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Veröffentlicht am 28.10.2018

Die Rallye ihres Lebens

Ungebremst leben
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Nach Jahrzehnten im Automobilgeschäft, das sie von ihrem Vater in Berlin übernahm, beschließt die gelernte Automechanikerin und Rallyefahrerin (seit 1953!!) Heidi Hetzer nach dem Verkauf des Autohauses, ...

Nach Jahrzehnten im Automobilgeschäft, das sie von ihrem Vater in Berlin übernahm, beschließt die gelernte Automechanikerin und Rallyefahrerin (seit 1953!!) Heidi Hetzer nach dem Verkauf des Autohauses, auf Weltreise zu gehen: Zunächst muss das richtige Fahrzeug her - bloß kein modernes, ein Oldtimer sollte es schon sein, da die rüstige Dame inzwischen 77 Lenze zählt: Nach einigem Suchen findet sie HUDO, einen Hudson des Bj. 1930 (gefertigt in Detroit, USA) und mit ihm den für sie idealen Reisegefährten...


Eine Vorbereitungszeit beginnt, Hudo wird generalüberholt und erhält seinen "Pass" - das Carnet de Passage, ohne das nichts geht: Visa und Einreiseformalitäten der geplanten Reise verschlingen weitere Zeit, bis es endlich losgeht: Heidi möchte alle Kontinente befahren und war sich durchaus sehr bewusst, dass unterwegs jede Menge passieren kann. Doch ein Credo dieser wagemutigen und abenteuerfreudigen Frau und ehemaligen Rallyefahrerin war stets:

"Lieber mit Vorfreude aufbrechen, als ängstlich zu Hause bleiben" (Zitat S. 87)

So bricht sie mit Hudo im Juli 2014 auf, um auf Weltreise zu gehen: Eine Art GPS berichtet den Fans auf ihrem Blog täglich, wo sie gerade weilt und ein Laptop ist auch mit an Bord, der sich als sehr positiv erweist, da er virtuelle Beifahrer, Ratschläge und Tipps von hilfsbereiten Menschen auf der ganzen Welt bereithalten sollte! Ihre "Fahrten und Abenteuer der Heidi Hetzer" sind mehr als ein Reisebericht, sie enthalten auch Rückblicke in ihre Vergangenheit, ihre Anfänge als Rallyefahrerin und Aufenthalte in den USA, sowie familiäre Ereignisse wie etwa ihre Diagnose und kurze Unterbrechung sowie Wiederaufnahme der Reise oder die Geburt eines Enkelkindes, die sie fernab zum Weinen bringt:

Auf ihrer Route rund um die Welt (mit Schiffspassagen verbunden und der Wiedersehensfreude jeweils mit dem wohlbehaltenen Hudo) durchfahren die beiden Tschechien, Österreich, die Slowakei, Serbien, Montenegro, die Türkei, den Iran, Turkmenistan und Usbekistan, bevor es weiter nach China und Asien geht sowie nach Australien und Neuseeland: Es folgen die USA und Kanada sowie Südamerika und Südafrika, bevor es nach 960 Tagen und 85.000 km wieder nach Europa und dem Ausgangsort der Reise Berlin zurückgeht.

Die lebenslange Liebe zum Autofahren ist spürbar, aber auch die unglaubliche Kompetenz beim "Schrauben", wenn Hudo größere oder kleinere "Wehwehchen" hat: Liebevoll legt Heidi immer wieder Hand an - und überlässt den Oldtimer auch mal dem "Doktor": Insgesamt 3 Motortransplantationen muss Hudo über sich ergehen lassen, bevor er wieder auf europäischen Straßen läuft... Es gibt schöne Momente, in denen man sich mit Heidi freut, dass Hudo kostenlos repariert wird - oder sich das Laptop wieder einfindet, das sie auf einer Bank hat liegen lassen: Man genießt die Landschaften, die sie sehr gut beschreibt und kann verstehen, wie begeistert sie z.B. von China oder Neuseeland ist: Bei einer solchen Liebe zum Auto (und der Lust, sich damit fortzubewegen) versteht man die Reise als logische Konsequenz der Biografie dieser emanzipatorischen Frau und Rallyefahrerin, die mit den Werkzeugen eines Automechanikers schon früh in männliches Territorium "einbrach" - und das mit sehr großem Erfolg!

Die Rückblenden in frühere Lebensjahre (z.B. die 60er in den USA) geben darüber Aufschluss, dass das Fahren für Heidi Hetzer immer schon Teil ihres Lebens war, das auch in höherem Alter nicht wegzudenken ist ("solange ich Auto fahren kann, bin ich nicht alt" ;)

Doch etwas ändert sich in ihrem Bewusstsein, im Tempo: Sie lässt sich nicht mehr (durch's Leben) hetzen und - hetzt sich selbst nicht mehr. Sie plädiert dafür, im Hier und Jetzt zu leben und ist dankbar für die Weltreise, auf der sie in hohem Alter wichtige Lebenserfahrungen und -erkenntnisse erlangen durfte. Auch besitzt sie einen Sinn für Humor, den ich köstlich fand:

"Fahr nicht schneller, als deine Schutzengel fliegen können"

In 960 Tagen durch 46 Länder bereist Heidi mit dem unverwüstlichen Hudo die Welt, bevor sie - glücklich und sich freuend auf ihre Familie und ihre Heimatstadt Berlin, zu der sie eine sehr enge Beziehung hat, zurückkehrt.

Fazit:

Nach der Lektüre dieses tollen Buches, das viel mehr als ein Reisetagebuch ist, kann man sich vor Heidi Hetzer und deren Wagemut, Abenteuerfreude und Kompetenzen als "Schrauberin" bei ihrem Weggefährten Hudo, der sie niemals im Stich ließ trotz seiner 87 Jahre, die er bereits auf dem Buckel hatte, nur verneigen und - wie die Berliner bei ihrer Rückkehr, den Hut ziehen! Ein weiteres Chapeau auch für die tollen Fotos und die Weltkarte, die das Buch vervollständigen. Einen Dank auch an Marla, ihrer Tochter, für's Überreden, über diese fantastische Weltreise ein Buch zu schreiben und an Marc Bielefeld, der dies alles zu Papier brachte . Diese Reise ihres Lebens verdient m.E. 5* und eine absolute Leseempfehlung!

erschien im Ludwig-Verlag
Verlagsgruppe randomhouse
München, 2018
ISBN 978-3-453-28113-4

Veröffentlicht am 08.10.2018

Unterhaltsamer Cosy-crime aus Cornwall

Post für den Mörder
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"Post für den Mörder" von Thomas Chatwin erschien (broschiert, tb) bei rowohlt polaris (2018).


Es handelt sich um einen netten und unterhaltsamen Cosy-Krimi, der in 23 Kapitel unterteilt ist: Jedes Kapitel ...

"Post für den Mörder" von Thomas Chatwin erschien (broschiert, tb) bei rowohlt polaris (2018).


Es handelt sich um einen netten und unterhaltsamen Cosy-Krimi, der in 23 Kapitel unterteilt ist: Jedes Kapitel beginnt mit einem Zitat von SchriftstellerInnen (allen voran Daphne du Maurier, William Golding, Rose Macaulay, Dorothy L. Sayers z.B.), um nur einige zu nennen.

Daphne und Francis Penrose, ein bereits lange verheiratetes Ehepaar mit detektivischen Neigungen, sind die beiden sympathischen Ermittler (neben dem weniger brillierenden Chief Inspector James Vincent, den Daphne von früher kennt). Daphne ist Postbotin der Royal Mail; Francis, ihr Ehemann, seines Zeichens Meeresbiologe, arbeitet als Flussmeister im Hafenamt in Fowey, einem kleinen Küstenstädtchen in Cornwall. Die Schönheit dieses Landstrichs ist durch das Lokalkolorit im Krimi von Beginn an spürbar und spielt eine tragende Rolle: Fowey, das beschauliche Küstenstädtchen, scheint jedoch so seine Geheimnisse zu haben und wirkt nicht nur beschaulich:

Francis zieht eine männliche Leiche aus dem Hafenbecken: Zu seinem Entsetzen handelt es sich um seinen Freund und Nachbarn, dem erfolgreichen Reeder Edward Hammett. Kurz darauf ereignen sich zwei weitere Morde und für Daphne und Francis steht fest: Der neue Detective, gerade erst hierher versetzt, kann den Fall nicht alleine lösen, also ist hier detektivisches Gespür gefragt, zumal niemand Fowey und seine Einwohner besser kennt als Daphne und Francis!
Werden die beiden unerschrockenen Hobbydetektive es schaffen, den oder die Mörder zu stellen?

Ein Krimi zum Innehalten, zuweilen auch zum Schmunzeln, da Daphne und Francis Penrose sich wundervoll ergänzen und unerschrockene Wege gehen: Daphne verarbeitet auch Schmerzvolles in ihrem Tagebuch, kann von den Lippen lesen (was in diesem Fall überaus hilfreich ist) und kennzeichnet sich durch viel Mut und Furchtlosigkeit aus; aber auch Francis steht ihr in nichts nach - und entdeckt überaus wichtige Indizien, die den Mörder überführen helfen könnten.

An vielen (passenden) Stellen gibt der Autor, der ein Freund Rosamunde Pilcher's ist und Cornwall wie seine Westentasche kennt, immer wieder touristische Tipps und Hinweise für Cornwall-Fans und solche, die es noch werden wollen: Auch im Epilog sind zahlreiche Tipps von Thomas Chatwin zu finden, der seine Lieblingsorte und Informationen zu Fowey mit weiteren persönlichen Reisetipps (Unterkunft/Essen/Sehenswürdigkeiten/ Aktivitäten etc.) seinen LeserInnen preisgibt: Diese "Zugaben" ganz persönlicher Art finden sicher nicht nur bei mir großen Anklang und werten diesen unterhaltsamen und auch recht spannenden Krimi auf.

Fazit:

Unterhaltsam, spannend, stimmig und mit unvorhersehbarem Plot, spielt dieser Cosy-Crime in einer der schönsten englischen Landschaften - in Cornwall. Ein sympathisches Ermittlerduo erschließt dem Leser die sehenswertesten Orte - und ergänzt sich bis zur Aufklärung. Davon kann James Vincent sich mehr als eine Scheibe abschneiden ;) Persönliche Cornwall Tipps des Autors und tolle Informationen zum Küstenstädtchen Fowey von Thomas Chatwin konnten mich im Anhang ebenfalls begeistern!
3,5 * und 84° auf der "Krimi-Couch".

Veröffentlicht am 08.10.2018

Die Vertreibung der "Gespenster der Vergangenheit"

Ein Winter in Paris
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Ein Brief Patrick Lestaing's katapultiert den Englischlehrer Victor, (49), zurück in die 80er Jahre - in seine Vergangenheit als Student am renommierten Lycée D. in Paris:


Als Sohn eher bildungsferner ...

Ein Brief Patrick Lestaing's katapultiert den Englischlehrer Victor, (49), zurück in die 80er Jahre - in seine Vergangenheit als Student am renommierten Lycée D. in Paris:


Als Sohn eher bildungsferner Eltern kämpft der aus der Provinz kommende 19jährige Victor sich mit viel Fleiß durch das erste, sehr harte Jahr am Lycée - von den zumeist elitären Kommilitonen ignoriert. Ein Außenseiter, von dem man annimmt, dass er ohnehin das Handtuch schmeißen wird, auch die Lehrer urteilen die Arbeiten der Studenten demütigend ab - und bringen so manchen dazu, aufzugeben. Doch Victor gehört zu den wenigen Auserwählten, die weiterkommen: Durch das harte Studium nimmt er jedoch wahr, dass er sich immer mehr den Eltern entfremdet und ihre Besorgnis kaum noch erträgt, eine bisher nicht gekannte Einsamkeit macht sich in ihm breit, die durch den Lerndruck noch verstärkt wird. An seinem Geburtstag rebelliert er erstmals gegen das System: Er kommt zu spät und beschließt spontan, Mathieu, mit dem er ab und an eine Zigarette raucht und der - wie er ein Außenseiter aus der Klasse unter ihm ist, der versucht, im luftleeren Raum des Lycées irgendwie durchzuhalten - zum Essen einzuladen.

Doch dazu sollte es nicht mehr kommen, da Mathieu - nach einem Schrei der Wut - über das Geländer in den Tod springt, was Victor, der seine Stimme erkennt und als erster nach draußen eilt, erst später realisieren sollte....

Blondel gelingt es ungeheuer sensibel, die Gefühlswelt, in der sich Victor nach dem Suizid von Mathieu befindet und die völlig durcheinandergeraten scheint, zu beschreiben: Alles war in Frage gestellt und Victor beginnt durch das Trauma dieses Verlusts - denn er hätte sich ohne Frage mit Mathieu anfreunden wollen - die Welt anders, neu zu begreifen: Sein eigenes Leben in den folgenden Wochen, den wir ihn als Leser begleiten, als das zu betrachten, was es ist: Kostbar.

Victor entgeht nicht, dass sowohl Studenten als auch Lehrerschaft über das Ereignis des Selbstmordes das Renommée stellen und die eigenen Interessen, dass über den Vorfall hinweggegangen wird. Diese Stimmung bringt Blondel realistisch zum Ausdruck und man fragt sich, warum alle so schnell wie möglich wieder "zur Normalität" zurückfinden wollen, besonders, weil jedem klar ist, dass Mathieu dem rauen Klima, dem Lernstress und den täglichen Demütigungen seitens der Lehrer nicht mehr gewachsen war.

Mit den Eltern Mathieu's tauchen sowohl der Vater als auch die Mutter auf, deren Bewältigung des ungeheuren Verlusts sehr unterschiedlich sind: Der Vater sucht Kontakt zu Victor und beide helfen einander, in dem sie über Mathieu sprechen, Antworten suchen. Dieser Romanteil gefiel mir besonders gut, da er zutiefst menschlich ist - und sich Menschen in Ausnahmesituationen sehr viel geben können, um ihren Weg besser weitergehen zu können. Für Victor war es nicht von Nachteil, endlich "sichtbar" zu werden, den umschwärmten, aber dennoch einsamen Paul Rialto zum Freund zu haben und dadurch überall offene Türen der Akzeptanz zu finden, da er "der Freund des Opfers" für die Mitstudenten war.

Die tiefen Empfindungen und die außergewöhnliche Ehrlichkeit Victors, seine eigene Rolle in diesem Drama betreffend als auch in seiner Vorstellung, "wie alles hätte werden können" und Armelle sowie Mathieu betreffen, berühren zutiefst. Auch die Kochaktionen mit Patrick Lestaing, der für Victor zeitweise ein Vater wird, wie er nie zuvor einen hatte, erstaunen den Leser - und sind gleichzeitig tröstend.

Auf der Verlagsseite habe ich ein Interview des Autors gelesen, das ich an dieser Stelle nur empfehlen kann.

Einzig die Reaktion der Mutter Mathieu's, die die Treffen von Victor und ihrem Ex-Mann "krank" fand, konnte ich überhaupt nicht nachvollziehen. Sie waren wichtig, für jeden der beiden. Die Tatsache, dass auch ein Suizid nichts am Lycée D. änderte, erzürnt den Leser nicht zu unrecht; auch dies leider sehr realistisch.
Die Abschlussprüfung Victor's verläuft für die Prüfer anders, als gedacht: Er ist umso entschlossener, welchen Weg er gehen wird, worin seine größte Leidenschaft besteht - was eine Frage Patrick L. an ihn gewesen war:

"Er wollte Wörter wie ein Netz über den Abgrund spinnen" (Zitat S. 184) - und Schriftsteller werden.

30 Jahre später - Victor ist inzwischen Ende 40, schreibt Patrick Lestaing ihm einen Brief, um sich mit ihm zu treffen. Er möchte dadurch "das entschwindende Gespinst der Erinnerungen zurückbringen" - und Victor stellt sich dieser Herausforderung!

Fazit:

Ich kann mich nur der Aussage von "Le Figaro" anschließen, der dieses literarische Kleinod - ein 'trouvaille' - so beschreibt:
"Es gibt niemanden, der die Verwirrung der Gefühle auch nur annähernd so bescheiben kann wie Jean-Philippe Blondel".
Von mir erhält dieses kleine, aber sehr lesenswerte und sprachlich feinfühlige Meisterwerk eine absolute Empfehlung, 5* und 100° auf der "Belletristik-Couch".

Veröffentlicht am 19.09.2018

Die Abservierten

Slow Horses
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"Slow Horses" von Mick Herron, übersetzt von Stefanie Schäfer aus dem Englischen ins Deutsche, erschien (HC, gebunden) 2018 im Diogenes Verlag.


Dieser Agententhriller, der mir einiges abverlangte, mich ...

"Slow Horses" von Mick Herron, übersetzt von Stefanie Schäfer aus dem Englischen ins Deutsche, erschien (HC, gebunden) 2018 im Diogenes Verlag.


Dieser Agententhriller, der mir einiges abverlangte, mich aber auch begeisterte, ist der Auftakt einer Serie um Jackson Lamb, seines Zeichens Chef der Slow Horses im Slough House; einem morbiden Gebäude in London, das zum Geheimdienst, dem Secret Service, zählt: Der Roman gliedert sich in zwei Teile, wobei Teil 1 die Hintergründe der einzelnen Agenten beleuchtet, die allesamt vor einer strahlenden Karriere standen - und durch diverse Fehler (zuweilen nicht selbst verschuldet, aber auf einer imaginären Abschussliste) im Slough House, der Außenstelle, landeten. Von den "Dogs" im Regent's Park schon lange nicht mehr ernst genommen, führen sie ein tristes Agentendasein, verdammt zu langweiligen Rechercheaufgaben und weit weg von spektakulären Einsätzen des Geheimdienstes, für den sie entweder weiterbrennen - oder sich frustriert per Kündigung verabschieden...

Es beginnt hochexplosiv, als auf den ersten Seiten im Londoner U-Bahnnetz ein terroristischer Sprengstoffanschlag von River Cartwright, Enkel der Legende O.B. - seinerzeit ebenfalls beim Geheimdienst, verhindert werden soll: River (der seinen Namen aus der Hippiezeit seiner Mutter trägt) kommt eine halbe Sekunde zu spät - und findet sich bei den Slow Horses wieder, um fortan den Müll eines Journalisten nach verwertbarem Material zu prüfen und wie die anderen Slow Horses stupiden Beschäftigungen nachzugehen. So lernt man Catherine Standish kennen, die trockene Ex-Alkoholikerin, Min Harper, der ständig nachschaut, ob er auch nichts verloren hat (er ließ eine CD liegen, wo sie nicht hätte bleiben sollen), den genialen IT-Spezialisten Roderick Ho, der jedoch eine große Antipathie gegenüber Menschen hat, Louisa Gay und andere, die es alle auf die eine oder andere Weise "vermasselten" - und die Rolltreppe der Karriere seither abwärts ging. Von River erfährt man die meisten Hintergrundinfos - er hat Biss und lässt sich von der Hoffnung tragen, dass er nicht immer bei den Slow Horses bleiben wird: Er besitzt trotz aller Frustration die gleiche dickköpfige Entschlossenheit seines Großvaters...

Während im ersten Teil des Romans das Tempo eher gemächlich ist, zieht es im zweiten Teil gehörig an: Aus den Slow Horses werden Rennpferde - und zum ersten Male arbeiten die Einzelgänger im Team zusammen, ergänzen sich durch ihre spezifischen Fähigkeiten perfekt:

Die Entführung eines jungen pakistanischen Mannes, die nach 48 Stunden mit dessen Exekution beendet werden soll (live im I-net ausgestrahlt), bringt Bewegung in den Secret Service, die "Dogs" und - auch ins Slough House.

Was hat Robert Hobden, der Journalist, dessen Karriere ebenfalls rolltreppenabwärts ging, mit dem Entführungsfall zu tun? Welche Daten befinden sich tatsächlich auf dem USB-stick, den er immer bei sich führt? Und wer steckt hinter der spektakulären Entführung des jungen Pakistani?

Dieser Teil ist überaus wendungs- und temporeich sowie spannend: Mick Herron lässt den Leser zuweilen wütend aufstöhnen, da das Procedere nur allzu bekannt und auch beim MI5 nicht anders ist: Fehler werden (besonders von karrierebewussten Mitarbeitern) nicht eingestanden, sondern in diesem Falle (vermeintlich!) 'lahmen Gäulen' angehängt, um selbst eine reine Weste zu behalten - und den nächsten Beförderungsschein. Eine wahre Meisterin darin ist Diana Taverner, stv. Leiterin des Secret Service, auch "Lady Di" genannt.

Als die Dogs einen Mitarbeiter der Slow Horses nicht ausfindig machen können, da es sich um den hochspezialisierten und genialen Roderick Ho handelt, muss man auch mal schmunzeln, dass die Karriere besagten Dogs "nun wie Pusteblumen die Korridore des Regent's Parks hinuntergeblasen" werden. (Der Regent's Park ist die Zentrale des Secret Service).

Dieser und viele andere markige Sprüche charakterisieren den Sprachstil von Mick Herron und geben dem Thriller eine ungeheure, manchmal makabre Dynamik und - eine persönliche Note! Besonders auf den letzten ca. 100 Seiten überschlagen sich die Ereignisse und das Buch entwickelt eine Sogwirkung: Der Plot war stimmig; einzig die Tatsache, dass man nicht erfährt, was mit einigen hochrangigen Einsatzleitern passierte, vermisste ich: Sicher wird man im weiteren Band der geplanten Serie darüber aufgeklärt.

Fazit:

Ein spannungsreicher, dynamischer Agententhriller mit politisch aktueller Brisanz (Rechtsextremismus), der in markanter Sprache, pointiert, teils sarkastisch gesellschaftliche Schieflagen aufgreift. "Slow Horses" verlangt dem Leser einiges ab - mir hat dieser wendungs- und temporeiche, intelligent geschriebene Thriller bestens gefallen und ich freue mich auf eine Fortsetzung (oder besser mehrere). Daher gibt es von mir einen "Lesetipp" und 94° auf der "Krimi-Couch" - Fachabteilung Agenten-Thriller sowie 4,5*

Veröffentlicht am 30.08.2018

Ein gelungener Genremix (Histo/Sozialstudie und Kriminalroman) aus dem England der 20er Jahre

Die Schwestern von Mitford Manor – Unter Verdacht
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"Die Schwestern von Mitford" von Jessica Fellowes, hier mit dem Untertitel von Bd. 1 "Unter Verdacht" ist der Auftakt zu einer Romanserie von 6 Bänden, in dem sich jeder Roman einer der Mitford-Schwestern ...

"Die Schwestern von Mitford" von Jessica Fellowes, hier mit dem Untertitel von Bd. 1 "Unter Verdacht" ist der Auftakt zu einer Romanserie von 6 Bänden, in dem sich jeder Roman einer der Mitford-Schwestern widmet. Im vorliegenden Début ist es Nancy Mitford, die älteste der Schwestern.


Schon im Prolog begibt man sich in eine andere Zeit, die der 20er Jahre in London, in der ein Mord in einer (Dampf)eisenbahnlinie geschieht: Die Krankenschwester Florence Nightingale Shore wird brutal während der Zugfahrt ermordet; real ist dieser authentische Mordfall bis heute nicht aufgeklärt worden; im Roman jedoch sind die Hauptprotagonisten Louisa Cannon, Nancy Mitford und Guy Sullivan, seines Zeichens Bahnpolizist, dem Mörder auf der Spur....

Zum Inhalt:

Louisa Cannon, die in ärmlichen Verhältnissen aufwächst, erfährt von einer Freundin, dass die glamouröse Familie Mitford ein neues Kindermädchen sucht - und ergreift mutig ihre Chance, sich ein Leben in stabileren und besseren Verhältnissen aufbauen zu können. Sie bekommt die Stelle und freundet sich mit Nancy, der 17jährigen Tochter, an und wird deren Vertraute. Als die jungen Frauen von dem brutalen Mord erfahren, der einer Freundin der Familie zum Verhängnis wurde, sind sie nicht davon abzubringen, den Mörder zu finden. Hilfe finden sie hierbei von Guy Sullivan, einem Bahnpolizisten, der durch Zufall Louisa dabei hilft, die ersehnte Arbeitsstelle auf Mitford Manor zu bekommen - und sich dabei in sie verliebt...
Wer war der Mann im braunen Mantel, der zu Florence Shore in das Abteil stieg? Werden sie den Mörder finden, auch wenn es Guy von seinem Vorgesetzten Jarvis untersagt ist, im Fall Shore weiterzuermitteln, obgleich er abgeschlossen ist?

Meine Meinung:

Bereits von der ersten Seite an fand ich Zugang zu dieser recht spannenden und historischen Geschichte, deren Protagonisten real existieren und die den Leser ins London der 20er Jahre des letzten Jahrhunderts entführen: Die gesellschaftlichen Gegensätze zwischen reich und arm werden sehr durch die Figur der Louisa deutlich: Ihr gelingt es durch Intelligenz und auch Fleiß, in der Upper Class Fuß zu fassen und Nanny von 6 Mädchen zu werden, besonders Nancy, die sehr schlagfertig ist und gute Geschichten und Abenteuer liebt sowie auf der Schwelle zum Erwachsenwerden steht, sehr zugetan ist. Gemeinsam mit Guy gelingt es den beiden jungen Frauen, dem Mörder eine Falle zu stellen und im showdown, das bei der Party für Nancy stattfindet, diesen zu enttarnen....

Der Autorin, die eine Nichte von Julian Fellowes ist und die Begleitbücher zu "Downton Abbey" schrieb, gelingt es von Beginn an, den Leser in die Welt der 20er Jahre zu katapultieren: Der Roman ist in 3 Teile gegliedert und hat 79 recht kurze Kapitel, die den Spannungsbogen steigern, da die Erzählperspektiven wechseln. Der Schreibstil ist flüssig und sehr gut zu lesen sowie absolut unterhaltsam. Auch die Spannung kommt m.E. nicht zu kurz; über Louisa, die eine große Sympathieträgerin ist, kann man zuweilen schmunzeln, sich mit ihr vor ihrem üblen Onkel Stephen fürchten - und respektvoll ihre ermittlungstechnischen Fähigkeiten bestaunen! Auch Guy Sullivan ist ein sehr netter, wenn auch kurzsichtiger junger Polizist, der über ungeheure Ausdauer, Kombinationsgabe und Willensstärke verfügt - was ihm letztendlich nicht zum Nachteil gereicht. Das Zeitkolorit spielt ebenfalls sehr authentisch mit Rückblicken in den gerade erst beendeten 1. Weltkrieg durch die Briefe von Florence Shore eine wichtige Rolle, da das Leben von den Auswirkungen dieses schrecklichen Krieges - überall in Europa - geprägt war. Was für die Zeit zwischen den Weltkriegen mit den technischen Entwicklungen, dem Aufatmen und der Lebenslust der Menschen, die sich in neuer Musik und Tänzen z.B. widerspiegelt, sehr gut von der Autorin dargestellt und bildhaft gemacht wird. Andererseits sind die gesellschaftlichen Prägungen sehr eindrucksvoll geschildert und die starken Grenzen zwischen "oben und unten" sowie auch die Stellung der Frau, die sich in diesen Zeiten wandelte...

Fazit:

Eine sehr unterhaltsame und auch spannende Reise in die Vergangenheit des Englands der 20er Jahre in eine glamouröse Familie, in deren Auftakt der Serie die älteste Tochter Nancy Mitford eine der Hauptrollen einnimmt. Eine wirklich gelungene Mixtur aus Gesellschaftsstudie, historischem Roman und Krimi, der mir sehr gut gefallen hat, mich hier und da (ich sage mal nur "Mrs. Stobie" )auch an Downton Abbey erinnerte und den ich sehr gerne weiterempfehlen möchte! 4,5 *