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Veröffentlicht am 16.04.2017

Mir viel zu überzogen und unlogisch, obwohl Grundplot, Figuren, Schreibe toll sind

Post Mortem - Tage des Zorns
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Gesucht wird ein Serienmörder. Besondere Kennzeichen:
• tötet Ehepaare in alleinstehenden Bauernhäusern
• Leichen liegen nebeneinander im Bad
• mehrere Stichverletzungen, aufgeschlitzter Hals
• keine Blutspuren
• ein ...

Gesucht wird ein Serienmörder. Besondere Kennzeichen:
• tötet Ehepaare in alleinstehenden Bauernhäusern
• Leichen liegen nebeneinander im Bad
• mehrere Stichverletzungen, aufgeschlitzter Hals
• keine Blutspuren
• ein alter Füller bleibt am Tatort
• Täter scheint Schutzkleidung zu tragen
• am Tatort: A6 Zettel, kariert, ohne Rand, aus Ringbuch; mit Stecknadeln fixiert, mit Sprüchen aus Dantes „Göttlicher Komödie“ aus dem vermischten Blut der Opfer
 neu: sehr kurzer Abstand, Waffen in den Händen der Opfer. Baumwollfasern am Stuhl, nur Blut eines Opfers, der Frau, verwendet, ein anderes Messer – mit Zacken oben
Ermittlerin: Emilia Ness, Interpol – sie koordiniert polizeiliche Ermittlungen bei grenzüberschreitenden Schwerverbrechen S. 239. Besondere Verbindung zum Täter: NOCH keine – zumindest keine, die ihr bewusst ist. Doch da sollte sie vielleicht ihre Tochter Becky fragen. Becky wird nämlich vermisst. Doch das weiß Emilia noch nicht…

An anderer Stelle erledigt Profi-Killer Avram Kuyper einen Job – was man halt in der Branche so tut. Aber nicht nur hier läuft es nicht so wie geplant – auch der nächste potentielle Kunde hat ein etwas anderes Anliegen.

So spannend beginnt das Buch, der dritte Band der Post Mortem – Reihe. Hatte ich noch eher zufällig Band 1 vor Band 2 gelesen, denke ich jetzt, dass man mit Nummer 3 Probleme haben dürfte ohne Vorkenntnisse (schon allein, warum Emilia zu einem gewissen Grade Avram vertraut – und zu einem alten Bekannten).

Doch leider bin ich ab etwa der Hälfte des Buches ausgestiegen – wörtlich; ich habe dann nur beendet, weil ich ein Leseexemplar habe. Es gibt so diverse Fehler, Logiklücken oder schlicht „zu viel des Guten“. Zu viel? Nun ja, auch hier ist wieder mal die Familie der Protagonisten mit dran, unter Bedrohung. Das ist inzwischen so ein Trend in der Thriller-Literatur, der mich nervt (kein Mensch wäre noch bei Polizei und Co., wenn jedes Mal die Familie von den Kriminellen bedroht wäre). Dann hat „Tage des Zorns“ so ein paar Settings zwischen Lara Croft, Indiana Jones und ähnlichen Abenteuer-Filmen: da gibt es Gemäuer mit vielen Gängen, alte Burgen, Geheimzugänge… getoppt hier von der Kelleretage der Fabrik, die – natürlich – wie ein Labyrinth ist. Ich will eine Lagerhalle bauen, in der ich mich gezielt NICHT zurechtfinde, so baut doch jeder von uns, oder???

Da ist ein Mann in besagter Lagerhalle eingesperrt - und er findet den Meißel, mit dessen Hilfe er die Tür seines Raums öffnet, erst NACHDEM er zuvor die Botschaft des gestörten Verbrechers im selben Raum gefunden hat (klar, denn NACH dem Fund des Meißels würde er ja nicht mehr weiter suchen). Da darf Emilia im letzten Drittel weiter ermitteln TROTZ persönlicher Betroffenheit (den Alleingang zum Ende einmal ausgeklammert). Da wird im Keller der Lagerhalle eine Schnitzeljagd organisiert, die irgendwie an Computerspiele à la Lemminge erinnert – erfülle die Aufgabe und gelange auf das nächste Level (es gab mal eine Criminal Minds-Folge, da zwang man den Opfern auf, wie Akteure eines Computerspiels zu agieren – das hier erinnert schwer daran). Wer schluckt freiwillig Betäubungsmittel, wenn es gilt, ein Kind zu retten – falls man stirbt an der unbekannten Substanz KÖNNTE man niemanden mehr retten??? Wozu überhaupt die ganze Aktion des gestörten Verbrechers mit der Schnitzeljagd – ja, er will die beiden leiden sehen – aber wenn er einfach still die Kinder entführt hätte und die beiden Leidenden nie wieder etwas von ihnen gehört hätten, das hätte nicht gereicht??? Ach ja, dann wäre ja der Showdown nicht möglich gewesen. Generell bin ich ja bei Krimis und Thrillern da insgesamt toleranter als bei Romanen, aber das hier ist zu viel. Und noch so am Rande – was war mit Sinas Vater oder mit Dante am Ende – beide waren ja im Anfang einmal wichtig. Da stört dann fast ein Satz wie "Ich kenne niemanden, der sich mehr ans Leben krallt W I E du" S. 235 noch am wenigsten.

Schade. Und gerade Avram finde ich so eine tolle Hauptfigur. Leider reicht mir der Rest in der Häufung dann nicht mal für ein „Mittelmäßig“. 2 Sterne von 5.

Veröffentlicht am 12.04.2017

The Dragonslayer – Welcome to the Jungle

...denn zum Küssen sind sie da
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Ich habe die Original-Ausgabe gelesen mit dem Titel "Kiss the Girls", als ebook - leider lässt sich das nicht anders einstellen.

“FOR THREE WEEKS, the young killer actually lived inside the walls of an ...

Ich habe die Original-Ausgabe gelesen mit dem Titel "Kiss the Girls", als ebook - leider lässt sich das nicht anders einstellen.

“FOR THREE WEEKS, the young killer actually lived inside the walls of an extraordinary fifteen-room beach house.” p. 15 The killer watches Michael and Hannah Pierce and their daughters Coty and Karrie, 13. He introduces himself to Coty as ‘Casanova’. He introduces himself on the evening of murder in Boca Raton.

Casanova has a 21-old college student in his trunk – once he has her tied up against a tree, he “…took off his mask and let her see his face for the first time. …Then he bent down and kissed her on the lips.
Kiss the girls.
Finally, he walked away.” p 32

Washington D.C. cop Alex Cross, with a doctorate for abnormal psychology at John Hopkins, gets drawn into a grisly series of crimes. He will not be just professionally involved – this will be personal. His niece has disappeared. The story is hard to endure not only for the victims and for Alex, be aware that the kind of crime described is brutal, sometimes explicit and might shock sensitive readers like when one of the monsters in questions gets to try a sexual practice involving a snake on one of the abducted women. Too much for you – no book for you; this is NOT cozy crime.

Again, I feel quite drawn by the laconical style used each time you hear Alex, like when he has a very straightforward question for Robert Burns, Deputy Director of the FBI:
“I like directness more than anything in a senior officer,” Burns continued.
I was still waiting for an answer to my direct question.” p 70 Patterson certainly has you side with Dr Cross, the rather short chapters will shift from the usual third-person to first-person narrator whenever the focus is on the doc. Very much fine with me, he is made up to be a very likeable character, including nice interludes of music. And for this book I actually had thought there could possibly not be much more to come after I was a bit more than halfway-through – and was completely wrong. Despite of being a series, you might start with just ANY of the books (I did with vol. 20, than 23, and am now “on track”); something I highly appreciate; except for the short hint back to the previous book.

So, a solid 4 out of 5 stars.

Trivia:
German title “…denn zum Küssen sind sie da”.

on the Cross family:
In volume 2, Alex’ children Damon and Janelle are 7 and 5 – he is a single Dad after their Mom, his wife Maria, had been killed in a drive-by shooting. That means it is the year after vol 1 https://www.lesejury.de/james-patterson/audio-downloads/morgen-kinder-wird-s-was-geben/9783785741108 which saw him at the age of 38. They still live with his 80-something-year-old grandmother ‘Nana Mama’ who grew him up.
There will also be Alex’ late brother Aaron’s widow (Aaron died of alcoholism-induced cirrhosis at 33), Cilla, 41, his one living brother, Charles, with his wife, and three of Alex’ aunts, one of whom is called Tia. Cilla’s and Aaron’s daughter is Alex’ niece Naomi “Scootchie”, 22.

issues I have with the text:
I do not quite get the sense of the incident with Marcus Daniels at the very start of the story. What did Patterson need that for?
Well, Patterson’s hero Cross is black, Patterson himself is not –he has female investigators, too, but sometimes he sort of stresses it in way that is a bit…overdoing, like when after a phone call, Cross’ grandma Nana goes: “Black man?” Nana asked. She is a racist, and proud of it. She says she’s too old to be socially or politically incorrect. She doesn’t so much dislike white people as distrust them.” p 43 I hope, the “Women’s Murder Club” will not ponder PMS in length instead. The author can be way more trustworthy, like when Alex and best friend-colleage Sampson will be stopped by a police patrol for one mere reason: The killer they are supposed to look out for is white – but Alex and Sampson are black.

Veröffentlicht am 10.04.2017

„Ein grandioses Gesellschaftspanorama unserer Zeit“

Die Zeit der Ruhelosen
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Der Klappentext nennt das Buch „ein grandioses Gesellschaftspanorama unserer Zeit“ – und das passt. Der Rest vom Klappentext verrät etwas viel, wobei das hier nicht einmal schadet, weil es mehr darauf ...

Der Klappentext nennt das Buch „ein grandioses Gesellschaftspanorama unserer Zeit“ – und das passt. Der Rest vom Klappentext verrät etwas viel, wobei das hier nicht einmal schadet, weil es mehr darauf ankommt, WIE elegant Karine Tuil das tut – und welche eigenen Überlegungen das auslösen kann.

Der Roman wechselt die Perspektiven zwischen drei Männern, die unterschiedlicher kaum sein könnten: Reich geboren oder aus dem Problemviertel, als Kind von afrikanischen Einwanderern oder mit rein französischer Ahnenreihe, mit Hintergrund im Islam, im Katholizismus, im Judentum (oder sogar mit Kombinationen davon), erfolgreich, aufstrebend oder gebrochen. Überhaupt, gebrochen – alle von ihnen werden in diesem Roman in der einen oder anderen Weise zu Verlierern werden; der Text lebt davon, ihnen dabei zuzusehen. Ihr Scheitern ist dabei teils zutiefst menschlich – sie verlieben sich und Partnerschaften zerbrechen, Karrieren gehen kaputt, angebliche Freunde werden zu Verrätern - zur wirklichen Identifikationsfigur taugt mir keiner von ihnen: zu sehr finden sie ihre Identifikation in der Selbst-Zelebrierung als „Alpha-Männchen“; selbst die Frauen um sie herum sind kaum besser in ihrem Streben nach Durchsetzung eigener Machtbedürfnisse.

Die Sprache ist eine Freude: gut verständlich, treffsicher, situativ changierend
– ob von den Schrecken des Krieges handelnd: „Könnte der Übersetzer, der euch seine Dienste anbietet, nicht ein von den Taliban ferngesteuerter Spion sein, eine Geisel, die unter Zwang handelt? Es ist ein Leichtes, ihn zu erpressen, indem sie damit drohen, seine Familie zu töten, sie wissen, wo sie wohnt, sie kennen den Namen seines Vaters und seiner Schwester, du weißt, was wir deiner Schwester antun können, ja, er weiß es, sie werden ihr eine Kugel in den Kopf jagen oder sie mit Säure bespritzen, ein Strahl ins Gesicht, und sie ist für immer entstellt, als abschreckendes Beispiel.“ S. 20
oder ob es um oft ernüchternde Schlussfolgerungen geht: „Er hatte die Liebe verschmäht. Nun musste er sich mit der Zuneigung seiner Familie begnügen, dem Trostpreis.“ S. 278

Mich hat der Text sehr zum Nachdenken angeregt – hinaus über das altbekannte Erwägen, wo Diskriminierung beginnt, inwieweit viele Förderungen verkappte Demütigungen beinhalten, wo die Zensur im Kopf stattfindet, hin dazu, wo die Demütigung geflissentlich ignoriert wird, um nicht als „Spielverderber“ dazustehen. Das ist kein rein französisches Thema, das lässt sich auch in deutschsprachigen Ländern exemplifizieren; ich war teils erschreckt, wie viele dumme (rassistische, sexistische, antisemitische,…) Sprüche aus dem Buch ich bereits im gesellschaftlichen Umgang gehört hatte, oft „natürlich“ ganz „harmlos“ gemeint. Das ist schon „ganz großes Kino“ von Karine Tuil.

Andere Hintergründe im Roman wird man nur verstehen, wenn man sich ein wenig mit Frankreich auskennt, so die „Grandes Écoles“ unter den Universitäten, die quasi als Automatismus eine Karriere in Politik und Wirtschaft versprechen, und das spezielle Schulsystem mit den stark konkurrierenden vorbereitenden Gymnasien – aber andererseits werfen internationale Studien Deutschland vor, unterdurchschnittlich wenige Studenten hervorzubringen, die aus Nicht-Akademiker-Familien stammen (stimmt, das ist schon insgesamt etwas anderes, „normale“ Universitäten haben die Franzosen auch noch – und diese „besonderen“ Universitäten haben wir hier nicht, die Bedeutung von Rankings ist geringer, die Privat-Unis finden den Vergleich eher mit dem US-System). Lässt man das außen vor, liest sich das Buch nicht nur als „französische“ Gesellschaftsstudie, sondern durchaus als eine der westlichen Gesellschaftssysteme, bei der vielleicht die Eltern von Osman bei einem britischen Autor aus Indien kämen, bei einem deutschen Autor aus der Türkei, etc.

Immer noch fasziniert mich das Ende – sehr geschickt, bei allen zwischendurch oft sehr ernüchternden Aussagen. Es bleibt, über einige von ihnen nachzudenken: „Die meisten Menschen ziehen die Bequemlichkeit dem Risiko vor, … weil sie Angst vor einer Veränderung oder einem Scheitern haben, dabei müssten sie am meisten Angst vor einem vergeudeten Leben haben.“ S. 496

Meine Empfehlung als Folgebuch:
James Finn Garner: Politically Correct Bedtime-Stories (Märchen in „politisch-korrekt-Sprech“ – da sind „Zwerge“ stattdessen „vertically handicapped“ – sehr entlarvend und damit durchaus adäquat zu einem Zitat aus Tuil: „In unserer Gesellschaft ist etwas sehr Ungesundes im Gange, alles wird durch den Blickwinkel der Identität betrachtet.“ S. 285

alternativ werde ich selbst in den Büchern stöbern, die Paul Vély zum Trauern empfiehlt:
Rainer Maria Rilke „Du musst das Leben nicht verstehen“
Joan Didion „Das Jahr magischen Denkens“
Roland Barthes „Tagebuch der Trauer“
Jorge Semprún „Schreiben oder Leben“ mit dem schönen Zitat „Das Leben war noch lebbar. Es genügte zu vergessen, es mit Bestimmtheit, brutal zu beschließen.“ S. 487

Veröffentlicht am 03.04.2017

"Gute Nacht, Jonas"

Ein fauler Gott
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Jonas ist gestorben, er wurde nur acht Jahre alt – jetzt ist sein Bruder Ben, 11, ein Einzelkind. Aus der kindlichen Sicht von Ben im Wechsel mit der von seiner Mutter Ruth beschreibt Autor Stephan Lohse ...

Jonas ist gestorben, er wurde nur acht Jahre alt – jetzt ist sein Bruder Ben, 11, ein Einzelkind. Aus der kindlichen Sicht von Ben im Wechsel mit der von seiner Mutter Ruth beschreibt Autor Stephan Lohse das Leben danach, erlaubt aber auch durch eingestreute Rückblicke Einblicke in das Leben davor. Das ist nicht „noch so ein Buch über einen Sterbenden oder Todkranken“, es geht vielmehr darum, wie die „Überlebenden“ mit einem eher plötzlichen und völlig unerwarteten Tod umgehen. Die Handlung ist in den 70ern angesiedelt, mit Rex Gildo und Grastapete, Mark Spitz und Cordsamt.

Der Leser wechselt zwischen der Perspektive von Ruth und Ben, stets in der dritten Person. Ben sieht vieles noch sehr kindlich – trifft aber damit mich persönlich wesentlich unmittelbarer, weil viele der für ihn verwendeten Bilder so zielsicher Emotionalität vermitteln: „Der Platz hinter seiner Nase ist durchs Weinen gewachsen und stößt von innen gegen seine Augen. Eigentlich müsste er aufstehen. Doch er traut sich nicht. Gestern ist sein Bruder gestorben.“ S. 7 Der Autor findet wiederkehrende Bilder für Bens Verzweiflung, sein Erstarren, wie das Wachs im Körper oder Bens „innere Regale“, die in Unordnung geraten. Mutter Ruth muss sich neben dem schlimmsten, das Eltern widerfahren kann, mit den Anforderungen für das Weiter-Leben auseinandersetzen, dabei wird sie nicht von den Plattitüden ihrer Umwelt verschont: „Den eigenen Tod sterben wir, den unserer Kinder müssen wir leben“ S. 102

Der Debütroman ist mit sprachlich schönen Bildern geschrieben, wechselt gekonnt zwischen den Sichten der Erwachsenen und des Kindes und ist in der Lage, aus beiden Blickwinkeln Bedeutung auch zwischen den Zeilen zu transportieren, beispielsweise zur Rolle des Vaters Hans in den Erinnerungen der Mutter: „Während sie erst Ben, später Jonas fütterte, wickelte und badete, wartete Hans darauf, dass die Kinder sprechen lernten. Sobald sie es konnten, unterwies er sie darin, einen Bissen fünfzehn Mal zu kauen, die Schönheit eines herbstlich verfärbten Blattes zu würdigen oder dem Gesang eines Dompfaffs zu lauschen.“ S. 147 Der Autor setzt hier nicht nur auf Tragik, zu sehr geht gerade für den Jungen am Rande der einsetzenden Pubertät das Leben weiter, dadurch wirken die Komik und Tragikomik aus vielen der kindlichen Betrachtungen auf mich jedoch noch stärker: so reagiert der Vater von Bens bestem Freund auf seine Verkleidung als Mexikaner in Bens Wahrnehmung mit so etwas wie „Viva Zahnpasta“ S. 108 oder es wird beim Brand während Bens Kur-Aufenthalt von den erwachsenen Betreuerinnen, den „Tanten“, eher sinnlos agiert:
"Tante Regine rettet eine Sahnetorte." S. 170.

Durch das beschriebene Wechselspiel hatte das Buch auf mich eine sehr berührende Wirkung – ging mir aber schlicht teils so nah, dass ich oft Pausen setzen musste. Da ich das Buch in einer Leserunde gelesen habe, war es interessant, die Reaktionen anderer hierzu zu beobachten; ich vermute, dass – unabhängig vom Alter der Lesenden – die Nachvollziehbarkeit der oft eher absurden Reaktionen auf den Tod sowohl von Betroffenen als auch der Umwelt eher dort gegeben ist, wo eigene Erfahrungen bestehen. Das ist nicht wertend gemeint, eher als Hinweis für oder gegen die Lektüre (ich empfehle die Leseprobe); ich fühlte mich bereichert, auch und vielleicht gerade weil mir einiges fast ZU nah ging, und das, ohne dass es bei mir um ein Kind ging. Vermutlich muss ich hier jedoch DIE Warnung aussprechen, die ich sonst bei Krimis und Thrillern mache: dieses Buch könnte empfindsame Personen eventuell überfordern (und sollte dann eher „später“ gelesen werden).

Dabei ist gerade die Mutter zu Beginn sehr einfühlsam bei der Vermittlung des Unfassbaren an Ben „Dass sie glaubt, dass Gott nach Hilfe gesucht und sich für Jonas entschieden hat.“ S. 8 Der Titel ist vielleicht etwas unglücklich gewählt, da er hier die kindliche Reaktion Bens auf das Handeln Gottes widerspiegelt, jedoch dabei gläubige Leser eher verstören könnte, völlig unnötigerweise.

Eine Schwäche mag sein, dass Lesern, die nicht die Bundesrepublik der 70er Jahre erlebt haben, einige Bilder und Referenzen fremd bleiben dürften; ich habe mit Vergnügen die Bücher im Schuhgeschäft mit dem Wappentier des Firmengründers als Lurchis Abenteuer erkannt oder das Lied des Hundes über die Miezekatze https://www.youtube.com/watch?v=yW0gCjiFyFg
Von mir 6 Punkte von 5.

Folgebuch: den plötzlichen und unerwarteten Verlust, jedoch nicht den eines Kindes, sondern seiner Lebensgefährtin beschreibt Tom Malmpquist im gleichermaßen aktuellen „In jedem Augenblick unseres Lebens“. Da es sich hier um eine autobiographische Geschichte handelt (im Gegensatz zu „Ein fauler Gott“), sei hier erlaubt, zu verraten, dass mit dem Tod hier der (erfolgreiche) Not-Kaiserschnitt der gemeinsamen Tochter einher geht. Daraus erklärt sich die Motivation dieses Buches, in diesem Zusammenhang wählt der Autor dort eine völlig andere Textform und wirkt vor allem in der Darstellung von Emotionen völlig anders als speziell der Ben in der fiktiven Geschichte.

Veröffentlicht am 01.04.2017

„nur wer gar nichts muss, ist frei“

Drei Meter unter Null
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Ich bin fast in meine Lautsprecher hineingekrochen (ich hatte die Audio-CDs der ungekürzten Lesung) und wurde mehrfach von einer kompletten 180°-Wendung völlig überrascht. Ich schreibe direkt und noch ...

Ich bin fast in meine Lautsprecher hineingekrochen (ich hatte die Audio-CDs der ungekürzten Lesung) und wurde mehrfach von einer kompletten 180°-Wendung völlig überrascht. Ich schreibe direkt und noch völlig unter dem Eindruck dieser Buchentdeckung. Wer wie ich derart viele Krimis und Thriller liest und hört, findet fast immer das „Haar in der Suppe“. Das hier ist anders – doch was ist es überhaupt, ein Krimi, ein Thriller, ein psychologisches Drama? Irgendwas von allem davon. Hier ist nichts so, wie es zunächst zu sein scheint.

„Mein neues Ziel ist weniger Beruf als Berufung: Ich werde Mörderin“ – zu Beginn war ich fasziniert und gelegentlich abgestoßen von der lange namenlosen Ich-Erzählerin. Zu Beginn habe ich überlegt, ob hier eine psychische Störung vorliegen könne, und, wenn ja, welche. Zu Beginn fragte ich mich, wie ein Text, bei dem doch von Anfang an gesagt wird, um was es geht, über 5 CDs, 6 ½ Stunden, als Buch gut 250 Seiten tragen soll. Zu Beginn spekulierte ich, was an jenem Donnerstag geschehen war, das alles änderte – zu Beginn glaubte ich nicht, dass da wirklich ein Anstoß nötig gewesen war für etwas, das doch schon länger angelegt schien seit dem Kindergarten, dem Urlaub an der Ostsee, dem Studenten. Weit gefehlt.

Schon allein die Schilderung der Vorbereitungen und die Schilderung der Taten in der ersten Hälfte des Romans übten eine starke sogartige Wirkung auf mich aus, verstärkt noch durch den fulminanten Vortrag durch Anna Thalbach – oft atemlos, dann vortastend, eskalierend, explodierend. Hermann. Karl. Manfred. Das ist der Plan. Doch was dann passiert – Autorin Marina Heib baut das geschickt auf, mit einer Umkehrung der Reihenfolge, dem hinteren Teil nach vorne gezogen, wäre das schon ungewöhnlich, so ist es aber geradezu grandios.

Die übliche Warnung: was hier passiert, könnte empfindliche Gemüter schockieren, wobei man vermutlich bei Erreichen der entsprechenden Textstellen bereits ohne offensichtliche „Schock-Trigger“ ohnehin schon im Schockmodus ist. Mich störte eher besonders im Anfang die bei sonst guter Sprache teils recht vulgäre Ausdrucksweise etwa „seinen Schwanz in mich würde stoßen können, als wäre meine Möse das Tor zu Camelot“, Schwamm drüber, es geht vorbei und passt irgendwie zu der Ich-Erzählerin, hätte es für mich aber nicht gebraucht.

Richtig heftig wird „Drei Meter unter Null“ ohnehin noch einmal, wenn man am Ende des Buches allein gelassen wird – und über die mögliche Zukunft nachdenken darf.
6 Sterne von 5. Ernsthaft.

Was hat Frau Heib sonst noch geschrieben?