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Veröffentlicht am 25.03.2018

Eher kein Agatha Christie für Einsteiger aufgrund der Entstehungsgeschichte

Die großen Vier
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O: The Big Four. Der siebte Roman von Agatha Christie, dabei
der vierte Roman mit Poirot,
der dritte mit seinem Helfer Arthur Hastings,
der zweite mit Inspektor Japp

Darüber hinaus sind noch zwei Anthologien ...

O: The Big Four. Der siebte Roman von Agatha Christie, dabei
der vierte Roman mit Poirot,
der dritte mit seinem Helfer Arthur Hastings,
der zweite mit Inspektor Japp

Darüber hinaus sind noch zwei Anthologien der Autorin zu vermerken, eine mit Lyrik, eine mit Hercule-Poirot-Kurzgeschichten (die vorher einzeln in 1923 im Magazin Sketch veröffentlicht worden waren - die Relevanz erklärt sich noch anhand einer weiteren derartigen Anthologie)
• „The Mysterious Affair at Styles“ 1920 / „Das fehlende Glied in der Kette“ D 1929 mit Poirot (1), Hastings (1) Japp (1)
• „The Secret Adversary“ 1922/ "Ein gefährlicher Gegner" D 1932 mit den Beresfords (1)
• “The Murder on the Links” 1923/ “Mord auf dem Golfplatz” D 1927 mit Poirot (2) Hastings (2)
Dazwischen
o 1924: Lyriksammlung: „The Road of Dreams”
o Short Stories: Poirot investigates 1924 /“ Poirot rechnet ab“ Poirot
o Achtung: einzeln veröffentlichte Kurzgeschichten gab es später erst als Anthologie – vgl. Trivia, wichtig ist hier „Double Sin“ 1928/“Die Doppelsünde“
• “The Man in the Brown Suit” 1924/ “Der Mann im braunen Anzug” D 1963mit Anne Beddingfeld Colonel Race (1)
• „The Secret of Chimneys“ 1925 / „Die Memoiren des Grafen“ D 1929 mit Anthony Cade Eileen „Bundle“ Brent (1) Superintendent Battle (1)
• „The Murder of Roger Ackroyd“ 1926/ „Alibi“ bzw. „Roger Ackroyd und sein Mörder“ D 1928 mit Poirot (3)
• „The Big Four“ 1927 / „Die großen Vier“ D 1963 mit Poirot (4) Hastings (3) Inspektor Japp (2)

Meine Ausgabe ist vom Scherz Verlag, 11. Auflage 1984 in der Übersetzung von Hans Mehl – es gibt von 2015 eine Neuübersetzung von Giovanni Bandini, Hamburg: Atlantik. Nö, ich kaufe mir dann lieber die Facsimile-Ausgabe.

Hastings ist nach 18 Monaten in Argentinien auf Besuch in Europa – und will den Meisterdetektiv Hercule Poirot überraschen im früheren gemeinsamen Wohnsitz (wir erinnern uns: in „Das fehlende Glied in der Kette“ hatte Hastings seine große Liebe getroffen und mit ihr ausgewandert). Poirot nun hockt auf gepackten Koffern und war gerade drauf und dran, seinerseits Hastings einen Überraschungsbesuch abzustatten – mit einem derart üppig entlohnten Auftrag des US-Millionärs Ryland, dass er selbst eine Seereise nicht ablehnen konnten (für Neulinge: Poirot hat eine Phobie vor der Seekrankheit). Doch plötzlich bemerken die Freunde ein Geräusch in Poirots Schlafzimmer, ein fremder Mann! Bald gibt es die erste Leiche, eine zweite folgt, Poirot und Hastings sind fortan auf einer wilden Jagd nach der Verbrecherorganisation „die Großen Vier“, wobei nicht immer klar ist, wer Jäger ist und wer Gejagter.

Der Roman wartet auf mit einem Hastings undercover, einem hübschen Mädchen mit kastanienbraunem Haar (armer Hastings – er hat da gewisse Neigungen), einem dreifachen Bluff in einem Steinbruch, einem Läufer als Mordwerkzeug, diversen Mordanschlägen, …ziemlich viel. Allerdings fand ich bei meinem Re-Read nach langer Zeit auch diverse Logiklücken und Stolpersteine: was passierte mit der gefesselten und geknebelten Dame im begehbaren Safe in Paris? Hat Poirot sie verhungern lassen – doch sie taucht später wieder auf, wie das? Dazu gibt es etwas viele Personen, die man austauschen kann, weil ihre Verwandten sie lange nicht gesehen haben. Und der nicht wirklich lange verheiratete Hastings, der seine Frau innig liebt, ist nach seiner Ankunft im Juli nach einem Jahr immer noch bei Poirot, obwohl sich so viel dann doch nicht wirklich ereignet beziehungsweise immer mit sehr großen Pausen.

Das hier wurde lange davor geschrieben, aber irgendwie erinnert der Grund-Plot sehr an Blofield bei James Bond. Es gibt keinen üblichen Whodunnit, dafür die große Weltverschwörung mit Mitverantwortung selbst für Trotzki und Lenin und dem Bau irgendeines Radium-Energie-Strahlen-Zerstörungs-Dings, dazu eine geheime Kommandozentrale in einem Berg (ernsthaft, da haben Fleming und die Filmemacher recht viel geklaut, wenn ich das zeitlich richtig einordne). Ja, ich weiß – aber, ernsthaft – bei James Bond hat sich das auch wirklich jeder angesehen – und das hier ist von 1927, also bitte ich um Nachsicht. Wobei, wir haben März 2018, ein Giftanschlag in London, ein Beteiligter ist aus Russland – vielleicht möchte man es sich einfach nicht vorstellen.

Nun ja – KEINE Empfehlung für Christie-Einsteiger, sie scheint es selbst nicht so gemocht zu haben. Wikipedia hilft aus: Der Roman wurde kompiliert aus zwölf zuvor erschienenen Kurzgeschichten. Mrs. Christie brauchte 1926 Geld, weil Mr. Christie erst sehr viel Golf spielte mit seiner Golfpartnerin, dann wohl nur noch mit ihr (diese Ehe hielt dann bis zu seinem Lebensende). Dazu war Agatha Christies Mutter gestorben. Und die Autorin konnte in dieser Situation nicht schreiben – interessanterweise kam der Vorschlag gerade vom Bruder ihres Noch-Mannes, von Campbell Christie, der auch die Einzelgeschichten mit „zusammenformte“. Ich fasse zusammen nach Wikipedia:
Erste Veröffentlichung der Kurzgeschichten
Alle Kurzgeschichten, aus denen The Big Four zusammengestellt ist, wurden zuerst 1924 im The Sketch Magazine mit dem Untertitel The Man who was No. 4 (Der Mann der Nr. 4) wie folgt (ohne Illustrationen) veröffentlicht:
• The Unexpected Guest (Ein unerwarteter Gast): 2. Januar 1924, Ausgabe 1614. Grundlage für Kapitel 1 und 2: - The Unexpected Guest / The Man from the Asylum (Ein unerwarteter Gast / Der Mann aus dem Asyl).
• The Adventure of the Dartmoor Bungalow (Das Abenteuer des Dartmoor Bungalow): 9. Januar 1924, Ausgabe 1615. Grundlage für Kapitel 3 und 4: We hear more about Li Chang Yen / The Importance of a Leg of Mutton (Wir hören mehr über Li Chang Yen / Die Bedeutung der Hammelkeule).
• The Lady on the Stairs (Die Frau auf der Treppe): 16. Januar 1924, Ausgabe 1616. Grundlage für Kapitel 5 und 6: Disappearance of a Scientist / The Woman on the Stairs (Das Verschwinden des Wissenschaftlers / Die Frau auf der Treppe).
• The Radium Thieves (Der Raub des Radiums): 23. Januar 1924, Ausgabe 1617. Grundlage für Kapitel 7 mit demselben Titel.
• In the House of the Enemy (Im Haus des Feindes): 30. Januar 1924, Ausgabe 1618. Grundlage für Kapitel 8 mit demselben Titel.
• The Yellow Jasmine Mystery (Das Geheimnis des gelben Jasmins): 6. Februar 1924, Ausgabe 1619. Grundlage für Kapitel 9 und 10: The Yellow Jasmine Mystery / We investigate at Croftlands (Das Geheimnis des gelben Jasmins / Wir ermitteln auf einem kleinen Bauernhof).
• The Chess Problem (Das Schachproblem): 13. Februar 1924, Ausgabe 1620. Grundlage für Kapitel 11 mit dem leicht veränderten Titel A Chess Problem (Ein Schachproblem).
• The Baited Trap (Eine Falle mit einem Köder): 20. Februar 1924, Ausgabe 1621. Grundlage für Kapitel 12 und 13: The Baited Trap / A Mouse walks in (Eine Falle mit einem Köder / Die Maus tappt hinein).
• The Adventure of the Peroxide Blond (Das Abenteuer der Wasserstoffblondine): 27. Februar 1924, Ausgabe 1622. Sie bildet die Grundlage für Kapitel 14 mit dem leicht veränderten Titel The Peroxide Blond (Die Wasserstoffblondine).
• The Terrible Catastrophe (Eine schreckliche Katastrophe): 5. März 1924, Ausgabe 1623. Sie bildet die Grundlage für Kapitel 15 mit dem gleichen Titel.
• The Dying Chinaman (Der sterbende Chinese): 12. März 1924, Ausgabe 1624. Sie bildet die Grundlage für Kapitel 16 mit dem gleichen Titel.
• The Crag in the Dolomites (Der Kletterfelsen in den Dolomiten): 19. März 1924, Ausgabe 1625. Sie bildet die Grundlage für Kapitel 17 und 18: Number Four wins the trick / In the Felsenlabyrinth (Nummer Vier gewinnt einen Trick / Im Felsenlabyrinth). Diese Geschichte war auch die letzte Poirot Geschichte die Christie für das Sketch Magazine schrieb.


Trivia:
Nicht wichtig für das Verständnis der Handlung, jedoch interessant für die Chronologie ist das Auftauchen zweier Personen im Roman:
Joseph Aarons, Theateragent. Er taucht nach dem Debüt “The Murder on the Links”/ “Mord auf dem Golfplatz” hier zum zweiten Male auf und tritt auch später in Erscheinung – so in der Kurzgeschichte von 1928 “Double Sin”/”Die Doppelsünde”, veröffentlicht in Poirot's Early Cases 1974/Poirots erste Fälle sowie in “The Mystery of the Blue Train 1928 /“Der blaue Express“ D 1930

Vera Rossakoff: Wie Joseph Aarons taucht auch sie in der Kurzgeschichte von 1928 auf “Double Sin”/”Die Doppelsünde”, veröffentlicht in Poirot's Early Cases 1974/Poirots erste Fälle. Mit ihr wird der Vergleich zu Conan Doyle rund: so ist Watson für Sherlock Holmes, was Hastings für Poirot ist, und ebenso ist Vera Rossakoff für Poirot, was Irene Adler für Holmes ist - wir wissen ja, wohin die bösen Mädchen kommen, während die guten nur den Himmel zur Auswahl haben... Vera wird ein drittes und letztes Mal in Erscheinung treten in The Capture of Cerberus (in the Labours of Hercules) Sie benutzt dort wie in diesem Roman das Pseudonym Inez Véroneau.

Man ist viel unterwegs im Buch (weite Reisen sind nicht ungewöhnlich in AC’s Romanen, aber es gibt eher selten so viele – wohl geschuldet der ursprünglichen Veröffentlichungsform als einzelne Kurzgeschichten, ebenso wie die hohe Personenanzahl):
Von Poirots Appartment in London, Farraway Street, 14, fast nach Southampton und zurück, dann irgendwohin in Devon, nahe Dartmoor. Darauf nach Surrey, ins Dorf Chobham, nach Paris, Passy, ins fiktive britische Hatton Chase, dann Market Hanford, Worcestershire, wieder London, dort in Londons Chinatown. Dazu ein Restaurant in Soho, dann nach Belgien. Zwei Schiffsreisen. Dann von London nach Paris und zuletzt ins italienische Südtirol.

Zeitgeist:
Wieder bekommt man bei Schock einen Brandy, bei schwereren Fällen spritzt der Hausarzt Strychnin. Hält der Zug auf freier Strecke, können Passagiere munter herausklettern und die Reise unterbrechen (zweimal). Selbst ein versoffener Ex-Seemann kann sich einen Diener leisten (Whalley), einem des Mordes verdächtigen Chinesen kann die Polizei heidnische Rachgier unterstellen und überhaupt hat der gute Hastings, der hier als Ich-Erzähler der Geschichte fungiert, so seine Vorbehalte, gegenüber Asiaten, Slawen, Künstlern,…

Man merkt die Brüche zwischen den Einzelteilen der Handlung – das geht, wenn dazwischen die Woche bis zu nächsten Ausgabe von Sketch liegt, im Buch wirkt es als seltsam abrupte Handlungsstränge mit extrem vielen Personen. Dazu die reichlich überdrehte Verschwörungsgeschichte – im Film kaufe ich so etwas tatsächlich immer leichter. Dennoch gefällt mir das Konstrukt besser als die „echten“ Kurzgeschichtensammlungen wie „Poirot investigates“/ „Poirot rechnet ab“.

3 1/2 Sterne - ich mag nicht aufrunden.

Veröffentlicht am 22.03.2018

Das Luftschloss, das gesprengt wurde

Vergebung
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Lisbeth Salander kommt lebensgefährlich verletzt ins Krankenhaus – in genau das Krankenhaus, in das auch ihr verletzter Vater eingeliefert wird. Und als wäre es noch nicht genug, dass sie hier um ihr Leben ...

Lisbeth Salander kommt lebensgefährlich verletzt ins Krankenhaus – in genau das Krankenhaus, in das auch ihr verletzter Vater eingeliefert wird. Und als wäre es noch nicht genug, dass sie hier um ihr Leben kämpfen muss, wetzen bald schon auch ihre alten Widersacher fast wörtlich die Messer (nun ja, andere Waffen – aber…selbst lesen!). Schließlich ist Lisbeth diejenige, die aufdecken könnte, was unbedingt verborgen bleiben soll. Und so kommt es zur mehrfachen Anklage wegen Mordes gegen sie unter Androhung von lebenslanger Einlieferung in die Psychiatrie. Doch die Mitarbeiter der Zeitschrift Millenium unter Mikael Blomquist beginnen zu ermitteln – und noch weitere Helfer finden sich, allerdings auch weit mehr Gegner, als erwartet.

Wie bereits bei den Bänden 1 und 2, habe ich das ungekürzte Hörbuch gehört. Beim Vorgänger war ich ja nicht ganz so glücklich mit der Art des Endes gewesen, doch wurde ich durch diese völlig „runde“ Folge wieder versöhnt mit der Trilogie, die ursprünglich als 10-bändige Serie angelegt war, wodurch es jedoch durch den frühen Tod von Autor Stieg Larsson nicht kam (ich kenne Band 5, von David Lagercrantz in Nachfolge geschrieben, also theoretisch das übernächste Buch, und war eher wenig angetan – vielleicht schließe ich noch die Lücke, vielleicht auch besser nicht). Dieser dritte Band könnte im Gegensatz zu Band 2 für sich gehört/gelesen werden, wenn auch mit kleineren Abstrichen (das wesentliche wird erklärt).

Dieses Mal gibt es Neben-Handlungen, die mir nicht wie reine Alibi-Geschichten erschienen, so war ja meine Beschwerde zu Teil 2. Der Exkurs von Erika Berger zum Beispiel ist eine ganz eigene Erzählung, selbst viele der eingebetteten Erlebnisse der Hauptakteure neben dem „großen Ganzen“ sind für sich spannend oder zumindest unterhaltsam. Da ich bisher den Vergleich zu den Verfilmungen gezogen habe: hier ist die Verfilmung im Vergleich zum (Hör-)Buch wesentlich gekürzt – einiges ist dabei zwar vermutlich für eine Verfilmung zu detailliert, wie die medizinische Behandlung oder die Vorbereitung des Prozesses, wird von mir aber als nicht zu lang empfunden. Im Gegenteil, es werden genau Unzulänglichkeiten des schwedischen Rechtssystems erläutert wie auch generell der genau Ablauf - also durchaus sowohl etwas zum Lernen als auch Gesellschaftskritik.

Ich mag den trockenen Humor, der regelmäßig aufblitzt, ebenso wie die „Helden“ der Handlung – eine Schwäche habe ich für Holger Palmgren entwickelt, neben Lisbeth natürlich. Dazu die tolle Darbietung durch Dietmar Wunder (wie gehabt, nur ein wenig holpriger bei Fakten aus dem IT-Umfeld, was weniger ins Gewicht fällt, weil diese dann doch bereits eher veraltet sind – z.B. Handy mit 72 dpi-Fotos, na danke).
Nur wieder die völlig sinnlose deutsche Übersetzung von „Das Luftschloss, das gesprengt wurde“
Volle 5 Sterne!

Veröffentlicht am 18.03.2018

Sisyphos oder von der Unausweichlichkeit des Scheiterns

Skandinavisches Viertel
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Matthias Weber, wir begleiten ihn als Leser durch seine Kindheit bis ins Erwachsenenalter, von Ostberlin durch die Welt zurück nach Ostberlin, in den Kiez seiner Kindheit. Aus dem phantasiebegabten Kind, ...

Matthias Weber, wir begleiten ihn als Leser durch seine Kindheit bis ins Erwachsenenalter, von Ostberlin durch die Welt zurück nach Ostberlin, in den Kiez seiner Kindheit. Aus dem phantasiebegabten Kind, das im skandinavischen Viertel für sich jene Straßen umbenennt, die keine passenden Namen haben, und Grenzer zu verwirren trachtet, wird als Erwachsener ein Makler, der rein in seinem Viertel tätig ist und dort die Wohnungen nicht jedem anvertrauen will. Der Wechsel in den jeweiligen Kapiteln ist gut nachzuvollziehen, dabei wirft die Familiengeschichte lange viele Fragen auf.


Köstlich die Anekdoten zu Beginn, wie der Makler die „Maden“ täuscht und schließlich abblitzen lässt, anderen aber zu ihrem Glück verhilft. Im Gegensatz dazu stehen die Kapitel aus dem Leben des Jungen Matthias, dessen familiärer Hintergrund wohl die Entwicklung seiner Beziehungen bedingt. „Und er spürt wieder diese Erstarrung, die ihn besser schützt als alles andere.“ S. 194 Dazu Einblicke in die Realität der späten DDR, Abiturzulassung, Denkverbote – davon hätte ich mehr gewünscht, zu weit ist das für viele heute entfernt.


Schütteln möchte man die Protagonisten dieses Buches, geradezu anschreien. Sie alle flüchten sich geradewegs in die Unausweichlichkeit des Scheiterns. Jeder hat sein Päckchen zu tragen, seine Defizite, seine Erinnerungen. Hoffnungslos? Nein. Autor Torsten Schulz schreibt das so liebevoll, so voller Verständnis dafür, wie wir uns wohl gelegentlich alle im Wege stehen. Dennoch hatte das Buch für mich einige Längen, gerade in der immer gleichen Wiederholung des Beziehungsschemas (man versteht das schon schneller), war mir der Beginn deutlich lieber als mittlere Teile der Handlung.

3,5 Sterne.

Veröffentlicht am 13.03.2018

Man kann nicht zweimal in denselben Fluss steigen

Die sanfte Gleichgültigkeit der Welt
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Mann und Frau. Zum Inhalt. Fragezeichen im Gesicht? Das ist hier Programm. Ich-Erzähler Christoph, Autor einer einzigen, seiner Geschichte, in den Fünfzigern, erzählt von seiner Geschichte mit Magdalena, ...

Mann und Frau. Zum Inhalt. Fragezeichen im Gesicht? Das ist hier Programm. Ich-Erzähler Christoph, Autor einer einzigen, seiner Geschichte, in den Fünfzigern, erzählt von seiner Geschichte mit Magdalena, Schauspielerin. Diese Geschichte ist vorbei. Oder? Er erzählt davon Lena, bald Dreißig, Schauspielerin, die zusammen ist mit Chris, Autor. Irgendwie ist das junge Paar die Wiederholung des älteren Paares, und irgendwie auch nicht. Er erzählt davon auch Chris, in Barcelona, wo Chris gar nicht sein dürfte, noch nicht.

„Wenn er ist wie Sie und ich wie Ihre Magdalena und wenn wir dasselbe Leben führen wie Sie beide, dann müssten doch auch unsere Eltern dieselben sein und unsere Freunde, die Häuser, in denen wir leben, die Inszenierungen, in denen ich und Ihre Magdalena aufgetreten sind, die Texte, die Chris und Sie schreiben. Dann müsste die ganze Welt sich verdoppelt haben. Und das hat sie nicht. Nein, sagte ich, das hat sie nicht. Es gibt Unterschiede, Abweichungen. Es sind die Fehler, die Asymmetrien, die unser Leben überhaupt erst möglich machen. Ich habe einmal mit einem Physiker gesprochen, der mir erklärt hat, das ganze Universum basiere auf einem kleinen Fehler, einem winzigen Ungleichgewicht zwischen Materie und Antimaterie, das beim Urknall entstanden sein muss. Hätte es diesen Fehler nicht gegeben, hätten sich Materie und Antimaterie längst wieder aufgehoben und es existierte gar nichts.“ S. 81f.


„Die sanfte Gleichgültigkeit der Welt“ konnte ich nur sehr langsam lesen, somit wurden die 160 Seiten zu einer viel umfangreicheren Lektüre. Am besten funktionierte das, wenn ich hinterher Zeit hatte für mich – irgendwann war das das Buch, das ich noch gelesen habe, bevor ich unter die Dusche ging oder die Wäsche gemacht habe oder kurz vorm Einschlafen (nicht so gut, ich lag gestern noch lange wach). Wenn ich mein Leben noch einmal leben könnte, was würde ich anders machen? Wenn ich wüsste, was passiert, würde ich mich anders verhalten? Warum bleibe ich mit jemandem zusammen, entscheide mich für eine Tätigkeit? Wähle ich einen Brot-Job, den ich hasse, um eine Beziehung führen zu können, wo verbiege ich mich? Wo bin ich der Autor meiner Geschichte, wo nur Schauspieler für die Texte anderer? Ich MUSS aufhören, sonst schreibe ich hier ewig.

Der Text ist nicht einfach zu „verdauen“, ich komme mit dem Anfang klar, mit der Parallelexistenz von Christoph und Magdalena in Chris und Lena. Doch gerade, wenn ich mir dafür eine Erklärung zurechtgelegt habe, fächert der schweizer Autor Peter Stamm das noch weiter auf. Da gibt es noch einen alten Mann, es fällt mir am Ende wieder ein, dass ich von ihm zu Beginn gelesen habe und auch zwischendurch. Auch folgt der 50plus-Christoph dem jungen Paar, dann gibt es diese Hochzeit, die aber schon länger stattfindet, dann ist der Raum leer.

Ein Buch, das verwirrt, anregt, aufregt, in wunderschön unaufgeregter Sprache. Es wird erst in Verbindung mit dem Leser zu einer Geschichte. S. 121 „Ich glaube, das ist es, was ich an Büchern immer gemocht habe. Dass sie unabänderlich sind. Man muss sie gar nicht lesen. Es reicht, sie zu besitzen, sie in die Hand zu nehmen und zu wissen, dass sie immer so bleiben, wie sie sind.“ Nein, hier nicht.
Man kann nicht zweimal in denselben Fluss steigen (Heraklit)



Ungeachtet meiner Lesezeit: wirklich? € 20,- für 160 Seiten HC? Ich hätte mir dann dafür doch ein Lesebändchen gewünscht und ein irgendwie passend gestaltetes Vorsatzblatt. Nur so als Anregung.

Veröffentlicht am 12.03.2018

I Do Solemly Swear

Der Präsident
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Ich habe die Originalfassung gelesen.
deutscher Text am Ende (German version underneath)


Two Washington officials have got a problem. A nuclear war could only just be stopped from beginning and they ...

Ich habe die Originalfassung gelesen.
deutscher Text am Ende (German version underneath)


Two Washington officials have got a problem. A nuclear war could only just be stopped from beginning and they both fear the next similar situation might occur soon. They know they have to prevent this from happening. That does sound like a perfect starting point for a thriller.

The United States have elected a new President. Important consultants are his pretty daughter and his son-in-law. He has a model wife. He twitters. He spouts racist remarks. He ridicules women. There are lots of “Not My President“ signs and protests around. He is a successful businessman. That does sound familiar. In this book, the newly elected President (but without a name, somehow) has all of the above characteristics. And one night, when he feels humiliated by something the North Korean President said, he is about to launch nuclear missiles. Only a white lie from his staff stops him. “A single scandal could destroy a good president, but a thousand scandals gave a bad president immunity. The worse he behaved, the more he could act with impunity.“ (Chapter 42)

Well. I am German, so obviously “Not My President“. Still, I dislike the book’s title “To Kill the President“. I do not think killing is ever a solution, especially after a democratic vote, not even in fiction. So the ground plot of this book gave and gives me creeps – and this despite of feeling a profound dislike of Mr Trump. What I dislike most is, yes, really, bad behaviour: I believe that people tend to go by what they are used to seeing all the time, and the way the mere style of interaction changed in politics, might change interaction in general, I fear.
So, a nice idea for a book on a, say “obviously invented“ Mr President. Not like that, sorry. So, a start that made my interrupt all of the time.

Then the middle got to me, a revelation I had expected was followed by several unexpected twists, and a few rather brilliant sentences. “The President is every white man in America with the filter taken off. … And that’s why they voted for him. Because he’s who they would be, if they could get away with it. He makes billions, pays no tax, never pays his bills, dumps his wives as soon as they sag even a teeny bit and marries a younger model – literally! – he insults everyone who gets in his way, say whatever damn he well likes and he only gets richter and stronger. …He’s the toddler within every on of us, allowed to run free. …He’s like a dream come true. He’s like America when it started, when white dudes could ride around this country on horseback, shooting Indians and screwing the squaws, ….“ Chapter 42 That 25 % of the book was brilliant.

But all books have to come to an end, with certain expectations of the reader when the book is a thriller: evil has to be put down or some sinister remark on evil to prevail. On the way there, I encountered a bid too much dark foreboding about constantly hinting at the dark secret Maggie has that makes her (feel) guilty. And the ending, really, everything to unwind THAT easily? No fight back claiming “fake news“, no futher assaults? And, honestly, she thinks about making even a phone call to Stuart Goldstein? Chapter 44 Oh, and the author Sam Bourne (an alias) is actually British – from my point of view, a German like me or a British author might well write historical fiction with real persons from other countries or contemporary fiction with invented characters – get that close to real persons should be left to those from their own countries, as a matter of respect for their topical decisions. Blame your own folks and not pretend you know how another people’s situation really is like, but that is my personal opinion.


Strong in the middle, week ending and, sorry, no-good-behaviour beginning.

NotMySortOfBehaviour neither in fiction nor in the topical reality nor in writing this.



Zwei Washingtoner Amtsträger haben ein Problem. Der Beginn eines Nuklearkrieges konnte gerade noch verhindert werden und beide fürchten nun das Auftreten einer ähnlichen Situation. Sie wissen, dass sie das verhindern müssen. Das klingt wie die perfekte Ausgangslage für einen Thriller.

Die Vereinigten Staaten haben einen neuen Präsidenten gewählt. Wichtige Berater sind seine hübsche Tochter und sein Schwiegersohn. Seine Frau war ein Modell. Er äußert rassistische Bemerkungen. Er setzt Frauen herab. Es gibt viele Schilder mit der Aufschrift „Nicht mein Präsident“ und Proteste. Er ist ein erfolgreicher Geschäftsmann. Das klingt vertraut. In diesem Buch hat der neu gewählte Präsident (der irgendwie namenlos bleibt) alle diese Merkmale. Und eines Nachts, nachdem er sich durch eine Aussage des Nord-Koreanischen Präsidenten beleidigt fühlt, geht er daran, Nuklearwaffen zu starten. Nur eine barmherzige Lüge seiner Mitarbeiter bremst ihn. “A single scandal could destroy a good president, but a thousand scandals gave a bad president immunity. The worse he behaved, the more he could act with impunity.“ (Kapitel 42)

Nun ja. Ich bin Deutsche, somit logischerweise „Nicht mein Präsident“. Nichtsdestrotrotz missfällt mir der Originaltitel von „Der Präsident“, „Den Präsidenten töten“. Mord kann keine Lösung sein, besonders nicht nach einer demokratischen Wahl, nicht einmal fiktiv. Somit bereitet und bereitete mir der Plot dieses Buches Bauchweh – und das trotz meiner tiefen Abneigung gegen Herrn Trump. Was mir am meisten missfällt, ist, ja tatsächlich, schlechtes Benehmen: ich bin überzeugt, dass Menschen annehmen, was sie häufig zu sehen bekommen; und somit könnte der Stil, zu dem sich die politischen Auseinandersetzungen verändert haben, auch die generell Auseinandersetzung verändern, wie ich befürchte. Somit ist das hier eine nette Idee für eine Handlung mit einem offensichtlich erfundenen Präsidenten. Aber nicht so, sorry. Somit ist das ein Anfang, der mich dauernd zu Unterbrechungen zwang.

Der mittlere Teil hat mich dann mitgerissen, eine von mir erwartete Enthüllung wurde gefolgt von diversen unerwarteten Wendungen und dazu gab es einige wirklich brilliante Sätze. “The President is every white man in America with the filter taken off. … And that’s why they voted for him. Because he’s who they would be, if they could get away with it. He makes billions, pays no tax, never pays his bills, dumps his wives as soon as they sag even a teeny bit and marries a younger model – literally! – he insults everyone who gets in his way, say whatever damn he well likes and he only gets richter and stronger. …He’s the toddler within every on of us, allowed to run free. …He’s like a dream come true. He’s like America when it started, when white dudes could ride around this country on horseback, shooting Indians and screwing the squaws, ….“ Kapitel 42 DAS Viertel des Buches war klasse.

Aber alle Bücher müssen ein Ende haben, wobei es bei Thriller-Lesern da gewisse Erwartungen gibt: Das Böse muss zur Strecke gebracht werden oder es gibt einige düstere Bemerkungen über den Fortbestand des Bösen. Hier waren es mir etwas zu viele düstere Voraussagen, indem permanent angespielte wurde auf das dunkle Geheimnis umd Maggies (gefühlte) Schuld. Und das Ende, sollte sich das ernsthaft alles SO leicht auflösen? Kein Rückschlag, der behauptet, es handle sich um „fake news“, keine weiteren Angriffe? Und sie denkt WIRKLICH über einen Telefonanruf an Stuart Goldstein nach (Kapitel 44, ich habe zurückgeblättert)? Ach, und Autor Sam Bourne, das ist das Pseudonym eines Briten – nach meiner Meinung sollte eine Deutsche wie ich oder ein britischer Autor gerne historische Romane schreiben über echte Personen aus anderen Ländern oder Gegenwarts-Literatur mit erfundenen Charakteren, aber sich auf echte Personen der Gegenwart in einem fiktiven Werk derart „einzuschießen“ (im Wortsinne), das sollte man vielleicht doch deren Landesangehörigen überlassen, als eine Art von Respekt für deren Entscheidungen. Tadelt Eure Landsleute und tut nicht so, als könntet ihr wirklich nachvollziehen, wie die Situation an einem anderen Ort gerade wirklich ist, aber das ist nur meine persönliche Sichtweise.

Stark in der Mitte, schwach am Ende, und, bei aller Liebe, kein Anfang mit einem guten Stil.

nichtMeinBenehmen, weder in der Fiktion noch in der gegenwärtigen Realität noch als Buchidee.