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Veröffentlicht am 18.04.2024

Ein Buch wie ein Sturm

Melodie der Asche
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Melodie der Asche – ein Buch wie ein Sturm


(Vorsicht Spoiler! Diese Rezension spiegelt meine persönliche Meinung wieder. Sie ist unbezahlt und das Buch habe ich selbst gekauft)

„In dieser Nacht sterbe ...

Melodie der Asche – ein Buch wie ein Sturm




(Vorsicht Spoiler! Diese Rezension spiegelt meine persönliche Meinung wieder. Sie ist unbezahlt und das Buch habe ich selbst gekauft)

„In dieser Nacht sterbe ich.“
Mit diesem Satz eröffnet Elya Adair ihre Geschichte und wirft uns unmittelbar hinein in eine atemberaubende und epische Geschichte über Vergeltung, Liebe und Freiheit.

Eine Seeschlacht tobt zwischen der Flotte der Rebellen und der Heressia. Mittendrin kämpft sich der fluchbeladene Magier Caliyan zum Flaggschiff der Rebellen vor, er sucht den Mann, den er einst geliebt hat, und dessen Erinnerungen das Einzige sind, was ihn befreien kann von der Dunkelheit, die in ihm singt und die ihn zu vernichten droht. Doch sein Plan scheitert. Der Admiral der Rebellion stirbt in seinen Armen und Caliyan versinkt in den Fluten vor den Obsidianklippen ...

Handlung und Charaktere

Seit Jahrhunderten wird die Bevölkerung des Reichs der Heressia vom grausamen Regime des Sha, ihres gottgleichen Herrschers, unterdrückt und jeder Widerstand blutig niedergeschlagen. Laudan, der Sohn eines der regimetreuesten Generäle und aufsteigender Stern der heressianischen Armee sympathisiert heimlich mit der Rebellion und spielt den Aufständischen Informationen zu. Während einer Mission für die Rebellen lernt er den faszinierenden jungen Fischer Vaelen kennen, der keine Erinnerung an seine Vergangenheit hat und den ein dunkles Geheimnis zu umgeben scheint.

Caliyan, Laudan und Vaelen sind die Hauptfiguren der Erzählung und die Geschichte wird abwechselnd aus ihrer Perspektive erzählt.

Caliyan

»Ich möchte dir mein Schicksal zeigen. Mein ganzes Schicksal, und dann möchte ich, dass du mir hilfst, es zu beenden, bevor ich die Welt mit Chaos überziehe.«

Caliyan ist ein Charakter, der uns zu Beginn der Geschichte als von Hass und Bedauern getrieben, als zerfressen und von einem tiefgreifenden Schmerz und beherrscht von einem unstillbaren Rachebedürfnis präsentiert wird. Ohne dass man zunächst seine genauen Beweggründe kennt, wird schnell klar, dass er den wichtigsten Menschen in seinem Leben auf schreckliche Weise verloren hat – und dass es mit dem einmaligen Verlust nicht getan ist, sondern dass er verdammt ist, diesen Verlust wieder und wieder zu erleben, ohne etwas dagegen tun zu können.
Caliyans Schmerz ist beim Lesen fast körperlich spürbar. Seine Verzweiflung und sein blinder Versuch, durch Rache an den Verantwortlichen, seine Gefühle und die dunkle Magie, die der Verlust in ihm geweckt hat, zu unterdrücken ist nachvollziehbar und trotz seiner Unerbittlichkeit und Härte schimmert von Anfang an eine Persönlichkeit durch, die so ganz anders ist: Liebevoll, voller Freude an einfachen Dingen und mit einer Erinnerung an die Hoffnung auf eine gerechtere Welt, einer Erinnerung an eine Liebe, die ihm alles bedeutet hat.

Laudan

„Vor langer Zeit hatten wir einen Traum. Wann hat Krieg ihn je wahr gemacht?“

Laudan ist ein Mann, der früh gelernt hat, seine wahren Gedanken und Gefühle, hinter einer Fassade aus Gehorsam und Kälte zu verstecken. Er kennt die Heressia und ihre Unmenschlichkeit in- und auswendig, hat sie seit seiner frühsten Kindheit am eigenen Leib erfahren und nur dank seines ausgeprägten Sinns für Gerechtigkeit und der Fürsorge und Anleitung seiner mütterlichen Freundin, der Rebellin Teralyn, konnte er sich seine Menschlichkeit bewahren. Dennoch zerbricht Laudan zusehends an der Lüge, die er gezwungen ist zu leben und den Gräueltaten, die er gezwungen ist mit anzusehen oder selbst zu verüben, um seine Tarnung aufrecht zu erhalten. Als er auf Vaelen trifft, entdeckt er eine Seite an sich, die ihn am Ende über sich hinauswachsen lässt und zu einer Entscheidung befähigt, die die ganze Welt verändern wird.

Vaelen

„Vor der aufgehenden Sonne zogen Möwen ihre Kreise. Ihr Krächzen mischte sich unter das Lied der See. Rau war es, wild und ungestüm. Salz auf seiner Haut und Wind in seinen Haaren.“

Vaelen ist ein Fischer, der vor drei Jahren an der Küste in der Nähe des Dorfs Cerza gefunden wurde, ohne Erinnerung an sein früheres Leben und mit einem roten Seidenband und einem goldenen Ring als einzigen Besitz. Vaelen liebt sein einfaches Leben, das Meer vor den Obsidianklippen und seine Freunde – allen voran den alten Fischer Iovis, der ihn aufgenommen, gesundgepflegt und ihm sein Handwerk beigebracht hat.
Die Magie, von der er spürt, dass sie in ihm schlummert und singt und das Gefühl, die Welt, in der er lebt, für seine Freunde zu einem besseren Ort machen zu müssen, treibt in dennoch dazu, die Rebellion zu unterstützen. Seine Begegnung mit Laudan eröffnet ihm ein winziges Fenster in seine Vergangenheit, doch schneller als ihm lieb ist, wird er in Ereignisse hineingezogen, die ihm alles abverlangen und es ihm unmöglich machen werden, in sein einfaches Leben als Fischer zurückzukehren.

In den Charakteren enthüllt sich die erste Stärke des Romans. Sie sind interessant, sie erfüllen keine Klischees und wirken dabei durch die ganze Geschichte hindurch glaubwürdig und authentisch. Ihre inneren Konflikte, ihre Gefühle füreinander, die Entscheidungen, die sie gezwungen sind zu treffen – auch die moralisch fragwürdigen, all das wird auf eine Weise beschrieben, die die enge Verbindung der Autorin zu ihren Figuren spüren lässt. Vor allem die Hauptfiguren wirken dadurch sehr lebendig und zumindest für mich sehr liebenswert.
Auch die Nebencharaktere sind bis auf wenige Ausnahmen vielschichtig und dreidimensional und selbst die Gegenspieler - so grausam sie sein mögen – handeln aus letzten Endes nachvollziehbaren Motiven.

Worldbuilding

Drachen, Feenwesen, nichtmenschliche Völker oder andere „Standardzutaten“ bekannter Fantasywelten sucht man bei Melodie der Asche vergeblich – und vermisst sie auch nicht.

Die Magie ist das zentrale Element, das die Geschichte trägt und sie fantastisch macht – in jeder Hinsicht.
Diese Magie ist mächtig, sie ist gefährlich und zerstörerisch, und sie zu beherrschen, bedeutet, Herrschaft über die Menschen ausüben zu können. Die Magie erlaubt es, die Gesetze von Zeit, von Leben und Tod außer Kraft zu setzen und mit dem Schicksal zu spielen. Und sie fordert ihren Preis. Sie kann süchtig machen, süchtig nach der Magie selbst – oder nach der weltlichen Macht, die sie verleiht.
Die Natur der Magie, ihre Wirkung, ihre unterschiedlichen Spielarten und ihre gesellschaftliche und historische Bedeutung, enthüllen sich zwanglos und natürlich im Laufe der Geschichte, durch die handelnden Personen, ihre Erlebnisse, Gedanken und Erinnerungen.

Dies gilt im Wesentlichen für alle Aspekte der Welt von Melodie der Asche, wie (Natur-)Gesetze, Historie, Gesellschaftsformen, Technologie, Kulturen und Moralvorstellungen. Die Autorin verzichtet weitgehend auf lange Erklärungen – stattdessen lässt sie die Ereignisse und Charaktere für sich sprechen, schildert deren persönliche Eindrücke und Gefühle und zeichnet auf diese Weise mühelos und ungezwungen ein vielschichtiges und lebendiges Bild einer Welt, die ihresgleichen sucht.
Mit Worten wie Pinselstrichen gelingt es dem Text, eine ebenso eingängige wie faszinierende Welt vor das innere Auge der Leserin/des Lesers zu rufen. Die Schauplätze der Handlung erscheinen vertraut und gleichzeitig voller Geheimnisse: Sei es die herssianische Hauptstadt Ankhad mit ihren Palästen, goldenen Dächern und Arkaden, den duftenden Zitronenhainen und im Kontrast dem heruntergekommenen Hafenviertel mit seinen Opiumhöhlen, Elendsquartieren und Seemannskneipen. Die mysteriöse Wüstenmetropole Venantes oder die geheime Rebellenbasis Pirea – jeder Ort entfaltet seinen eigenen Zauber oder Schrecken.
Nicht zuletzt die durchdachten und klangvollen Namen der Personen, Städte (und Schiffe!) vervollständigen das Bild einer lebendigen, gewachsenen Welt, lassen die Unterschiede zwischen den Kulturen erahnen und geben beim Lesen das Gefühl, nur auf einen winzigen Teil einer riesigen und reichhaltigen Welt zu blicken.

Auf diese Weise braucht es keine Unzahl an fantastischen Elementen, keine Klischees und keine langwierigen Erklärungen oder Beschreibungen, um ein Setting zu erschaffen, das ebenso magisch wie real wirkt – eine Welt, die untrennbar mit ihrer Geschichte und der Geschichte von Melodie der Asche verwoben ist.

Erzählstruktur

Das bringt mich zu einem zentralen Aspekt, der Melodie der Asche zu einem wahrhaft außergewöhnlichen Werk machen: Der Erzählstruktur.

Die Art und Weise, wie die Geschichte von Melodie der Asche erzählt wird, ist etwas besonderes und mit Sicherheit ein absolutes Alleinstellungsmerkmal des Buchs.
Während die gegenwärtigen Ereignisse abwechselnd aus der Sicht von Laudan und Vaelen fortlaufend erzählt werden, erfährt der/die Leser/in parallel die Geschichte Caliyans.
Diese wird in Rückblenden erzählt, die sich ausgehend vom Prolog (der ca. 40 Jahre vor der Haupthandlung angesiedelt ist) in zeitlich umgekehrter Reihenfolge bis etwa 300 Jahre in die Vergangenheit erstrecken. Mit jedem dieser Rückblicke erschließt sich damit nach und nach die übergreifende, und ebenso tragische, wie epische Vorgeschichte. Die Rollen und Identitäten der verschiedenen Figuren werden immer klarer und verändern sich. Die Ursachen der Ereignisse und die Motive des Hauptcharakters und seiner Gegenspieler werden immer weiter geschärft und enthüllt, bisder Punkt in der Geschichte erreicht wird, zu dem alles begann.
Durch diesen genialen Kunstgriff wird ganz automatisch ein Spannungsbogen erzeugt, der mit der Zeit beinahe unerträglich intensiv wird – und der es schnell unmöglich macht, das Buch aus der Hand zu legen. Man wird als Leser/in buchstäblich in die Zange genommen, zwischen Gegenwart und Vergangenheit, bis sich in einer absoluten Schlüsselszene die beiden Zeitstränge vereinen – als Caliyan sich an seine vollständige Geschichte erinnert und zu sich selbst findet – und fast daran zerbricht.
Dass weder die Hauptcharaktere noch die Leser damit schon Erlösung erfahren, liegt in der Natur des Konflikts, über den Melodie der Asche erzählt:
Es ist eine Geschichte über Macht und Liebe, Verrat und Krieg, über die Ursachen des Verlusts von Menschlichkeit und über Wege, diese zurückzuerlangen. Dafür gibt es keinen einfachen Lösungen, und das ist gut so.

In der zweiten Hälfte des Buchses ist es daher an Caliyan und Vaelen/Laudan eine Möglichkeit zu finden, aus der dunklen Spirale der Gewalt, des Hasses und des Vergessens auszubrechen, die sie seit Jahrhunderten in ihren grausamen Fängen hält. Ob sie es schaffen, ob sie ihren Feinden, die genau wie sie gefangen sind in einem ewigen Kreislauf aus Wahnsinn und Hass, entkommen oder sie gar besiegen können und ihren Traum von einer gerechteren Welt zurückerobern können, lasse ich hier absichtlich offen. Nur so viel sei gesagt: Die Auflösung hat es in sich. Sie macht es weder den Lesern noch den Charakteren einfach, aber sie ist voller Hoffnung und sie transportiert eine Botschaft, die man sich zu Herzen nehmen kann – Fantasy hin oder her.

Sprache und Erzählweise

Ein weiterer Grund, warum Melodie der Asche eine unvergleichliche Magie ausübt, ist seine bildhafte, gefühlsbetonte und wunderschöne Sprache. Von der ersten Zeile bis zur Letzten wirkt der Text, wie von einer Melodie getragen, einer Melodie, die manchmal zart und tröstend, dann wieder mitreißend und schmerzhaft klingt und doch immer authentisch und erkennbar bleibt.
Zu jedem Moment ist die Erzählung ganz dicht an der Gefühlswelt des Charakters, aus dessen Sicht gerade erzählt wird. Sie erspart uns keinen körperlichen oder seelischen Schmerz, keinen Moment der Verzweiflung oder Schwäche, keine zerstörte Hoffnung oder quälende Erinnerung. Dabei verliert die Sprache niemals ihre Poesie und so fügen sich selbst brutale Kampfszenen, blutige Schlachten, Folter oder Gewalt nahtlos in den Strom und das Gesamtbild der Erzählung ein, und obwohl diese Szenen teils so intensiv und berührend sind, dass es fast körperlich wehtut und mir die Bilder noch Stunden nach dem Lesen präsent waren, bleibt kein schlechtes Gefühl oder Ekel zurück (andere Bücher habe ich nach solchen Szenen schon oft weglegen müssen) – nur tiefes Mitgefühl für die Figur und ein Eindruck der Notwendigkeit dieser Szenen für die Geschichte.
Auf dieselbe Weise entfalten auch die intimen, schönen und lustigen Szenen (von denen Buch überraschend viele aufweist) eine tiefgehende und bewegende Wirkung, die mindestens genauso lange nachhallt.

Queere Fantasy

Melodie der Asche wird als „queere Fantasy“ beworben, ein Begriff, der hoffentlich mehr Leser/innen anlockt, als abschreckt – und der meiner Ansicht nach nicht nötig sein sollte. Ein zentrales Element der Geschichte ist die Liebe zwischen zwei Männern. Eine Liebe, die auf eine so selbstverständliche und wunderschöne Weise dargestellt und beschrieben wird, dass es völlig unerheblich sein sollte, welches Geschlecht die beiden Beteiligten haben. Es geht hierbei um Menschlichkeit, darüber, wie tief zwei Personen füreinander empfinden können, wie sie einander vervollständigen und gemeinsam zu etwas werden können, was sie alleine nie sein könnten.
Doch leider sind unsere Gesellschaft und unsere Wahrnehmung gleichgeschlechtlicher (oder sonstiger nicht der Norm entsprechender) Partnerschaften noch nicht an diesem Punkt angekommen, und aus diesem Grund ist es umso wichtiger, eine derartige Geschichte zu erzählen und sie so zu erzählen, wie in diesem Fall geschehen. Melodie der Asche problematisiert das Thema nicht, stattdessen wird die Beziehung als etwas Wunderbares, Akzeptiertes und Erlösendes beschrieben. Für Betroffene sicher ein Stück weit Utopie, aber sollte Fantasy nicht genau das beinhalten – einen Traum von einer gerechteren Welt?

Fazit und persönlicher Eindruck

Dieses Buch in wenige Worte zu fassen ist fast unmöglich. Ein Leseerlebnis liegt hinter mir, das seinesgleichen sucht und jeder Versuch, das wiederzugeben, was dieses Buch bei mir ausgelöst aus, muss unvollständig bleiben.
Melodie der Asche ist kein einfaches Buch. Es fordert mental und emotional und es entfaltet eine Sogwirkung, die mich lange nach dem Lesen der letzten Zeilen gefangen hielt.
Wer sich darauf einlässt, wird mit einer außergewöhnlichen Geschichte belohnt, einer Geschichte, die die Kraft hat, zu verändern, einer Geschichte über die Bedeutung von Freiheit, die uns fragen lässt, wie wir gehandelt hätten.
Melodie der Asche ist Fantasy – durch und durch und im besten Sinne des Begriffs – es entführt in fremde, faszinierende Welten, lädt zum Rätseln, Spekulieren und Träumen ein, es lässt uns fühlen – tief und schmerzhaft und es hält der realen Welt einen Spiegel vor, ohne den Zeigefinger zu erheben.
Und es transportiert eine Botschaft der Hoffnung. Darüber, dass es unsere Taten sind, die die Welt um uns formen und zum Besseren verändern können – und nicht unser Schicksal. Und dass es die Liebe sein kann, die am Ende den Unterschied ausmacht – zwischen Sommer und Winter, zwischen zwei Seiten einer Medaille.

„In Vaelens Augen hätte er gelesen, dass er sich irrte, dass Straßen aus Trümmern entstanden und Brücken über Schluchten. Aber sie haben dich mir genommen, hätte er geflüstert und erkannt, wie viel er gewesen war mit ihm. Und wie wenig ohne ihn. Denn es gab keinen Caliyan ohne Vaelen.“

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