Milieustudie eines halben Gerippes
MohawkEine Kleinstadt in Upstate New York. Ende der Sechziger Jahre befindet sich die Industrie und mit ihr die Stadt im unaufhaltsamen Niedergang. Einst hatte die Lederindustrie Wohlstand und ein sorgenloses ...
Eine Kleinstadt in Upstate New York. Ende der Sechziger Jahre befindet sich die Industrie und mit ihr die Stadt im unaufhaltsamen Niedergang. Einst hatte die Lederindustrie Wohlstand und ein sorgenloses Leben gebracht, doch nun ist nichts mehr davon zu spüren. Man ist darauf bedacht, für das eigene Auskommen und das seiner Familie zu sorgen. Und so geht es auch Anne Grouse. Durch die Mutter und die Pflege ihres kranken Vaters ist sie an die Kleinstadt gebunden. Neben ihren Eltern bereitet auch ihr Sohn und ihr Exmann ihr Sorgen. Hinzu kommt noch, dass sie Gefühle für den Mann ihrer Cousine hegt, ein Traum, der nicht in Erfüllung gehen kann.
Ich habe mich sehr auf das Buch gefreut, da ich gerne Milieustudien aus den USA des 20. Jahrhunderts lese, und der Klappentext sich sehr nach einer emotionalen Geschichte angehört hat, die meinen Geschmack treffen könnte. Der Einstieg in das Buch fiel mir auch nicht schwer. Der sprachliche Stil des Autors ist einfach wunderbar. Auf atmosphärische Art und Weise wird man beim Lesen in das Setting getaucht und kann sich sowohl räumliche Umgebung, als auch die darin vorkommenden Figuren wunderbar vorstellen. Auch wenn negative Emotionen nicht permanent ausgedrückt werden, so ergibt sich dennoch eine düstere Grundstimmung, die den Verfall des Städtchens alle Ehre macht.
Zwar lernt man recht schnell die Protagonist:innen sehr gut kennen und beginnt eine emotionale Verbindung zu diesen aufzubauen. Die Figurengestaltung ist dem Autor dabei außerordentlich gut gelungen. Jede Figur löst bei mir beim lesen ziemlich starke und eindeutige Emotionen aus. So haben wir Annes verwirrten Exmann, der, auch wenn er extrem verpeilt ist und ständig Schaden anrichtet und eigentlich ein wirklich schlechter Vater ist, sofort ins Herz geschlossen wird. Auf der anderen Seite haben wir aber Annes Mutter, die bei mir mit ihrer unterschwellig bigotten Art, ihrer Naivität und ihrem Unwillen auch nur einmal ihr Hirn zu benutzen, wirklich sehr starke Hassemotionen ausgelöst hat. Ansatzweise wichtige Figuren wären dann noch Anne, deren Sohn Russel und ihr Vater, Harry, der Besitzer eines Diners, das zum zentralen Schauplatz und Treffpunkt der Geschichte wird, oder aber auch Wild Bill, die Personifikation der Probleme der untergehenden Stadt. Jedenfalls schlägt man sich beim lesen mit sehr vielen unterschiedlichen Personen herum, fast schon zu viele, wenn man mich fragt. Denn so bekommt jeder und jede nur relativ wenig "Screentime" was, auch wenn die Charaktere sehr vielschichtig und interessant gestaltet sind, zu einem Zerrupfen der Geschichte führt. Man verliert langsam den Faden darüber, wer nun welche Ziele in der Geschichte verfolgt und für was verantwortlich ist.
Das Problem des Zuvielseins und den damit einhergehenden Verwirrungen ergibt sich auch insgesamt in der Geschichte. Die ganzen Handlungsstränge gehen nie von einem Zentralen Punkt aus, noch finden sie sich jemals zu einem zentralen Punkt zusammen. In den ersten beiden Dritteln des Buches geht das problemlos, am Ende habe ich beim Lesen aber mehr und mehr das Bewusstsein bekommen, dass sich das Buch nicht auf ein finales Ende einstellen wird, sondern jede der Figuren mit ihrer eigenen Geschichte, ihrem eigenen Kampf aufhören wird. Und so war das Ende auch. Nicht ein Ende, sondern eine Hand voll.
Insgesamt kann man das Buch also als eine Zusammenstellung von verschiedenen Geschichten bezeichnen, die alle parallel zu einander ablaufen, einander zeitenweise überlappen und deren Protagonist:innen alle einander kennen. Verwirrend, dennoch emotional, spannend und unterhaltsam. Trotzdem muss ich sagen, dass die Geschichte auch unabhängig von Mohawk stattfinden hätte können. Denn die Stadt dient nur als Szene und Brennglas für die allgemeine Verzweiflung und Abgegrenztheit der Protagonisten