich abends oder (wenn man ein Morgenmensch ist) morgens normalerweise gut ausgeht. Im Büro oder in der Schule muss die Mahlzeit dann nur durchgerührt oder mit Wasser ergänzt werden. Durch das Schichten von Salaten wird sichergestellt, dass vor allem Blattsalat nicht matschig wird, sondern auch nach Stunden seine Form und Knackigkeit behält. Zusätzlich macht diese Art der Vorbereitung natürlich auch optisch einiges her.

Sehr geschätzt habe ich auch die klaren, präzisen Anweisungen und hilfreichen Tipps, durch die es leicht wird, das Essen nachzukochen: Bei Bohnen wird z. B. nicht nur die Zahl der Dosen, sondern auch das Abtropfgewicht angeben. Da es große und kleine Dosen gibt, ist dies eine sehr hilfreiche Information, die mir in anderen Kochbüchern häufig fehlt. Alle Rezepte habe ich natürlich nicht ausprobiert, aber jene, die ich zubereitet habe, wie zum Beispiel das „Erdbeer-Schoko-Müsli“ und die leckere „Oriental Bowl“, haben mir äußert gut geschmeckt.

Leider hat es auch ein paar Aspekte gegeben, die mich nicht zufrieden gestellt haben. Zum einen verstehe ich den Einwand mancher anderer RezensentInnen, dass die Zubereitungszeit manchmal (wenn man zum Beispiel noch Kartoffeln kochen muss) etwas zu hoch ist – und dass es dann einfacher wäre, einfach nach der Arbeit gleich mehr zu kochen, um so die Reste am nächsten Tag verspeisen zu können. Auch geschmacklich konnte die Autorin nicht immer meinen Geschmack treffen.

Mein größter Kritikpunkt betrifft jedoch die Zutatenlisten. Mal schnell schauen, was man zu Hause hat und dann spontan eines der Rezepte nachkochen? Das ist leider nicht drin, weil man viele Zutaten eben nicht im Haus hat. Manche sind sogar so exotisch, dass ich nicht weiß, woher ich sie in meiner ländlichen Gegend überhaupt bekommen soll. Das ist schade! Ich habe die Rezepte meist als Inspiration gesehen und die Zutaten angepasst, je nachdem, was ich gerade zu Hause und worauf ich Lust hatte.

Feministischer Blickwinkel (♥)

In der Einleitung spricht die Autorin von Karrierefrauen, Selbständigen und Familien-Managern und erfüllt damit meine Erwartungen an ein modernes Kochbuch, das keine veralteten Rollenbilder reproduziert. Dafür ein Lob!

Mein Fazit

In ihrem Kochbuch „Lunch im Glas“ bietet Cora Wetzstein vielfältige Rezepte an, die als gesunde Alternative zu fettigem Kantinen-Essen dienen können. Für jeden Geschmack ist etwas dabei. Es gibt z. B. pikante, schnelle, vitaminreiche, scharfe, asiatische und süße Rezepte; sowohl VegetarierInnen als auch FleischesserInnen werden fündig werden. Das Buch hat einen sehr klaren Aufbau und unterteilt seine Rezept-Ideen, die auch wirklich satt machen, in Salate, Suppen und Süßes & Fruchtiges. Eine kurze Gläserkunde erklärt im Anschluss noch die Vorteile von verschiedenen Formen und Größen. Die Fotos sind sehr gelungen und machen Lust, die Rezepte auszuprobieren. Cora Wetzsteins Speisen sehen nämlich farbenfroh, interessant und – im wahrsten Sinne des Wortes – zum Anbeißen aus! Das Kochbuch ermuntert uns, einmal etwas Neues auszuprobieren und überrascht immer wieder mit exotischen Zutaten und ausgefallenen, aber vielversprechenden Geschmackskombinationen. Die Zubereitungszeit liegt meist unter einer halben Stunde, was ich in Ordnung finde. Im Büro oder in der Uni muss die Mahlzeit dann nur durchgerührt oder mit Wasser ergänzt werden. Sehr geschätzt habe ich auch die klaren, präzisen Anweisungen und hilfreichen Tipps, durch die es leicht wird, das Essen nachzukochen. Die Rezepte, die ich selbst ausprobiert habe, wie zum Beispiel das „Erdbeer-Schoko-Müsli“ und die leckere „Oriental Bowl“, waren wirklich sehr lecker. Die exotischen Zutaten (neben der Tatsache, dass die Autorin leider nicht immer meinen Geschmack getroffen hat) sind allerdings zugleich auch mein größter Kritikpunkt: Mal schnell schauen, was man zu Hause hat und dann spontan eines der Rezepte nachkochen? Das ist leider nicht drin, weil man viele Zutaten eben nicht im Haus hat. Manche sind sogar so exotisch, dass ich nicht weiß, woher ich sie in meiner ländlichen Gegend überhaupt bekommen soll. Das ist schade! Mein Tipp: Die Rezepte einfach als Inspiration betrachten und die Zutaten je nach Gusto und Inhalt der Speisekammer anpassen!

Bewertung

Idee: 5 Sterne ♥
Inhalt: 4 Sterne
Struktur: 5 Sterne
Ausführung: 4 Sterne
Anleitungen: 5 Sterne ♥
Gestaltung / Fotos: 5 Sterne ♥
Feministischer Blickwinkel: ♥

Insgesamt:

❀❀❀❀ Lilien

Dieses Buch erhält von mir vier zufriedene Lilien!

Veröffentlicht am 22.08.2019

3,5*: Atmosphärische, unheimliche starke erste Hälfte, dann geht dem Spannungsroman die Luft aus

Der Kinderflüsterer
0

Spoilerfreie Rezension!

Inhalt

Im Buch geht es um den Witwer Tom und seinen Sohn Jake, die beide umziehen und im kleinen Städtchen Featherbank noch einmal neu anfangen wollen. Die Trauer hat beide ...

Spoilerfreie Rezension!

Inhalt

Im Buch geht es um den Witwer Tom und seinen Sohn Jake, die beide umziehen und im kleinen Städtchen Featherbank noch einmal neu anfangen wollen. Die Trauer hat beide noch fest im Griff, immer wieder gibt es Konflikte und Streit, weil sie sich gegenseitig nicht so richtig verstehen. Die neue Stadt hat eine düstere Vergangenheit: Mehrere Kinder wurden ermordet, der Mörder zum Glück gefasst. Tom interessiert sich eigentlich nicht für die alten Mordfälle, da er genug um die Ohren hat - bis erneut ein Kind verschwindet und Jake behauptet, ein Flüstern am Fenster zu hören…

Übersicht

Einzelband oder Reihe: Einzelband
Verlag: Blanvalet
Seitenzahl: 448
Erzählweise: Ich-Erzähler & Figuraler Erzähler, Präteritum
Perspektive: mehrere männliche und eine weibliche Perspektive
Kapitellänge: kurz bis mittel
Tiere im Buch: + Es werden keine Tiere verletzt, gequält oder absichtlich getötet. Einige Schmetterlinge sterben jedoch an Altersschwäche oder Hunger, das ist nicht eindeutig.

Warum dieses Buch?

Der Klappentext klang unheimlich spannend und hat mich sofort an C. J. Tudors „Der Kreidemann“ erinnert - einen Thriller, den ich absolut geliebt habe! Daher musste ich dieses Buch natürlich unbedingt lesen.

Meine Meinung

Einstieg (♥)

"Der schlimmste Albtraum von Eltern ist die Entführung ihres Kindes durch einen Fremden. Allerdings ist dies statistisch gesehen ein höchst unwahrscheinliches Ereignis. Die größte Gefahr geht für Kinder tatsächlich von nahen Angehörigen aus und findet hinter verschlossenen Türen statt [...]" Seite 11

Ich habe sofort und ohne Probleme in die Geschichte gefunden, da das Buch sofort sehr unheimlich und spannend mit der Entführung eines kleinen Jungen und der darauf folgenden Suchaktion beginnt.

Schreibstil (+)

Alex Norths Schreibstil hat mir wirklich durchgehend sehr gut gefallen. Der Autor schreibt etwas anspruchsvoller als viele andere ThrillerautorInnen, seine Sätze sind nicht so kurz und abgehackt. Seine Sprache ist flüssig und sehr angenehm zu lesen. Glänzen kann der Schreibstil sowohl in unheimlichen und hoch atmosphärischen Momenten als auch dann, wenn es um die Gefühle und Gedanken der Hauptfiguren geht. Beides gelingt Alex North sehr gut!

Inhalt, Themen, Botschaften & Ende (+/-)

„Wenn die Tür halb offen steht,
ein Flüstern zu dir rüberweht.
Spielst du draußen ganz allein,
findest du bald nicht mehr heim.
Bleibt dein Fenster unverschlossen,
hörst du ihn gleich daran klopfen.
Denn jedes Kind, das einsam ist,
holt der Flüsterer gewiss.“ Vgl. Seite 119

Für den „Kinderflüsterer“ hat Alex North im englischsprachigen Raum bereits viel Lob erhalten und auch bei uns gibt es große Marketing-Kampagnen und einen regelrechten Hype. Bestimmt lag es daran, dass meine Vorfreude sehr groß und meine Erwartungen so hoch waren. Leider blieb das Buch insgesamt hinter meinen Erwartungen zurück.

Auch wenn auf dem Cover „Roman“ steht, war doch meist von „Spannungsroman“ die Rede, und vermarktet wurde das Buch sowieso als Thriller. In der ersten Hälfte war die Geschichte auch sehr spannend (wie ein Thriller) und gut geschrieben, der zweite Teil war leider deutlich schwächer. Es kommt zu einigen inhaltlichen Wiederholungen und der Verwendung von „Füllmaterial“; immer wieder wird das gleiche Thema besprochen – jedoch leider nicht so, dass das Buch etwas Neues bieten kann. Das führt leider zu einigen Längen.

Prinzipiell fand ich das Setting, die Idee und auch die Themen, die im Roman behandelt werden, wie zum Beispiel Trauerbewältigung, Familie, Alltag als alleinerziehender Vater, Einsamkeit, Überforderung, sehr interessant und gut gewählt. Es gab viele starke Momente im Buch, die erste Hälfte konnte mich rundum überzeugen! Übrigens ist dieser Roman auch für Menschen mit empfindlichen Mägen geeignet, da der Autor auf psychologische Spannung setzt und bei der Beschreibung der Mordopfer nicht ins Detail geht. Leider wurde nach dem ersten starken Teil Potential verschenkt. Es hätte gerne noch viel emotionaler und tiefgründiger sein dürfen.

Die nur ganz zart eingewebte, beginnende Liebesgeschichte hat mich nicht gestört – im Gegenteil, ich war froh, dass Tom endlich einmal Kontakt mit anderen Menschen hat. Das Ende fand ich zudem rund und gelungen, auch wenn die Auflösung keine wirkliche Überraschung mehr war, wenn manches offen bleibt und wenn ich mir für manche Figuren vielleicht ein positiveres Ende gewünscht hätte.

Geschrieben ist das Buch oft sehr filmisch, es erzeugt starke, einprägsame Bilder im Kopf, die mir sicher lange in Erinnerung bleiben werden. Da wundert es nicht, dass die Filmrechte bereits verkauft wurden. Auf diese Verfilmung bin ich schon sehr gespannt – ich denke, dass sie als Thriller / Drama mit Horror-Elementen ausgezeichnet funktionieren wird (weil dann nämlich auch das Tempo angezogen und die Wiederholungen gestrichen werden können)!

ProtagonistInnen & Figuren (+/-)

„Wir würden hier sicher sein.
Wir würden glücklich sein.
Und in der ersten Woche waren wir das auch.“ Seite 60

Was die Hauptfiguren, aus deren Sicht wir die Geschichte erzählt bekommen, betrifft, so bin ich zwiegespalten. Jake und seinen Autorenvater Tom mochte ich beispielsweise beide sehr gerne. Beide sind authentische, komplizierte und komplexe Persönlichkeiten, die nicht nur gute Seiten, sondern auch Schwächen haben – jedoch waren sie mir niemals unsympathisch. Vielmehr habe ich (meist) mit ihnen mitgefühlt und mit ihnen mitgetrauert. Die schwierige, stressige Zeit spiegelte sich auch in ihrem Verhalten sehr gut wieder wider. Beide sind häufig mit der neuen Situation überfordert. Sehr seltsam fand ich nur, dass Tom und Jake so dermaßen isoliert leben und keinerlei FreundInnen oder Verwandte zu haben scheinen. Das fand ich schon etwas unglaubwürdig und unnatürlich (es wirkte konstruiert).

Die anderen ProtagonistInnen und Figuren, wie zum Beispiel Pete, Amanda, aber auch der im Gefängnis sitzende Mörder Carter, bleiben jedoch in vielen Fällen leider zu blass. Obwohl die meisten von ihnen eine Entwicklung durchmachen, waren sie mir oftmals nicht dreidimensional und einmalig genug. Manchmal fehlte mir auch einfach Tiefe. Ein Beispiel: Carter wirkte wie der typische 08/15-Bösewicht, der den Polizisten provoziert und unheimlich ist, aber es gab leider nichts, wodurch er sich von anderen Mördern in anderen Büchern abgehoben hätte.

Spannung & Atmosphäre (+/-)

Auch was die Spannung und Atmosphäre betrifft, habe ich gemischte Gefühle. Die erste Hälfte des Buches fand ich wahnsinnig stark – ich war mir sogar sicher, dass ich es hier mit einem 5-Sterne-Buch zu tun habe. Es gab viele unglaublich atmosphärische Gänsehaut-Momente und unheimliche Szenen mit Horror-Elementen, die mich absolut begeistern konnten. Krächzende Stimmen, knackende Dielen, ein neues Haus, das den frischen Besitzern nicht ganz geheuer ist. Immer wieder stellt sich auch die Frage, ob Jakes unsichtbare Freunde real sind oder nur seiner Fantasie entspringen. Die erste, unvorhersehbare und wendungsreiche Hälfte habe ich wirklich geliebt, denn ich liebe es, mich zu gruseln!

Im zweiten Teil ging der Geschichte dann aber ein wenig die Luft aus. Der Spannungsbogen brach ein, immer wieder gab es Wiederholungen und die Geschichte schien auf der Stelle zu treten. Ich war zwar nie gelangweilt, dennoch wurde hier Potential verschwendet, weil es schon die eine oder andere Länge gibt. Besonders im letzten Drittel, in dem viele Thriller und Romane noch mit einigen unerwarteten Wendungen verblüffen, geschah dann überraschend wenig. Zudem stand der Mörder zu früh fest, was mir die Möglichkeit genommen hat, selbst zu rätseln. Der Showdown war kurz und irgendwie unaufgeregt, auch hier hätte ich mir mehr erwartet.

Feministischer Blickwinkel (+/-)

Ich finde es großartig, dass Alex North einen alleinerziehenden Vater und diese schwierige Vater-Sohn-Beziehung in den Mittelpunkt seiner Geschichte gestellt hat, da alleinerziehende Väter in der Literatur ohnehin unterrepräsentiert sind. Ich mochte auch, dass Tom und Alex beide sehr sensibel, gefühlvoll und liebevoll sind, dass sie ängstlich und handwerklich ungeschickt sein und weinen dürfen und sehr am Tod der Mutter / Ehefrau zu knabbern haben (alles andere wäre ja auch unglaubwürdig!). Sehr interessant fand ich auch, dass Tom einfach zugibt, dass er manchmal Abstand von seinem Sohn braucht, weil ihm alles zu viel wird. Ist ja eigentlich auch nichts dabei. Aber: Würde das eine Frau sagen, würden sofort wieder einige Leute „Rabenmutter“ schreien.

Manche Dinge haben mir allerdings nicht so gut gefallen. Zum einen, dass es viel mehr männliche als weibliche Figuren im Buch gibt. Hier hätte ich mir mehr Ausgeglichenheit gewünscht. Zum anderen wird geschildert, wie der Vater nach dem Tod der Frau zum ersten Mal Geschenke einpackt, das Kind zum Frisör bringt und alles sauber halten muss. Hier kam es mir so vor, als hätte sich Tom davor weniger in Kindererziehung und Haushalt eingebracht hat als seine Ehefrau, obwohl er von zu Hause arbeitet, da er Autor ist. Es gibt nur ein Beispiel für gegenderte Beschimpfungen (Hu++), diese wird aber vom Bösewicht ausgesprochen. Den „Bechdel Test“, den ich in Zukunft bei jedem Buch durchführen werde, weil er einen Hinweis auf die Repräsentation von Frauen in einem fiktiven Werk geben kann, besteht das Buch leider nicht. Hierfür müssten zwei weibliche Figuren miteinander ein Gespräch über etwas anderes als Männer führen. Dafür haben wir hier leider zu wenige Frauenfiguren.

Mein Fazit

„Der Kinderflüsterer“ ist ein Spannungsroman, um den es momentan einen großen Hype gibt. Deshalb bin ich mit hohen Erwartungen herangegangen, die aber leider nur zu einem Teil erfüllt werden konnten. Der Schreibstil ist flüssig, angenehm und etwas anspruchsvoller als in einem durchschnittlichen Thriller, was mir sehr gut gefallen hat. Dem Autor gelingt es mit seiner Sprache sowohl in spannenden als auch in emotionalen Momenten zu glänzen. Die Figuren konnten mich leider nicht durch die Bank überzeugen. Jake und Tom waren zwar sehr gut und glaubwürdig ausgearbeitet (ich habe mit den Trauernden meist sehr mitgefühlt), die anderen ProtagonistInnen und Nebenfiguren blieben leider oft blass. Inhaltlich fand ich die Themen – Trauer, Einsamkeit, Überforderung, Alltag als alleinerziehender Vater (endlich!) -, das Setting und die Idee in der ersten Hälfte großartig, leider wurde bei der Umsetzung in der zweiten Hälfte viel Potential verschenkt. Es hätte oft gerne emotionaler und tiefgründiger sein dürfen. Durch einige inhaltliche Wiederholungen, „Füllmaterial“, zu wenige Twists und die frühe Enthüllung des Täters geht dem Buch leider in der zweiten Hälfte die Luft aus. Ich hatte das Gefühl, dass die Geschichte stellenweise auf der Stelle tritt. Mir fehlten Spannung – das Buch wies leider ein paar Längen auf – und ein überzeugender Showdown. Absolut begeistern konnte mich hingegen in den ersten 250 Seiten die dichte und unheimliche Atmosphäre, die der Autor kreiert! Krächzende Stimmen, knackende Dielen, ein neues Haus, das den frischen Besitzern nicht ganz geheuer ist: Es gab viele Gänsehaut-Momente und Horror-Elemente, sodass ich mich echt gegruselt habe! Mein Fazit: „Der Kinderflüsterer“ ist ein Spannungsroman mit einer unglaublich starken, unheimlichen und atmosphärischen ersten Hälfte, dem in der zweiten Hälfte aber leider die Luft ausgeht und der deshalb hinter meinen Erwartungen zurückblieb. Den Hype kann ich leider nicht wirklich nachvollziehen.

Bewertung

Idee, Themen, Botschaft: 5 Sterne ♥
Umsetzung: 3,5 Sterne
Worldbuilding: 4 Sterne
Einstieg: 5 Sterne ♥
Schreibstil: 4 Sterne
ProtagonistInnen: 3 Sterne
Figuren: 2 Sterne
Spannung: 3 Sterne
Atmosphäre: 3,5 Sterne
Ende / Auflösung: 4 Sterne
Emotionale Involviertheit: 3,5 Sterne
Feministischer Blickwinkel: +/-

Insgesamt:

❀❀❀,5 Lilien

Dieses Buch bekommt von mir insgesamt dreieinhalb Lilien!

Veröffentlicht am 14.08.2019

Erschreckende Dystopie mit wichtiger Botschaft, aber auch Schwächen

Dry
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Achtung! Die Rezension enthält Spoiler, vor denen aber im Text noch einmal gewarnt wird!


Inhalt

Es ist so weit, die Katastrophe ist eingetreten: Aus Alyssas Wasserhahn kommt kein Tropfen Wasser mehr. ...

Achtung! Die Rezension enthält Spoiler, vor denen aber im Text noch einmal gewarnt wird!


Inhalt

Es ist so weit, die Katastrophe ist eingetreten: Aus Alyssas Wasserhahn kommt kein Tropfen Wasser mehr. Die Behörden bitten die Bewohner Kaliforniens, ruhig zu bleiben und versprechen baldige Hilfe. Doch diese kommt nicht. Schon am ersten Tag beginnt die dünne Schicht der Zivilisation zu bröckeln, als die Leute im Supermarkt um die letzten Wasserflaschen streiten, bereits am dritten Tag eskaliert die Lage. Es ist erschreckend, wie schnell das geht. Jeder scheint sich selbst der Nächste zu sein. Bald wird um jeden Schluck Wasser erbarmungslos gekämpft…

Übersicht

Einzelband oder Reihe: Einzelband
Verlag: FISCHER Sauerländer
Seitenzahl: 448
Erzählweise: Ich-Erzähler, Präsens
Perspektive: mehrere weibliche und männliche Perspektiven
Kapitellänge: kurz bis mittel
Tiere im Buch: +/- Angeblich tötet eine der Figuren mit einem Luftdruckgewehr Tiere (hier ist nicht sicher, ob das den Tatsachen entspricht), Kelton redet zudem gerne über die Jagd und ist ein überzeugter Jäger. Dutzende Fische sterben, weil jemand ein Aquarium zerstört, die überlebenden haben auch keine guten Chancen; es werden Witze auf Kosten der toten Tiere gemacht, ein Hund wird bei der Flucht trotz Platz im Auto zurückgelassen, jemand trägt eine Kaninchenpfote als Glücksbringer am Schlüsselbund mit sich. Andererseits gibt die Familie auch dem Hund Wasser, als dieses knapp wird und behandelt ihn sehr gut. Es werden keine Tiere von den Hauptfiguren gequält oder getötet.

Warum dieses Buch?

Ich liebe Endzeitszenarien, verfolge besorgt die Auswirkungen des Klimawandels und mochte auch die „Scythe“-Reihe von Neal Shusterman gern. Das alles, das Thema der Geschichte und die Tatsache, dass der Autor das Buch gemeinsam mit seinem Sohn geschrieben hat, haben mich sofort neugierig gemacht!

Meine Meinung

Einstieg (♥)

"Der Wasserhahn in der Küche gibt sehr bizarre Geräusche von sich. Er keucht und hustet, als hätte er einen Asthmaanfall. Er gurgelt wie ein Ertrinkender, spuckt einmal und verstummt dann ganz." E-Book, Position 41

Ich hatte keinerlei Probleme, ins Buch zu finden. Im Gegenteil, die Geschichte beginnt im genau richtigen Tempo, lässt uns Zeit, die Protagonistin und ihre Familie kennenzulernen, und kommt dann immer mehr ins Rollen, als das Unglück seinen Lauf nimmt, und die Welt im Chaos versinkt. Sehr gelungener Anfang!

Schreibstil (+)

Der anschauliche Schreibstil des Vater-Sohn-Gespanns konnte mich auch dieses Mal überzeugen. Neal und Jarrod Shusterman schreiben sehr flüssig, einfach und angenehm, sodass das Buch nicht nur für das jugendliche Zielpublikum, sondern auch für Lesemuffel gut geeignet ist. Dabei kann das Buch sowohl in spannenden als auch in eher stillen, emotionalen Momenten glänzen, auch wenn einen die Sätze meist ästhetisch nicht umhauen und manchmal etwas unmotiviert aneinandergereiht wirken. Ich bin insgesamt zufrieden!

Inhalt, Themen, Botschaften & Ende (+/-)

„Irgendwas fühlt sich komisch an. Ich weiß nicht genau, was es ist, aber es hängt in der Luft wie ein Geruch. Es ist die Ungeduld der Menschen vor den Kassen. Fast wie mit einem Rammbock bahnen sich die Leute mit ihren Einkaufswagen einen Weg durch die Schlangen. Es herrscht eine Art primitive Ur-Feindlichkeit, nur verdeckt von einer dünnen Schicht aus vorstädtischer Höflichkeit, die langsam fadenscheinig wird.“ E-Book, Position 148

Den Aufbau des Buches und das Worldbuilding fand ich sehr gut gelungen. Neben Kapiteln aus vier verschiedenen Perspektiven gibt es zwischendurch immer wieder so genannte „Snapshots“, die kurz das Leben einer anderen Person beleuchten. Auf diese Weise erfahren wir wie Nachrichten-Moderatorinnen, LKW-Fahrer, die Wasser liefern, und die verweifelten Menschen in den Versorgungszentren die Katastrophe erleben und damit umgehen. So erhalten wir ein recht umfassendes Bild von der schrecklichen Lage, was ich sehr gelungen fand. Die vielen Perspektivwechsel haben mich nicht gestört – im Gegenteil, sie haben Tempo in die Geschichte gebracht. Positiv fand ich auch, dass dieses Mal keine kitschige Liebesgeschichte die Hauptstory in den Hintergrund gedrängt hat – denn das hatte ich zwischenzeitlich schon fast befürchtet.

Mit „Dry“ haben die beiden Autoren mit Sicherheit eine wendungsreiche, glaubwürdige Dystopie geschaffen, die diesen Namen verdient hat. Am erschreckendsten an der Katastrophe ist mit Sicherheit die Tatsache, dass diese gar nicht allzu weit hergeholt ist. Schon jetzt spüren wir die Folgen des Klimawandels, schon jetzt gibt es immer schlimmere Waldbrände, Dürren, Überschwemmungen und Wirbelstürme. Und noch immer verschwenden wir Wasser, leben, als hätten wir es unbegrenzt zur Verfügung. Wasserknappheit wird noch Konflikte und Kriege auslösen, prophezeien Experten. In der Geschichte ist der Tap-Out bereits geschehen – und die Folgen sind verheerend. Denn ohne Nahrung kann der menschliche Körper immerhin mehrere Wochen leben, ohne Flüssigkeit jedoch nur ein paar Tage. Schnell bricht Panik aus, die Lage eskaliert, durch verunreinigtes Trinkwasser kommt es zu Infektionen und Krankheiten. Wertgegenstände werden in Autos und Häusern zurückgelassen, weil nur mehr eines zählt und sich schnell zum wertvollsten Gut überhaupt entwickelt: Wasser.

Die Botschaft der Geschichte scheint klar: Schluss mit der Wasserverschwendung! Und: Wir müssen endlich aufhören, den Klimawandel und seine schrecklichen Folgen zu verharmlosen und zu verdrängen! Wir müssen die Notbremse ziehen, bevor es zu spät ist! Und schaden kann es sicher nicht, wenn wir uns auf Ernstfälle (egal welcher Art) vorbereiten und genug Konserven und Wasser für einige Wochen einlagern. Immer wieder gibt es im Buch auch Situationen, in denen moralisch schwierige Entscheidungen getroffen werden müssen. Unweigerlich fragt man sich irgendwann: Was hätte ich getan? Wie hätte ich gehandelt?

Nicht überzeugen konnte mich neben der immer wieder fehlenden Tiefe und einigen Logiklöchern, auf die ich gleich noch näher eingehen werde, das Ende.

Achtung: Spoiler!

Wie auch schon andere RezensentInnen geschrieben haben, ist das Ende nicht nur „Friede, Freude, Eierkuchen“, sondern da ist sogar noch Zuckerguss obendrauf. Ich fand das besonders bei einer Dystopie zu unrealistisch; mir war das eindeutig zu viel.

Spoiler: Ende!

ProtagonistInnen (+/-)

„‘Sie sagen, wir sollen ruhig bleiben‘, betont Alyssa.
‚Ja, das haben sie auch zu den Leuten auf der Titanic gesagt, als sie schon wussten, dass sie sinken wird.‘
Und er hat recht. Vom Standpunkt der Behörden aus sind ruhiggestellte Menschen, die still und leise sterben, viel einfacher zu händeln als wütende Menschen, die um ihr Leben kämpfen.“ E-Book, Position 1226

Man merkt, dass sich die Autoren Mühe gegeben haben, ihre Figuren eine Entwicklung durchmachen zu lassen. Alle Charaktere haben ihre Stärken und Schwächen und handeln moralisch nicht immer vollkommen einwandfrei – etwas anderes wäre in einer solchen Situation auch unrealistisch. Besonders ihr Verhalten in Ausnahmesituationen – wenn es um Leben und Tod ging – war für mich sehr spannend zu beobachten. Trotzdem hat mir auch hier oft Tiefe und Einzigartigkeit gefehlt; vielleicht fiel es mir deswegen stellenweise schwer, mit ihnen mitzufühlen und mitzufiebern. Zudem fand ich ihr Handeln leider nicht immer logisch und glaubwürdig. Ein Beispiel: Die Familie findet heraus, dass aus den Leitungen kein Wasser mehr kommt und weiß, dass es nun wichtig und schlau wäre, sich mit Wasser- und Essensvorräten einzudecken. Aber aus irgendeinem Grund beschließen sie, erst Stunden später einkaufen zu fahren und müssen dann um die letzten Flaschen kämpfen – obwohl es überhaupt keinen Grund gab, so lange zu warten!

Einige Figuren waren mir auch sehr unsympathisch, besonders der egoistische, feige Henry. Aber auch der Waffenfreak Kelton, der vor Ehrfurcht feuchte Augen bekommt, weil seine Waffe so schön glänzt, hat bei mir immer wieder Augenrollen und Gefühle der Hassliebe ausgelöst.

Figuren (+)

Die anderen Personen fand ich sehr gut gelungen, auch wenn sie nur kurze Auftritte im Buch hatten. Für Nebenfiguren waren sie wirklich erstaunlich gut ausgearbeitet und durften viele Facetten von sich zeigen. Das hat mir gefallen!

Spannung & Atmosphäre (+/-)

„Für eine Wasserkrise gibt es keine Radarbilder. Keine Sturmfluten, keine Trümmerfelder. Der Tap-Out ist so lautlos wie Krebs.“ E-Book, Position 319

Das Buch überzeugt mit einem sehr starken Beginn. Es lässt uns miterleben, wie unscheinbar alles beginnt, wie schnell die Lage aber immer weiter eskaliert. Leider kann die Geschichte ihr hohes Spannungslevel nicht bis zum Schluss halten, im Mittelteil gibt es einige Passagen, in denen der Spannungsbogen einbricht. Jedoch gelingt es den Autoren immer wieder, Spannung neu aufzubauen und die Neugier der LeserInnen mit vielen unerwarteten Wendungen, einer unvorhersehbaren Geschichte und so manchem geschickt platzierten Cliffhanger neu zu entfachen.

Wirklich begeistern konnte mich hingegen die Atmosphäre im Buch. Leere Wohnsiedlungen, aufgebrachte Menschenmengen, geplünderte Häuser - das Chaos, von dem die Welt heimgesucht wird, ist auf jeder Seite spürbar. Die vielen „Snapshots“ geben kurze Einblicke in die Welt verschiedener Figuren und vermitteln ein erschreckendes Gesamtbild. Das ist wirklich eine Dystopie, die sich so nennen darf! Beim Lesen stellt sich seitenweise ein großer Durst ein, man beginnt, Regen, Flüsse und Wasserflaschen mit anderen Augen zu sehen. Nie war es schöner, den Wasserhahn aufzudrehen und ein paar Schlucke Wasser zu trinken!

Feministischer Blickwinkel (+/-)

Hier gibt es einige Dinge, die mich gestört haben. Wütend und traurig hat mich beispielsweise gemacht, dass schon einem kleinen Jungen Genderstereotype eingetrichtert werden. Ihm wird eingeredet, dass ihm die Klempnerarbeit mehr im Blut liege als zum Beispiel seiner Schwester, weil er ja ein Mann ist. Es ist nämlich sehr wichtig, dass wir schon bei Kindern daran arbeiten, dass sie ein starres Männlichkeitsbild entwickeln – denn wo kämen wir sonst hin? In eine gleichberechtigte Welt, in der niemand in Schubladen gezwängt wird, sondern jede/r sein darf wie er ist? Pff, das wäre ja noch schöner!

Nach dem Tap-Out wird es durch den Ausnahmezustand viel besser, aber davor sprüht die Geschichte nur so vor veralteten, traditionellen Geschlechterrollen: die Mütter kochen, die Männer schrauben an den Autos herum, sind fürs Reparieren und Renovieren zuständig (auch wenn sie es nicht wirklich gut können), Kinder zeigen bereits erste Anfänge von „Machogehabe“, es gibt „Stutenbissigkeit“ unter Mädchen, Mütter neigen zu „Frustputzen“, die „Eroberung“ eines Mädchens wird mit der Jagd auf ein Reh verglichen, die Väter sind natürlich die, die alles bestimmen und „Machtwörter“ sprechen. Einmal werden sogar „männliche Geräusche“ in der Garage produziert. Wie die wohl klingen? Auch gegenderte Beschimpfungen gab es, allerdings nur wenige: Tussi und Hu+++sohn. Dennoch würde ich mir wünschen, dass solche Wörter keinen Einzug in Jugendbücher finden! Hier sehe ich eindeutig noch Verbesserungsbedarf. Besonders AutorInnen von Kinder- und Jugendliteratur müssen endlich lernen, sensibler mit Geschlechterrollen und -klischees umzugehen und auch die eigene Sozialisation zu hinterfragen!

Aber es gibt natürlich auch Aspekte, die man loben kann. Die Mutter von Alyssa ist Psychologin, die sportliche Alyssa spielt im Fußballteam der Schule und ihre Eltern sind überzeugt, dass sie einmal Anwältin wird. Beide Protagonistinnen sind stark, Jacqui bricht sicherlich mit Geschlechterklischees und auch Jungs dürfen weinen.

„‘Warum muss ich das machen?‘, zetert er.
‚Weil wir uns abwechseln‘, erinnere ich ihn, dann appelliere ich an sein männliches Ego. ‚Außerdem bist du ein Mann. Dir liegt Klempnerarbeit einfach mehr.‘“ E-Book, Position 784

Mein Fazit

Mit „Dry“ haben Neal und Jarrod Shusterman eine Dystopie geschrieben, die diesen Namen verdient hat. Die Autoren skizzieren in ihrem Buch ein leider gar nicht so weit hergeholtes, aber absolut erschreckendes Endzeitszenario: Eskalation, Kämpfe um jeden Schluck Wasser, durch verunreinigtes Wasser ausgelöste Infektionen, ausgestorbene Siedlungen und geplünderte Häuser. Die Botschaft ist klar: Schluss mit der Wasserverschwendung, Schluss mit der Verharmlosung des Klimawandels! Und: Schaden kann es sicher nicht, wenn wir uns auf Ernstfälle (egal welcher Art) vorbereiten und genug Konserven und Wasser einlagern. Eindrucksvoll beschäftigt sich die Geschichte mit dem Überleben, den Opfern, die wir bereit sind, dafür zu bringen, und mit der Frage nach moralisch richtigem Verhalten in Ausnahmesituationen. Trotzdem gibt es leider auch einige Logiklöcher und immer wieder fehlte mir Tiefe. Auch wenn der Schreibstil ästhetisch nicht umwerfend ist, so ist er doch flüssig und angenehm lesbar und somit perfekt für die jugendliche Zielgruppe und auch Lesemuffel geeignet. Mein Verhältnis zu den Figuren ist hingegen zwiegespalten: Teilweise sind sie gut ausgearbeitet und entwickeln sich weiter, teilweise sind sie aber auch sehr unsympathisch; insgesamt fehlten mir auch hier Tiefe und Einzigartigkeit. Vielleicht konnte ich deshalb nicht immer mit ihnen mitfühlen und mitfiebern? Nicht überzeugen konnten mich zudem das übertriebene, unrealistische Ende und die oft starren Geschlechterrollen, die in diesem Buch vermittelt werden. AutorInnen von Kinder- und Jugendliteratur müssen endlich lernen, sensibler mit diesem Thema umzugehen! Das Buch beginnt sehr stark, kann sein hohes Spannungslevel aber leider nicht durchgehend halten. Regelmäßig bricht der Spannungsbogen ein, kann jedoch durch gezielt gesetzte Cliffhanger und eine wendungsreiche Geschichte auch immer wieder neu aufgebaut werden. Wirklich begeistern konnte mich hingegen die Atmosphäre - das Chaos, von dem die Welt heimgesucht wird, ist auf jeder Seite spürbar. Beim Lesen stellt sich seitenweise ein großer Durst ein, man beginnt, Regen, Flüsse und Wasserflaschen mit anderen Augen zu sehen. Nie war man dankbarer, den Wasserhahn aufdrehen und ein paar Schlucke trinken zu können.

Bewertung

Idee, Themen, Botschaft: 5 Sterne ♥
Umsetzung: 3,5 Sterne
Worldbuilding: 4,5 Sterne
Einstieg: 5 Sterne ♥
Schreibstil: 4 Sterne
ProtagonistInnen: 3 Sterne
Figuren: 4 Sterne
Spannung: 3 Sterne
Atmosphäre: 5 Sterne ♥
Ende / Auflösung: 2 Sterne
Emotionale Involviertheit: 3,5 Sterne
Feministischer Blickwinkel: +/-

Insgesamt:

❀❀❀,5 Lilien

Dieses Buch bekommt von mir insgesamt dreieinhalb Lilien!