Achtung: ich habe die optisch sehr ähnliche Original-TB-Ausgabe gelesen
Was für ein phantastisches Buch, diese Mischung aus Briefroman, Geschichtsbuch, Autobiographie, Familiengeschichte, Weltgeschichte und quasi von einem „Ghostwriter“ verfasster Biographie. Dieser „Quasi-Ghostwriter“ ist Vikram Seth, einer der wichtigsten aktuellen indischen Autoren. Die Geschichte ist die seiner Familie ebenso wie die seines Großonkels Shanti (1908-1998) und dessen Frau Henny (1908-1989), die dieser in London nach dem Zweiten Weltkrieg geheirat hatte. Shanti lebte in Deutschland als Untermieter bei Hennys Familie, um dort zwischen den Weltkriegen Zahnmedizin zu studieren, ähnlich wie später der Autor bei Shanti und Henny in London lebte, während er zur Ausbildung in England war. Autor Seth spannt einen weiten Bogen:
wir lesen über die eher gut situierte Familie des Autors in Indien, in der weibliche Erziehung wichtig ist und Familie alles. Familien sind größer, als wir das gewohnt sind, so berichtet der Autor von einer Ferienfahrt: „In Berne, I stayed with an Indian diplomat, who was my mother’s brother’s wife’s brother’s wife’s father, and therefore ‘family‘ in the Indian sense.“ p. 17 Einiges befremdete: So wurde der Autor als Kleinkind problemlos (?) für ein Jahr der Großmutter überlassen, da die Eltern beruflich abwesend sein mussten, wobei man einander durchaus sehr liebevoll zugetan ist. Ebenso haben die Eltern des Autors ein eigenes Kind zur Adoption an Verwandte gegeben, die wegen eines Gendefektes, der schon mehrere von deren Kindern getötet hatte, kein weiteres leibliches Kind riskieren wollten. Faszinierend auch die Darstellung des Lebens im Berlin der Zwanziger Jahre, als Onkel Shanti dort zum Zahnarzt ausgebildet wird bis zu Machtergreifung und Olympischen Spielen 1936 ; später praktiziert er in Großbritannien.
Von der Geschichte Indiens zwischen britischer Herrschaft über Freiheitsbestrebungen bis zum Mord an Indira Gandhi liest man, später viel über den Zweiten Weltkrieg; Shanti Seth hatte sich freiwillig gemeldet und ist als Zahnarzt stationiert vom Sudan bis nach Italien. Ressentiments gerade von britischer Seite scheint ihm selten widerfahren zu sein, ein Vorkommnis pariert er: auf das herablassende Verhalten entgegnet er „In Roman times, people in the army were sent to Britain as a punishment“ p. 121
Selten hat mich eine derartig detailreiche Darstellung historischer Ereignisse so in den Bann gezogen, wie es der Autor hier vermag. Sein „Trick“ besteht in bestimmten Perspektivwechseln: Mit seinem Onkel führte er lange Interviews, lässt dessen Aussagen als Ich-Erzählung wechseln mit Hintergrundinformationen, seien es Zitate oder Zusammenfassungen aus Sachbüchern, Quellentexte oder eigenen Bemerkungen. Dadurch trifft er für mich perfekt die Balance aus persönlich (berührend und unmittelbar) und sachlich (faktenreich ohne Schulbuchcharakter). Während des Sturm verliert Zahnarzt Shanti seinen rechten Arm, kämpft sich aber über den Umweg eines Vertreters für Dentalprodukte wieder in seinen Beruf zurück; sein Vorbild ist ein ebenfalls amputierter praktizierender Kollege, der ihm schreibt: „Most upper extractions are easy & the difficult ones would still be difficult if you had as many arms as an Octupus. …Practise on your relations at home“ p 172
Shantis geliebte Frau Henny, Tochter seiner Zimmerwirtin, jedoch war nicht nur gebürtige Deutsche – ihre Familie war jüdisch. Ihre Mutter und Schwester starben in Konzentrationslagern. Als Autor Seth dieses Buchprojekt aufnahm, hatte er nur seinen Onkel als mündlichen Zeugen. Als er von seiner Tante nachgelassene Briefe findet, arbeitet er auch dieses sehr genaue Bild, das sich daraus von seiner Tante und der Situation im Nachkriegseuropa zeichnen lässt, mit ein. Durch ein Verweben der Aussagen von Zeitzeugen, den wenigen Briefen, offiziellen Dokumenten und Sachbuchinformationen beschreibt er sehr bewegend, wie die letzten Tage von Hennys Familie vermutlich abgelaufen sind, etwas, das ich so noch nicht gelesen hatte und das mich sehr berührte. Später setzt sich Henny stark mit ihrem alten Freundeskreis auseinander über Nazi- und Nachkriegsdeutschland, diskutiert über Verantwortung, Unterlassen, Wegsehen und Unterstützung. Auch das Leben in der Nachkriegszeit in Deutschland, England und versprengt an noch weitere Orte kann man mit Lebensmittelrationierung, kalten Wintern und Stromabschaltung beidseits des Ärmelkanals hautnah miterleben. Und so erklärt sich der Titel „Two Lives“, auch wenn Henny und Shanti 38 Jahre (seit 1951) miteinander verheiratet waren und noch viel länger Freunde (56 Jahre); sie bleiben doch zwei Individuen. Zwei Leben.
Henny ist in vielem wohl die komplexere Persönlichkeit, ordentlich, kontrolliert – eher eine sehr gute und einfühlsame Freundin für viele als von großer Zärtlichkeit oder Leidenschaft. Vieles scheint sie eher mit selbst auszumachen, ob als genereller Charakterzug oder wegen des Erlebten.
Falls möglich, empfehle ich die Lektüre des englischsprachigen Originals – der Autor hat, wie zuvor sein Onkel, deutsch gelernt für sein Studium. Die Konversation wechselt zwischen den Sprachen, neben vielen Fotos enthält das Buch auch Kopien von Original-Briefen und häufig Mutmaßungen oder Erklärungen zu bestimmten Begriffen für den englischsprachigen Leser, die einfach für einen Deutschen, der das Original liest, so viel aussagekräftiger sind bezüglich der Einschätzungen eines Nicht- Muttersprachlers zu unseren Begriffen wie „Heimat“, „innig“ (unübersetzbar) oder speziell zu deutscher Geschichte.
Als einzige Verunsicherung bleibt nach der Lektüre die Einschätzung des kurzen letzten fünften Kapitels über Irritationen infolge des Testaments von Onkel Shanti und gewisse Widersprüchlichkeiten (Verwirrtheit?) seiner letzten Monate. Der Autor scheint für sich Ruhe gefunden zu haben mit der schriftlichen Niederlegung. „Behind every door on every ordinary street, in every hut in every ordinary village on this middling plant of a trival star, such riches are to be found. The strange journey we undertake on our earthly pilgrimage, the joy and suffering we taste or confer, the chance events that cleave us together or apart, what a complex trace they leave: so personal as to be almost incommunicable, so fugitive as to be almost irrecoverable.“ p 498