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Veröffentlicht am 08.01.2017

Die Himmelsstürmerinnen gerieten leider ins Trudeln

Unsere Hälfte des Himmels
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Frankfurt 1935: Die Studentin Hanni und ihre beste Freundin Amelie haben einen großen Traum - sie sind Sportfliegerinnen, wollen aber ihr Hobby zum Beruf machen. In Berlin gibt es einen Flugzeugbauer, ...

Frankfurt 1935: Die Studentin Hanni und ihre beste Freundin Amelie haben einen großen Traum - sie sind Sportfliegerinnen, wollen aber ihr Hobby zum Beruf machen. In Berlin gibt es einen Flugzeugbauer, der auch Frauen zu Testpilotinnen ausbildet, sie bewerben sich und träumen von einer Karriere in Berlin. Doch dann verliebt sich Amelie in Hannis Fluglehrer Felix und alle hochfliegenden Träume werden plötzlich in Frage gestellt.
Kassel 1971: Lieselotte führt ein ruhiges Leben: Ihre Ehe mit Eduard plätschert im gemeinsamen Alltagstrott vor sich hin, sie führt den Haushalt und umsorgt ihren Ehemann. Doch dann bekommt sie schlimme Nachrichten aus Frankfurt, ihre Mutter Amelie hatte einen Autounfall und liegt im Koma. Obwohl das Verhältnis zwischen Mutter und Tochter sehr kühl ist, steht es für Lieselotte außer Frage, dass sie sofort ihre Sachen packt und nach Hause fährt, um ihrer Mutter beizustehen. Sie will diese Gelegenheit auch nutzen, um ihr Leben und ihre Ehe zu hinterfragen.

Eigentlich fand ich den Einstieg in dieses Buch sehr vielversprechend, die Geschichte hatte durchaus Potenzial. Leider ist die Umsetzung in meinen Augen wenig geglückt, ich musste mich streckenweise zum Weiterlesen förmlich aufraffen.

Das lag zum einen daran, dass die beiden Zeitebenen in meinen Augen nicht besonders gut verknüpft sind. Die Abschnitte zu den Jahren 1935 und 1971 umfassen jeweils mehrere Kapitel und ergeben so sehr lange Passagen, die nur in dem einen oder dem anderen Zeitstrang spielen. Dadurch wird man aber viel zu lange aus dem Geschehen um die jeweils andere Protagonistin herausgerissen, so dass das Interesse daran fast verloren geht und ich an diesen Stellen auch immer versucht war, das Buch für längere Zeit zur Seite zu legen.
Zum anderen hatte ich den Eindruck, dass die Autorin hier einfach zu viel wollte: Frauen in der Fliegerei, (Widerstand in der) Nazizeit, Frauenbild im Dritten Reich, Frauenbewegung in den 70ern. Alle Themen werden irgendwie angerissen, aber keines wirklich ausgeführt, weil die Romanze zwischen Felix und Amelie in den Vordergrund tritt. Unter dem Strich gibt es also leider bei keinem Thema irgendwelchen Erkenntnisgewinn auf der Seite des Lesers. Mich hatte das Thema der Fliegerinnen gereizt, das aber leider insgesamt nur auf enttäuschend wenigen Seiten im Fokus steht.

Auch die Figurenzeichnung konnte mich nicht überzeugen, die Protagonistinnen Amelie und Lieselotte verhalten sich in der Regel wenig nachvollziehbar. Amelie habe ich an keiner Stelle zugetraut, dass sie genug Biss gehabt hätte, um ihre Träume von der Fliegerei wirklich in die Tat umzusetzen. Sie läuft im Grunde immer nur ihrer Freundin Hanni hinterher und geht jeder Konfrontation oder Entscheidung aus dem Weg. Manchmal fragte ich mich sogar, ob das Fliegen überhaupt ihr Traum war, oder vielleicht doch nur Hannis. Und Lieselotte ist so phlegmatisch, dass ich ihr am liebsten in den Hintern getreten hätte, sogar die Nachforschungen zu ihrer Familiengeschichte werden an eine Geschichtsstudentin outgesourct, Lieselottes "Leistung" besteht dann darin, dass sie sich nach Wochen endlich aufrafft, sogar mal einen Blick in die zusammengetragenen Unterlagen zu werfen. Insofern ist auch ihre spätere Entwicklung hin zu neuen Ufern und einem unabhängigen Leben nicht glaubhaft.
Die Nebenfiguren sind recht stereotyp: Eduard, der gleichgültige Ehemann, der eigentlich nur geheiratet hat, um eine Haushälterin zu haben. Marga, die aufmüpfige Studentin, die Amelies harte Schale geknackt hat. Die gelangweilte alte Nachbarin, die mit Argusaugen über die Kehrwoche und die Lebensgewohnheiten der anderen Hausbewohner wacht - und so weiter. Am gelungensten war vielleicht Margas Kater Cat Ballou mit seiner Vorliebe für Gehacktes.

Wer Lust auf eine tragische Liebesgeschichte hat, hat an diesem Buch möglicherweise seine Freude. Ich hatte leider etwas anderes erwartet, eher ein Zeitporträt mit einem zielgerichteten Fokus auf die Frauen in der Fliegerei. Daher fällt bei mir "Unsere Hälfte des Himmels" eher in die Kategorie: kann man schon mal lesen, aber man verpasst wohl nichts, wenn man dieses Buch auslässt.

Veröffentlicht am 03.01.2017

"Ich habe Angst, dass die Leute aufhören, nach mir zu suchen."

DEAR AMY - Er wird mich töten, wenn Du mich nicht findest
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Nach einem Streit mit ihren Eltern packt die 15-jährige Katie Browne eine Tasche und verlässt wutentbrannt ihr Zuhause. Danach verschwindet sie spurlos. Die Polizei sucht eine Weile erfolglos nach dem ...

Nach einem Streit mit ihren Eltern packt die 15-jährige Katie Browne eine Tasche und verlässt wutentbrannt ihr Zuhause. Danach verschwindet sie spurlos. Die Polizei sucht eine Weile erfolglos nach dem Mädchen, hält sie aber für eine weitere jugendliche Ausreißerin und geht nicht von einem Verbrechen aus.
Katies Lehrerin Margot Lewis arbeitet nebenbei für das Lokalblättchen, sie hat dort unter dem Titel "Dear Amy" eine Ratgeber-Kolumne. Einige Wochen nach Katies Verschwinden erhält sie einen verstörenden Brief von einem Mädchen namens Bethan Avery, das behauptet, von einem Mann entführt worden zu sein, der sie nun schon seit einer Ewigkeit gefangen hält. Wie sich herausstellt, verschwand Bethan bereits in den Neunzigern, sie gilt offiziell als tot. Erlaubt sich hier jemand einen bösen Scherz mit Margot? Oder ist das Mädchen tatsächlich noch immer am Leben und in der Gewalt ihres Entführers?

"Dear Amy" wurde in Deutschland vom Knaur-Verlag veröffentlicht, der Debütroman der Autorin Helen Callaghan gehört zum Genre Psychothriller und ist mit einem "Premium-Crime"-Sticker belabelt. Dabei handelt es sich sozusagen um eine Art Gütesiegel des Verlages, mit dem besonders lesenswerte Thriller ausgezeichnet werden - im aktuellen Verlagsprogramm gibt es drei dieser Premium-Crime-Titel.
Die wunderbare Aufmachung des Buches möchte ich kurz erwähnen: Das Cover in den düsteren Schwarz- und Grautönen mit dem grell-grünen Akzent ist für mich ein absoluter Hingucker. Es handelt sich um ein großformatiges Softcover, und auf der Innenseite des Umschlags ist in krakeliger Handschrift der erste Brief von Bethan abgedruckt - ich hatte schon vor der ersten Seite absolutes Gänsehautfeeling.

Der Leser schaut der Ich-Erzählerin Margot Lewis über die Schulter, schlittert mit ihr in diesen Abgrund im Kampf gegen die Zeit, die für Katie allmählich abläuft. Zwischendurch gibt es kurze Kapitel aus der Sicht des Entführungsopfers Katie, die Einblick in ihr Martyrium geben. Und wie es sich für einen richtigen Psychothriller gehört, sind die Dinge oft nicht so, wie sie auf den ersten Blick erscheinen, wodurch für den Leser automatisch die richtigen Fragen aufgeworfen werden.

Mich hat dieser Thriller schon von der ersten Seite an gepackt, der Erzählton wird zunehmend düsterer und die Protagonistinnen Margot und Katie sind glaubwürdig gezeichnet. Ich konnte mich in beide hineinversetzen und mit ihnen mitfiebern. Besonders Katies Erlebnisse, obwohl oft nur angedeutet, sorgten für einen dicken Kloß im Hals. Das Szenario ist schließlich nicht so weit von realen Fällen wie Kampusch oder Fritzl entfernt, obwohl die Geschichte dennoch eine andere Richtung einschlägt.

Meiner Meinung nach hat Helen Callaghan einen tollen Thriller mit nachvollziehbarem psychologischen Hintergrund geschrieben, die Spannungskurve bewegt sich durchgehend aufwärts und lebt von der Frage, was mit Bethan Avery geschah.
Sie ist der Schlüssel zur aktuellen Entführung, der Schlüssel zu Katie, die nur gerettet werden kann, wenn das Geheimnis um Bethan rechtzeitig gelüftet wird.

Für die volle 5-Sterne-Wertung reicht es nicht ganz, weil ich schon recht früh die richtige Ahnung zur Auflösung hatte. Aber ich gebe vier Sterne, weil das die Spannung nicht im Geringsten gemindert hat - ich habe die zweite Hälfte des Buchs in einem Lesemarathon bis vier Uhr früh verschlungen, weil ich einfach nicht mehr aufhören konnte.

Veröffentlicht am 25.12.2016

Neuer Filz im Isar-Athen

Wintergewitter
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München, 1920: Kommissär Reitmeyer ermittelt wieder! In einer Gastwirtschaft wird am Fuß der Kellertreppe die Leiche einer jungen Frau gefunden - auf den ersten Blick wirkt ihr Tod wie ein Unfall: eine ...

München, 1920: Kommissär Reitmeyer ermittelt wieder! In einer Gastwirtschaft wird am Fuß der Kellertreppe die Leiche einer jungen Frau gefunden - auf den ersten Blick wirkt ihr Tod wie ein Unfall: eine angetrunkene Frau erwischt auf der Suche nach der Toilette die falsche Tür und stürzt unglücklich. Doch auch dieses Mal wirft der zweite Blick des Gerichtsmediziners Fragen auf, denn Cilly Ortlieb starb an einer Überdosis Heroin. War das Filmsternchen in Spe drogensüchtig? Oder war sie jemandem im Weg?

Ich habe bereits Reitmeyers ersten Fall Der eiserne Sommer förmlich inhaliert. Und auch die Fortsetzung hat mich sofort in ihren Bann gezogen, es war sehr schön, so vielen der vertrauten Figuren wieder zu begegnen, auch wenn der große Krieg nicht ganz spurlos an ihnen vorübergegangen ist. Besonders der Protagonist Sebastian Reitmeyer hatte mein Herz bereits im Sturm erobert - seiner trockenen, pragmatischen Art mit den Widrigkeiten seines Berufsalltages umzugehen, kann man einfach nicht widerstehen. Auch ihn hat der Fronteinsatz verändert, er ist ein Kriegszitterer - das was ihm zu schaffen macht, würde man heute eine posttraumatische Belastungsstörung nennen. Da er nicht als Krüppel dastehen möchte, versucht er, seine Erkrankung (die damals nicht als solche wahrgenommen wurde, schließlich hat er überlebt und ist im Gegensatz zu vielen anderen sogar in einem Stück nach Hause gekommen) vor seiner Umwelt zu verbergen.
Rattler ist nach all den Jahren immer noch Polizeischüler, da sein Fronteinsatz und die anschließende Rekonvaleszenz seine Ausbildung unterbrochen haben. Er hat aufgrund von Gasverletzungen Probleme mit der Lunge, aber ansonsten ist er noch ganz der Alte und strapaziert die Nerven seiner Kollegen gerne mit Vorträgen über neue Erkenntnisse und Verfahren der Kriminaltechnik, die er nachwievor aus unzähligen Fachartikeln kennt. Steiger hat einen Arm verloren, und Brunner musste nicht an die Front, weil er ja zuvor schon beschädigt war. Alles in allem ist es schon eine ziemlich angeschlagene Truppe rund um den Kommissär, aber sie stürzen sich mit gewohntem Schwung in ihren neuen Fall, obwohl sie schon wieder in Richtungen ermitteln, die ihren Vorgesetzten wenig zusagen.

Durfte man im letzten Buch in die späte Vorkriegszeit eintauchen, als die Welt noch in Ordnung war und schneidige Offiziere sich in Glanz und Gloria sonnten, entführt Angelika Felenda ihre Leser nun in die unruhigen Nachkriegszeiten. Die Bevölkerung leidet noch immer unter den Rationierungen, für die Bezugsscheine gibt es nur eine Reihe von Ersatzlebensmitteln und auch Brennmaterial ist mehr als knapp. Die Inflation hat bereits eingesetzt, und Reitmeyers Gehalt kann mit den steigenden Preisen nicht mithalten. Freikorpstruppen treiben unter den Augen der Politiker und Behörden ihr Unwesen, Fememorde und Waffenschiebereien sind an der Tagesordnung. Der ideale Nährboden für Hitlers Hassparolen, die er zu dieser Zeit in München verbreitet und der so seine ersten glühenden Anhänger verzeichnen kann.
Angelika Felenda zeichnet den historischen Hintergrund für Reitmeyers Ermittlungen so gekonnt, dass man sehr leicht in diese politisch und wirtschaftlich chaotische Zeit abtauchen kann, ohne die Krimihandlung aus den Augen zu verlieren.

Besonders gern mochte ich wieder die lebendigen Dialoge, die mir die Figuren besonders nahebrachten. Die allgemeine Lage im Jahr 1920 war wirklich nicht rosig, und ohne eine gehörige Portion Galgenhumor wohl kaum zu ertragen - was sich auch in den Unterhaltungen widerspiegelt und mir beim Lesen regelmäßig ein Grinsen entlockt hat.

Definitiv eine gelungene Fortsetzung voller interessanter Historie mit einem verwickelten Kriminalfall. Hoffentlich bekomme ich bald Reitmeyers dritten Fall zu lesen!

Veröffentlicht am 17.12.2016

"Deine Taten sind das Echo meiner Befehle."

Echo Boy
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Yorkshire, 2115: Die 15-jährige Audrey Castle führt ein normales Teenagerleben - sie wohnt bei ihren Eltern, besucht täglich den virtuellen Unterricht und die Stunden bei der Echo-Haushaltshilfe Alissa, ...

Yorkshire, 2115: Die 15-jährige Audrey Castle führt ein normales Teenagerleben - sie wohnt bei ihren Eltern, besucht täglich den virtuellen Unterricht und die Stunden bei der Echo-Haushaltshilfe Alissa, und bald will sie in Oxford Philosophie studieren. Eigentlich. Denn eines Tages passiert das Unfassbare, Alissa hat eine schwerwiegende Fehlfunktion und tötet Audreys Eltern. Audrey selbst kann nur mit knapper Not entkommen und rettet sich ausgerechnet zu ihrem Onkel Alex. Der Onkel Alex, der ein riesiges Firmenimperium besitzt, das Echos in Massenproduktion fertigt. Und mit dem sich Audreys Vater Leo, bekennender Technologie-Skeptiker und Aktivist, bereits vor Jahren überworfen hat.
In Alex Castles Haus wimmelt es nur so vor Echo-Prototypen, die vom Technologie-Tycoon persönlich auf Herz und Nieren (bzw. auf Funktionalität und Gehorsam) überprüft werden, bevor sie die Serienreife erhalten. Und hier trifft Audrey auf Daniel - ebenfalls ein Echo, und schon wieder einer, der sich höchst seltsam verhält...

Der Grundgedanke dieser Geschichte, "der Geist in der Maschine", ist natürlich jedem, der schon mal einen Terminator-Film, die Asimov-Verfilmungen Der 200 Jahre Mann und I, Robot, oder - etwas aktueller - die Fernsehserie Humans gesehen hat, nicht neu.
Die Maschinen, die man bisher als Robots, Synths oder Androiden kennt, werden in Matt Haigs Zukunftsvision als "Echos" bezeichnet, das Akronym für "Elektronischer Computerisierter Humanoider Organismus". Sie werden je nach der ihnen zugedachten Aufgabe entworfen: Haushaltshilfen sind ordentlich und organisiert, Buchhalter können gut mit Zahlen umgehen und Bodyguards, Polizisten und Soldaten sind sehr stark und haben gute Reflexe. Daniel allerdings ist kein Echo, der passgenau auf eine Aufgabe zugeschnitten ist, und zudem hat er noch einige Eigenschaften, die ein Echo eigentlich überhaupt nicht mitbringen sollte: er fühlt körperlichen und emotionalen Schmerz, Traurigkeit, Zuneigung, Hoffnung, quält sich mit Schuldgefühlen - die komplette Bandbreite menschlicher Empfindungen ist ihm vertraut. Kein Wunder also, dass er Alex Castle höchst suspekt ist, und auch Audrey begegnet ihm aufgrund ihrer Vorgeschichte natürlich wie auch allen anderen Echos mit höchstem Misstrauen.

Es dreht sich also alles um die Frage: Wann hört eine Maschine auf, eine Maschine zu sein? Wie viel Bewusstsein, Kreativität und Neugier braucht es, damit sie zu einem Menschen mit Rechten wird, auch wenn sie von einem Computerchip und künstlichen Organen betrieben wird?
Ein sehr komplexes philosophisches Thema, über das man wirklich lange nachdenken kann, auch wenn eine so ausgereifte künstliche Intelligenz, wie Daniel sie besitzt, noch sehr ferne Zukunftsmusik sein dürfte.

Aber abseits von spannenden philosophisch-moralischen Fragen hat Matt Haig hier auch einfach einen packenden SF-Roman abgeliefert, der sich zwar eigentlich an ein jugendliches Publikum richtet, mir aber auch sehr gut gefallen hat, obwohl ich dem Zielgruppenalter schon eine Weile entwachsen bin. Einen Großteil des Lesegenusses machte für mich der ausgesprochene detaillierte Weltentwurf aus. Obwohl manches furchteinflößend und besorgniserregend war, war es mir ein Vergnügen, in diese fantastische Zukunft mit all ihren ausgefeilten technischen Spielereien abzutauchen. Man erfährt natürlich auch, welche gesellschaftlichen, technischen und umweltbedingten Entwicklungen aus unserer heutigen Welt in nur 100 Jahren Audreys zukünftige Welt erschaffen haben. Obwohl es oft nur Randnotizen oder Nebensätze sind, bleibt das doch hängen und ich dachte mir einige Male: "Ehrlich? Könnte das passieren?"
Auch die Figuren waren glaubwürdig gezeichnet, besonders sind hier die Protagonisten Audrey und Daniel zu erwähnen. Sie haben jeweils eigene Abschnitte, sie führen ein "Gedankenbuch" und können so beide aus der Ich-Perspektive die Ereignisse schildern und auch ihre Gedanken und Gefühlsregungen unmittelbar mit dem Leser teilen, was mir sehr gefallen hat.
Und zu guter Letzt hat der Autor meinen Geschmack getroffen (Achtung, sehr subjektiv!), weil er es geschafft hat, ein Buch zu schreiben, in dem es größtenteils um Emotionen geht, die obendrein auch noch mit einer Teenie-Romanze gekrönt werden, ohne dass er auch nur ein einziges Mal ins Kitschige abgeglitten oder zu gefühlsduselig geworden wäre.

Auch wenn das Grundthema von Echo Boy eine Adaption älterer Werke ist, ist es Matt Haig dennoch gelungen, eine neue, eigene Geschichte daraus zu machen. Keine dystopische Welt, in der die Maschinen die Menschheit versklavt haben wie in Terminator, keine Haushaltshilfe mit einem nicht reproduzierbaren Produktionsfehler wie im 200 Jahre Mann und auch keine langweilige Welt, die genauso ist wie unsere, abgesehen von den Synth, wie in Humans, sondern eine fesselnde Story, die in einer vorstellbaren Zukunft spielt.

Es reicht nicht ganz für die Höchstwertung, weil ich doch bei dem ein oder anderen Detail das Gefühl hatte, dass es nicht ganz stimmig ist. Und obwohl die Geschichte an sich abgeschlossen und jede offene Frage beantwortet ist, gibt es doch einen Punkt, der mir fast etwas weh getan hat (und auf den ich leider nicht näher eingehen kann ohne zu spoilern). Ich hatte zwar zum Schluss alle Antworten, aber trotzdem das Gefühl, dass die Geschichte von Audrey und Daniel noch nicht auserzählt ist.
Aber dennoch eine klare Leseempfehlung - man muss sicher kein Hardcore-Science-Fiction-Fan sein, um an diesem Buch Gefallen zu finden.

Veröffentlicht am 09.12.2016

"Aber der Tod ist der Preis, den wir für die Schönheit bezahlen."

Stiefkind
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Für Rachel Daly ist ein Traum wahr geworden: geboren und aufgewachsen in einem heruntergekommenen Londoner Viertel hat sie vor kurzem den attraktiven, wohlhabenden David Kerthen geehelicht. Er führt sie ...

Für Rachel Daly ist ein Traum wahr geworden: geboren und aufgewachsen in einem heruntergekommenen Londoner Viertel hat sie vor kurzem den attraktiven, wohlhabenden David Kerthen geehelicht. Er führt sie ein in ein neues Leben ohne finanzielle Sorgen, in eine völlig andere Welt - das Paar zieht nach Cornwall und lebt in Carnhallow, dem Familiensitz der Kerthens. Zukünftig soll es ihre Aufgabe sein, die Instandsetzung des alten Anwesens zu organisieren und überwachen, und Jamie, ihren 8-jährigen Stiefsohn zu versorgen.
Jamies Mutter Nina ist etwa zwei Jahre zuvor in einem alten Bergwerksstollen tödlich verunglückt, der Junge ist durch den Verlust traumatisiert und der Schatten dieses Unglücks lastet immer noch schwer auf Rachels neuer Familie...

"Stiefkind" ist ein Psychothriller, der dieses Label auch wirklich verdient. Am Anfang startet man recht behäbig in die Handlung und lernt zunächst die wichtigsten Personen - hier die neue Ehefrau und Stiefmutter Rachel, Vater David und seinen Sohn Jamie - kennen.
S.K. Tremayne verwendet unterschiedliche Erzählperspektiven: Die meisten Kapitel sind aus Rachels Sicht geschrieben und sie fungiert auch als Ich-Erzählerin in diesen Abschnitten. Es gibt aber auch mehrere Einschübe, in denen die Perspektive zu David wechselt, allerdings sind diese Abschnitte dann in der dritten Person verfasst. Dadurch fühlte ich mich Rachel immer sehr viel näher als David - allerdings kamen mit dem Fortschreiten der Handlung bei mir auch immer mehr Zweifel auf, ob Rachel denn überhaupt eine zuverlässige Erzählerin ist und inwieweit ich als Leser ihren Ausführungen trauen kann. Alleine dadurch wurde schon eine gewisse Spannung erzeugt, weil ich die geschilderten Ereignisse permanent hinterfragt habe.

Zufällig habe ich in diesem Jahr auch zum ersten Mal Daphne du Mauriers "Rebecca" gelesen, und da dieses Buch bei mir noch so präsent ist, sind mir einige Parallelen aufgefallen:
Namenlose Ich-Erzählerin / Rachel Daly: Beide Figuren stammen aus eher ärmlichen Verhältnissen und steigen durch die Heirat mit einem wesentlich älteren Mann um etliche Gesellschaftsschichten auf. Beide haben Probleme mit ihrem Selbstwertgefühl, vergleichen sich ständig mit der ersten Frau, fühlen sich in ihrer neuen Rolle unwohl und denken unterbewusst, dass sie dieses sorglose Leben nicht verdienen.
Maxim de Winter / David Kerthen: Beide stammen aus alten Familien, sind sehr stolz auf ihre Herkunft und wollen ihre Linie keinesfalls aussterben lassen. Für beide ist der Familiensitz (Manderley, bzw. Carnhallow) der wichtigste Anker im Leben, der um jeden Preis erhalten werden muss.
Rebecca de Winter / Nina Kerthen: Beide sind tödlich verunglückt, beide sind ertrunken - Rebecca im Meer und Nina in einem aufgegebenen Bergwerksstollen. Beide sind in das privilegierte Leben hineingeboren worden, werden als mondän und weltgewandt geschildert.
Die Parallelen zwischen den beiden Büchern sind so zahlreich und auffallend, dass es sich wohl kaum um einen Zufall handeln kann. Allerdings bringt die Figur Jamie, das "Stiefkind", hier eine ganz neue Komponente ein, und so entwickelt sich die Handlung auch in eine völlige andere Richtung.

Ich hatte mit "Stiefkind" spannende Lesestunden, weil ich den psychologischen Aspekt in solchen Thrillern sehr interessant finde. Für die volle Punktzahl reicht es leider nicht, einerseits weil ich mir in einem wichtigen Punkt eine etwas ausführlichere Auflösung gewünscht hätte, und andererseits weil etwas mehr Tempo der Handlung doch ganz gut getan hätte. Aber nichtsdestotrotz absolut lesenswert.