"Gute Nacht, Jonas"
Jonas ist gestorben, er wurde nur acht Jahre alt – jetzt ist sein Bruder Ben, 11, ein Einzelkind. Aus der kindlichen Sicht von Ben im Wechsel mit der von seiner Mutter Ruth beschreibt Autor Stephan Lohse ...
Jonas ist gestorben, er wurde nur acht Jahre alt – jetzt ist sein Bruder Ben, 11, ein Einzelkind. Aus der kindlichen Sicht von Ben im Wechsel mit der von seiner Mutter Ruth beschreibt Autor Stephan Lohse das Leben danach, erlaubt aber auch durch eingestreute Rückblicke Einblicke in das Leben davor. Das ist nicht „noch so ein Buch über einen Sterbenden oder Todkranken“, es geht vielmehr darum, wie die „Überlebenden“ mit einem eher plötzlichen und völlig unerwarteten Tod umgehen. Die Handlung ist in den 70ern angesiedelt, mit Rex Gildo und Grastapete, Mark Spitz und Cordsamt.
Der Leser wechselt zwischen der Perspektive von Ruth und Ben, stets in der dritten Person. Ben sieht vieles noch sehr kindlich – trifft aber damit mich persönlich wesentlich unmittelbarer, weil viele der für ihn verwendeten Bilder so zielsicher Emotionalität vermitteln: „Der Platz hinter seiner Nase ist durchs Weinen gewachsen und stößt von innen gegen seine Augen. Eigentlich müsste er aufstehen. Doch er traut sich nicht. Gestern ist sein Bruder gestorben.“ S. 7 Der Autor findet wiederkehrende Bilder für Bens Verzweiflung, sein Erstarren, wie das Wachs im Körper oder Bens „innere Regale“, die in Unordnung geraten. Mutter Ruth muss sich neben dem schlimmsten, das Eltern widerfahren kann, mit den Anforderungen für das Weiter-Leben auseinandersetzen, dabei wird sie nicht von den Plattitüden ihrer Umwelt verschont: „Den eigenen Tod sterben wir, den unserer Kinder müssen wir leben“ S. 102
Der Debütroman ist mit sprachlich schönen Bildern geschrieben, wechselt gekonnt zwischen den Sichten der Erwachsenen und des Kindes und ist in der Lage, aus beiden Blickwinkeln Bedeutung auch zwischen den Zeilen zu transportieren, beispielsweise zur Rolle des Vaters Hans in den Erinnerungen der Mutter: „Während sie erst Ben, später Jonas fütterte, wickelte und badete, wartete Hans darauf, dass die Kinder sprechen lernten. Sobald sie es konnten, unterwies er sie darin, einen Bissen fünfzehn Mal zu kauen, die Schönheit eines herbstlich verfärbten Blattes zu würdigen oder dem Gesang eines Dompfaffs zu lauschen.“ S. 147 Der Autor setzt hier nicht nur auf Tragik, zu sehr geht gerade für den Jungen am Rande der einsetzenden Pubertät das Leben weiter, dadurch wirken die Komik und Tragikomik aus vielen der kindlichen Betrachtungen auf mich jedoch noch stärker: so reagiert der Vater von Bens bestem Freund auf seine Verkleidung als Mexikaner in Bens Wahrnehmung mit so etwas wie „Viva Zahnpasta“ S. 108 oder es wird beim Brand während Bens Kur-Aufenthalt von den erwachsenen Betreuerinnen, den „Tanten“, eher sinnlos agiert:
"Tante Regine rettet eine Sahnetorte." S. 170.
Durch das beschriebene Wechselspiel hatte das Buch auf mich eine sehr berührende Wirkung – ging mir aber schlicht teils so nah, dass ich oft Pausen setzen musste. Da ich das Buch in einer Leserunde gelesen habe, war es interessant, die Reaktionen anderer hierzu zu beobachten; ich vermute, dass – unabhängig vom Alter der Lesenden – die Nachvollziehbarkeit der oft eher absurden Reaktionen auf den Tod sowohl von Betroffenen als auch der Umwelt eher dort gegeben ist, wo eigene Erfahrungen bestehen. Das ist nicht wertend gemeint, eher als Hinweis für oder gegen die Lektüre (ich empfehle die Leseprobe); ich fühlte mich bereichert, auch und vielleicht gerade weil mir einiges fast ZU nah ging, und das, ohne dass es bei mir um ein Kind ging. Vermutlich muss ich hier jedoch DIE Warnung aussprechen, die ich sonst bei Krimis und Thrillern mache: dieses Buch könnte empfindsame Personen eventuell überfordern (und sollte dann eher „später“ gelesen werden).
Dabei ist gerade die Mutter zu Beginn sehr einfühlsam bei der Vermittlung des Unfassbaren an Ben „Dass sie glaubt, dass Gott nach Hilfe gesucht und sich für Jonas entschieden hat.“ S. 8 Der Titel ist vielleicht etwas unglücklich gewählt, da er hier die kindliche Reaktion Bens auf das Handeln Gottes widerspiegelt, jedoch dabei gläubige Leser eher verstören könnte, völlig unnötigerweise.
Eine Schwäche mag sein, dass Lesern, die nicht die Bundesrepublik der 70er Jahre erlebt haben, einige Bilder und Referenzen fremd bleiben dürften; ich habe mit Vergnügen die Bücher im Schuhgeschäft mit dem Wappentier des Firmengründers als Lurchis Abenteuer erkannt oder das Lied des Hundes über die Miezekatze https://www.youtube.com/watch?v=yW0gCjiFyFg
Von mir 6 Punkte von 5.
Folgebuch: den plötzlichen und unerwarteten Verlust, jedoch nicht den eines Kindes, sondern seiner Lebensgefährtin beschreibt Tom Malmpquist im gleichermaßen aktuellen „In jedem Augenblick unseres Lebens“. Da es sich hier um eine autobiographische Geschichte handelt (im Gegensatz zu „Ein fauler Gott“), sei hier erlaubt, zu verraten, dass mit dem Tod hier der (erfolgreiche) Not-Kaiserschnitt der gemeinsamen Tochter einher geht. Daraus erklärt sich die Motivation dieses Buches, in diesem Zusammenhang wählt der Autor dort eine völlig andere Textform und wirkt vor allem in der Darstellung von Emotionen völlig anders als speziell der Ben in der fiktiven Geschichte.