Leider mit Schwächen
Josses TalJosef Tomulka wächst in Schlesien als uneheliches Kind bei seiner Mutter und seinen Großeltern auf, die ihn täglich spüren lassen, dass er unerwünscht ist. Wärme findet er bei der Nachbarsfamilie Reckzügel. ...
Josef Tomulka wächst in Schlesien als uneheliches Kind bei seiner Mutter und seinen Großeltern auf, die ihn täglich spüren lassen, dass er unerwünscht ist. Wärme findet er bei der Nachbarsfamilie Reckzügel. Deren ältester Sohn Wilhelm, ein glühender Nationalsozialist der ersten Stunde, zeigt Josef gegenüber eine sonderbar große Zuwendung. Unter Wilhelms Einfluss und begünstigt durch Josefs liebloses Elternhaus, verfängt auch bei ihm das braune Gedankengut, er findet die ersehnte Anerkennung im Jungvolk und wird ein willfähriger Helfer Wilhelms.
Josefs bittere Kindheit und seine Sehnsucht nach Liebe werden eindrücklich und glaubhaft beschrieben. Relativ früh waren mir Wilhelms wahre Absichten und die Hintergründe zu Josef klar, so dass das Ende des Buches vorhersehbar war.
Der Roman zeigt, wie maipulierbar der Mensch ist, wie perfide die Propaganda der Nazis war und welch gefährliche Anziehungskraft deren Jugendorganisationen hatten. Thematisch hat mich der Roman sehr interessant, doch leider hat er mich handwerklich nicht überzeugt, und man spürt die Unerfahrenheit der Autorin. Die Charaktere sind zu eindimensional und werden häufig entweder nur positiv oder absolut negativ dargestellt; hier hätte ich mir etwas mehr Ambivalenz gewünscht. Werner und die Eltern Reckzügel sind fast zu gut, um wahr zu sein, Fritz, Frieda und Helene Tomulka sind das absolute Gegenteil. Fritz' Verhalten ist für mich kaum nachvollziehbar und sehr extrem. Sicher war ein uneheliches Kind damals eine Schande, aber sein kompletter Verhaltenswandel gegenüber allen, auch Leuten außerhalb der Familie, und die Konsequenzen, die er für sich und die ganze Familie zog, erscheinen mir unverhältnismäßig und nicht nachvollziehbar. Insbesondere sein Benehmen am neuen Wohnort gegenüber den Nachbarn konterkariert seinen Wunsch, an einem anderen Ort unbelastet anzufangen. Insgesamt wundert es mich, dass im Roman so wenig vom Krieg spürbar ist, keine Haupt- oder Nebenfigur bis auf den Lehrer Ritter wird eingezogen oder fällt. Werner Reckzügel wirkt über die gesamten 13 Jahre immer wie ein Jugendlicher, obwohl er am Ende ca. 33 Jahre alt sein dürfte. Weder ist sein Beruf bekannt noch heiratet er bzw. hat eine Freundin. Dies alles zusammen lässt die Figuren auf mich konstruiert wirken. Die Rahmenhandlung um den alten Josse und Helen erscheint künstlich, Helens Uroma Else, die eigentlich eine zentrale Rolle spielen sollte, taucht nur kurz auf. Die äußere Geschichte wirkt so unglaubwürdig und eher wie ein halbherziger schriftstellerischer Kniff.
Insgesamt ein interessanter Roman mit vielen guten Ansätzen, aber leider Schwächen in der Umsetzung.