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Veröffentlicht am 19.11.2016

„Ein Narr und sein Geld sind bald entzweit“

Tulpenfieber
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(Titel ist ein Zitat von S. 170)

Ich hatte mir einen stärker literarischen Roman versprochen – dieser bewegt sich für mich (zu) unentschlossen zwischen Liebesroman (zu nüchtern), historischem Roman (wobei ...

(Titel ist ein Zitat von S. 170)

Ich hatte mir einen stärker literarischen Roman versprochen – dieser bewegt sich für mich (zu) unentschlossen zwischen Liebesroman (zu nüchtern), historischem Roman (wobei die Zeit für mich eher Kulisse blieb; die Handlung würde so ähnlich in jeder Zeit funktionieren), Roman über Maler der Zeit (wie könnte es zu diesem oder jenem Werk gekommen sein; was bewegte die Maler) und Abenteuerroman (zu viel vom anderen). Mein „Role Model“ war Tulpenwahn von Mike Dash über die erste Spekulationsblase der Neuzeit, das hätte ich mir weniger als Sachbuch denn als anspruchsvolleren Roman umgesetzt gewünscht. Bekommen habe ich eher einen Schmöker.

Die Handlung ist 1635, in der Zeit dieser aufgeheizten Spekulation, in Amsterdam angesiedelt – zu einer Zeit, in der Tulpen mehr Wert waren als ganze Häuser. Die Protagonisten sind zwei Frauen, beide 24 Jahre alt: Da ist Sophia, aus der Verarmung ihrer Familie in die Ehe geflüchtet mit dem 61 Jahre alten erfolgreichen Kaufmann Cornelis, der sie abgöttisch liebt. Und da ist ihre Dienstmagd Maria, ein zupackendes und fest mit den Beinen auf dem Boden stehendes Bauernmädchen, verliebt in den Fischhändler Willem.

Als der Maler Jan van Loos von Cornelis den Auftrag erhält, ihn und Sophia zu porträtieren, nimmt eine Leidenschaft ihren Anfang, die beide Paare mitreißt in einen Strudel aus Enttäuschung, Lügen und Betrug. Das lässt sich über lange Strecken sogar recht spannend lesen – vermutlich tun hier die meist sehr kurzen Kapitel, oft nur eine Doppelseite oder weniger, ihr übriges, sie sind jeweils einem der Protagonisten oder weiteren Randfiguren zugeordnet und treiben so die Handlung voran, schaffen aber auch eine gewisse Unruhe; man kann sich nicht länger auf eine Person einlassen. Über lange Strecken – mich interessierte es aber irgendwann nicht mehr. Ich hatte nicht das Gefühl, etwas über die Zeit gelernt zu haben, fand keine tiefere Bedeutung in der Geschichte (na ja, S. 170 „Ein Narr und sein Geld sind bald entzweit“ – aber das ist so neu nicht) und konnte der weiteren Entwicklung der Hauptfiguren zum Schluss nichts abgewinnen. Die Sprache des Romans war immerhin schön, Deborah Moggach hat sich viel Arbeit gemacht mit dem Sammeln von Zitaten zu Beginn vieler Kapitel und bietet auch angenehme Sätze wie „Die Zeit kann sich ausdehnen und zusammenziehen. Wir horten sie wie Geizhälse oder beobachten, wie sie verfliegt, wie Krumen beim Ausschütteln eines Tuchs.“ S. 145

Veröffentlicht am 04.11.2016

Recht solide mit sympathischer Pathologin

Mooresschwärze: Thriller
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Pathologin Julia Schwarz ist die Hauptfigur in diesen Ermittlungen, die sich um den Fund einer frischen Moorleiche ergeben – ein wenig entspricht sie wegen eines traumatischen Ereignisses, das ihrer Familie ...

Pathologin Julia Schwarz ist die Hauptfigur in diesen Ermittlungen, die sich um den Fund einer frischen Moorleiche ergeben – ein wenig entspricht sie wegen eines traumatischen Ereignisses, das ihrer Familie in ihrer Kindheit widerfuhr, dem Klischee der traumatischen Ermittlerin, aber immerhin fühlt man sich angesichts ihrer Essensgewohnheiten gleich viel vorbildlicher. Ich mag ja die ermittelnden Pathologen des Genres und mit ihr findet ihre Schöpferin, Autorin Catherine Shepard, auch eine Gelegenheit, deren gelegentliche Anwesenheit außerhalb von Leichenfundort, Seziertisch und Bericht an die eigentlichen Ermittler zu begründen: „Nur wenn man den Tatort kannte, sich plastisch vorstellen konnte, wie ein Täter vorgegangen war, konnte man die vielen Zeichen auf einem toten Körper richtig interpretieren.“ S. 243

Zeichen auf einem toten Körper gibt es hier viele – wenn man sie den interpretieren könnte und wenn, ja wenn man etwas zum Interpretieren hätte… Doch es wird nicht bei einer Leiche bleiben. Polizist Florian übernimmt hier nicht nur das „Catering“ für seine medizinische Kollegin, er bindet sie auch ungewöhnlich stark in die Ermittlungen ein. Und welche Bedeutung hat die stets eingeschobene Nebenhandlung um das junge Mädchen, das sich auf einen Chatpartner einlässt, bei dem beim Leser alle Alarmglocken schrillen?

Der Autorenname Catherine Shepard ist das Pseudonym für den deutschen Namen der Autorin in direkter Übersetzung, sie hat als Selfpublisherin begonnen und so erscheint dieser Roman als Taschenbuch im von ihr gegründeten Verlag; mit einigen Werken ist sie inzwischen zu Piper gewechselt. „Mooresschwärze“ ist mein erstes Buch von ihr, ich fand das Taschenbuch und die Handlung im Großen und Ganzen ordentlich, dabei, hm, durchaus spannend, aber nicht immer „thrillend“. Sprachlich ist das Buch vernünftig lektoriert bis auf gelegentliche, seltene Anwandlungen wie die Baumwurzeln, die „…jetzt quer über dem Weg lagen wie knorrige Störenfriede, die jeden Besucher des Waldes verweisen wollten.“ S. 159. Wenn die Autorin da ihren gezeichneten Bildern vertrauen würde, statt sich zu erklären, wäre ihr der gleiche Effekt besser gelungen, aber, da selten, Schwamm drüber.

Die übliche Warnung bei jedem Buch dieses Genres: nein, es geht hier nicht um einen Sadisten oder Sexualsadisten; ich mag jedoch für die, die diese Art von Buch meiden wollen, dennoch keine Entwarnung geben, da die spezielle Ausrichtung der Taten bestimmte Untersuchungen und Handlungen beinhaltet, die für hier empfindliche Personen eher grenzwertig sein dürften (das klingt umständlich, weil ich sonst „spoilere“). Die eigentliche Handlung hat hier übrigens „nur“ 320 Seiten, der Rest bezieht sich auf weitere Bücher im Sinne von „Werbung“ (gerne, aber hier ein Tick zu viel).

Insgesamt gerne gelesen und auch bei Gelegenheit wieder, daher so …3,7 Sterne aufgerundet (wer bei mir schaut: schwächer als Philippe Georget „Rabenschwarzer Winter“ und mir stilistisch lieber als Jörg Maurer „Schwindelfrei ist nur der Tod“, wobei dessen Jennerwein so etwas eigenes hat, was mir hier noch fehlt).

Veröffentlicht am 31.10.2016

„Sei brav, mein Schmerz, und lass mir etwas Ruhe.“ (Baudelaire) S. 245

Rabenschwarzer Winter
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Christine betrügt ihren Mann Stéphane
Gilles wird von seiner Frau Claire betrogen.
Christine wird ermordet. Gilles ist Lieutenant bei der Polizei und ermittelt – irgendwie lässt ihn das nicht ganz unbeteiligt.

Jaaaa ...

Christine betrügt ihren Mann Stéphane
Gilles wird von seiner Frau Claire betrogen.
Christine wird ermordet. Gilles ist Lieutenant bei der Polizei und ermittelt – irgendwie lässt ihn das nicht ganz unbeteiligt.

Jaaaa – bitte, genau SO! Ein Krimi ist das, gut geschrieben, spannend, dabei aber keine Sadisten, Folterszenen oder sexuelle Perversionen. Ein Frankreich-Krimi ist das, der wirklich von einem Franzosen geschrieben wurde – über eine nicht so offensichtliche Region wie die Provence. Gute Sprache ist das, auch über einen Ermittler mit persönlichen Problemen – nein, KEIN beschädigter Ermittler, viel banaler: Gilles Sebag hat herausgefunden, dass seine langjährige Ehefrau ihn betrogen hat, die Affäre ist bereits vorbei. Daran leidet er, darunter leidet seine Arbeit. Den Kummer ertränkt er in Alkohol, in Fragespielchen mit seiner Frau, die doch nur beide schmerzen. "Wenn du bei mir bist, wie jetzt, dich an mich geschmiegt, dann schaffe ich es, nur an uns beide zu denken. Aber sobald du dich von mir entfernst, selbst nur ein paar Zentimeter, kann ich nicht anders: Ich denke an euch.“ S. 171

Und gerade, während Gilles so damit ringt, dass ihm der sicher geglaubte Boden unter den Füßen weg gezogen wurde, scheint es in den Fällen um ihn herum nur noch um Ehebruch zu gehen, mit fatalen Folgen. Ein Ehemann erschießt seine Frau in dem Hotel, in dem ihr Liebhaber sie gerade zurück gelassen hat. Ein anderer Ehemann stürzt sich aus dem fünften Stock, weil seine Frau sich – platonisch, wie sie versichert – mit einem anderen trifft. Sonst helfen seine Sprichwörter ihm „Man erholte sich besser von Liebeskummer als von verletztem Stolz.“ S. 168, aber diesmal ist Gilles mehr als sonst angewiesen auf die Zusammenarbeit mit seinen Kollegen – denn an diesen Fällen stimmt etwas nicht…

Autor Philippe Georget hat hier seinen dritten Band um den französischen Polizisten Gilles Sebag angesiedelt im Roussillon – ich konnte ohne Kenntnis der Vorgängerbände folgen. Der Regionalkrimi-Charakter ist eher weniger ausgeprägt, dafür gefiel mir die psychologische Tiefe bei der Darstellung von Sebags Dilemma. Weniger ein „Whodunnit“, bei dem man selbst hätte auf den Täter gekommen sein können anhand der Hinweise als mehr eine Begleitung von Ermittlern bei ihrer Arbeit an mehreren Fällen ohne große Dramatik, dabei dennoch fesselnd – was ich als angenehm empfand. Gerne mehr!

Veröffentlicht am 31.10.2016

„the importance of looking forward as well as remembering the past“ (p. 499)

Zwei Leben
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Achtung: ich habe die optisch sehr ähnliche Original-TB-Ausgabe gelesen

Was für ein phantastisches Buch, diese Mischung aus Briefroman, Geschichtsbuch, Autobiographie, Familiengeschichte, Weltgeschichte ...

Achtung: ich habe die optisch sehr ähnliche Original-TB-Ausgabe gelesen

Was für ein phantastisches Buch, diese Mischung aus Briefroman, Geschichtsbuch, Autobiographie, Familiengeschichte, Weltgeschichte und quasi von einem „Ghostwriter“ verfasster Biographie. Dieser „Quasi-Ghostwriter“ ist Vikram Seth, einer der wichtigsten aktuellen indischen Autoren. Die Geschichte ist die seiner Familie ebenso wie die seines Großonkels Shanti (1908-1998) und dessen Frau Henny (1908-1989), die dieser in London nach dem Zweiten Weltkrieg geheirat hatte. Shanti lebte in Deutschland als Untermieter bei Hennys Familie, um dort zwischen den Weltkriegen Zahnmedizin zu studieren, ähnlich wie später der Autor bei Shanti und Henny in London lebte, während er zur Ausbildung in England war. Autor Seth spannt einen weiten Bogen:

wir lesen über die eher gut situierte Familie des Autors in Indien, in der weibliche Erziehung wichtig ist und Familie alles. Familien sind größer, als wir das gewohnt sind, so berichtet der Autor von einer Ferienfahrt: „In Berne, I stayed with an Indian diplomat, who was my mother’s brother’s wife’s brother’s wife’s father, and therefore ‘family‘ in the Indian sense.“ p. 17 Einiges befremdete: So wurde der Autor als Kleinkind problemlos (?) für ein Jahr der Großmutter überlassen, da die Eltern beruflich abwesend sein mussten, wobei man einander durchaus sehr liebevoll zugetan ist. Ebenso haben die Eltern des Autors ein eigenes Kind zur Adoption an Verwandte gegeben, die wegen eines Gendefektes, der schon mehrere von deren Kindern getötet hatte, kein weiteres leibliches Kind riskieren wollten. Faszinierend auch die Darstellung des Lebens im Berlin der Zwanziger Jahre, als Onkel Shanti dort zum Zahnarzt ausgebildet wird bis zu Machtergreifung und Olympischen Spielen 1936 ; später praktiziert er in Großbritannien.

Von der Geschichte Indiens zwischen britischer Herrschaft über Freiheitsbestrebungen bis zum Mord an Indira Gandhi liest man, später viel über den Zweiten Weltkrieg; Shanti Seth hatte sich freiwillig gemeldet und ist als Zahnarzt stationiert vom Sudan bis nach Italien. Ressentiments gerade von britischer Seite scheint ihm selten widerfahren zu sein, ein Vorkommnis pariert er: auf das herablassende Verhalten entgegnet er „In Roman times, people in the army were sent to Britain as a punishment“ p. 121

Selten hat mich eine derartig detailreiche Darstellung historischer Ereignisse so in den Bann gezogen, wie es der Autor hier vermag. Sein „Trick“ besteht in bestimmten Perspektivwechseln: Mit seinem Onkel führte er lange Interviews, lässt dessen Aussagen als Ich-Erzählung wechseln mit Hintergrundinformationen, seien es Zitate oder Zusammenfassungen aus Sachbüchern, Quellentexte oder eigenen Bemerkungen. Dadurch trifft er für mich perfekt die Balance aus persönlich (berührend und unmittelbar) und sachlich (faktenreich ohne Schulbuchcharakter). Während des Sturm verliert Zahnarzt Shanti seinen rechten Arm, kämpft sich aber über den Umweg eines Vertreters für Dentalprodukte wieder in seinen Beruf zurück; sein Vorbild ist ein ebenfalls amputierter praktizierender Kollege, der ihm schreibt: „Most upper extractions are easy & the difficult ones would still be difficult if you had as many arms as an Octupus. …Practise on your relations at home“ p 172

Shantis geliebte Frau Henny, Tochter seiner Zimmerwirtin, jedoch war nicht nur gebürtige Deutsche – ihre Familie war jüdisch. Ihre Mutter und Schwester starben in Konzentrationslagern. Als Autor Seth dieses Buchprojekt aufnahm, hatte er nur seinen Onkel als mündlichen Zeugen. Als er von seiner Tante nachgelassene Briefe findet, arbeitet er auch dieses sehr genaue Bild, das sich daraus von seiner Tante und der Situation im Nachkriegseuropa zeichnen lässt, mit ein. Durch ein Verweben der Aussagen von Zeitzeugen, den wenigen Briefen, offiziellen Dokumenten und Sachbuchinformationen beschreibt er sehr bewegend, wie die letzten Tage von Hennys Familie vermutlich abgelaufen sind, etwas, das ich so noch nicht gelesen hatte und das mich sehr berührte. Später setzt sich Henny stark mit ihrem alten Freundeskreis auseinander über Nazi- und Nachkriegsdeutschland, diskutiert über Verantwortung, Unterlassen, Wegsehen und Unterstützung. Auch das Leben in der Nachkriegszeit in Deutschland, England und versprengt an noch weitere Orte kann man mit Lebensmittelrationierung, kalten Wintern und Stromabschaltung beidseits des Ärmelkanals hautnah miterleben. Und so erklärt sich der Titel „Two Lives“, auch wenn Henny und Shanti 38 Jahre (seit 1951) miteinander verheiratet waren und noch viel länger Freunde (56 Jahre); sie bleiben doch zwei Individuen. Zwei Leben.

Henny ist in vielem wohl die komplexere Persönlichkeit, ordentlich, kontrolliert – eher eine sehr gute und einfühlsame Freundin für viele als von großer Zärtlichkeit oder Leidenschaft. Vieles scheint sie eher mit selbst auszumachen, ob als genereller Charakterzug oder wegen des Erlebten.

Falls möglich, empfehle ich die Lektüre des englischsprachigen Originals – der Autor hat, wie zuvor sein Onkel, deutsch gelernt für sein Studium. Die Konversation wechselt zwischen den Sprachen, neben vielen Fotos enthält das Buch auch Kopien von Original-Briefen und häufig Mutmaßungen oder Erklärungen zu bestimmten Begriffen für den englischsprachigen Leser, die einfach für einen Deutschen, der das Original liest, so viel aussagekräftiger sind bezüglich der Einschätzungen eines Nicht- Muttersprachlers zu unseren Begriffen wie „Heimat“, „innig“ (unübersetzbar) oder speziell zu deutscher Geschichte.

Als einzige Verunsicherung bleibt nach der Lektüre die Einschätzung des kurzen letzten fünften Kapitels über Irritationen infolge des Testaments von Onkel Shanti und gewisse Widersprüchlichkeiten (Verwirrtheit?) seiner letzten Monate. Der Autor scheint für sich Ruhe gefunden zu haben mit der schriftlichen Niederlegung. „Behind every door on every ordinary street, in every hut in every ordinary village on this middling plant of a trival star, such riches are to be found. The strange journey we undertake on our earthly pilgrimage, the joy and suffering we taste or confer, the chance events that cleave us together or apart, what a complex trace they leave: so personal as to be almost incommunicable, so fugitive as to be almost irrecoverable.“ p 498

Veröffentlicht am 31.10.2016

„… der Sieg der Zivilisation über den Instinkt“ (S. 92)

Golden Boy
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Aravind Adiga hat in seinem dritten Roman „Golden Boy“ viel zu erzählen darüber, wie Menschen einander manipulieren und betrügen und damit letztlich auch sich selbst. Er schreibt über enttäuschte Träume ...

Aravind Adiga hat in seinem dritten Roman „Golden Boy“ viel zu erzählen darüber, wie Menschen einander manipulieren und betrügen und damit letztlich auch sich selbst. Er schreibt über enttäuschte Träume und Hoffnungen. „Manju kannte den Blick: Erschöpfung, die daher rührt, dass man tagein, tagaus Leute treffen muss, die mehr von einem wollen, als man ihnen geben will.“ S. 202

Mohan Kumar hat große Träume und Hoffnungen: sein älterer Sohn Radha soll der beste Schlagmann beim Cricket werden, der jüngere Manju der zweitbeste. Alles wird diesen Plänen und dem Trainingsregime untergeordnet, keine Kohlenhydrate, kein Junkfood, eiserne Disziplin – und Kontrolle über jegliche pubertären Begehrlichkeiten. Manju ist wissenschaftlich interessiert – der Vater wirft selbst Experimente für die Schule weg. „Mit seinen vierzehneinhalb Jahren war Radha klar, dass die Regeln seines Vaters, die ihm die Welt ringsum gerahmt hatten, Gefängnisgitterstäbe waren.“ S. 38 Reine Ablehnung ist hier eine zu einfache Lösung: gerade für Jungen aus den Slums, gerade innerhalb der Zersplitterung des Vielvölkerstaats Indien mit seinen Religionen und Ethnien ist der sportliche Erfolg DIE Chance auf sozialen Aufstieg – und (über-)ehrgeizige Eltern gibt es leider überall.

„Cricket ist der Sieg der Zivilisation über den Instinkt“ S. 92 Der indische Autor schreibt darüber – denn in diesem Umfeld leben seine Protagonisten, hieran machen sie diese Träume und Hoffnungen fest. Das „funktioniert“ auch für einen Leser außerhalb des Commonwealth, des „Einzugsgebietes“ für Cricket, wenngleich man natürlich wenig von den Regeln und Ritualen versteht – man kann einfach stattdessen an Fußball denken oder an American Football. In Deutschland kann man sagen, man sei beispielsweise von jemandem beruflich ins Abseits gestellt worden, einfach, weil die Fußball-Begrifflichkeit so omnipräsent ist – auch ohne die Regeln komplett nachvollziehen zu können. Die Betrügereien mit Fußballwetten finden ihr indisches Pendant. „Wir sind von uns selbst besessen, ohne an uns zu glauben – das ist genau die Definition der indischen Mittelschicht, die diesen Betrugssport eben deshalb so sehr liebt.“ S. 283

Für die begabten Brüder bietet der sportliche Erfolg eine Chance – dabei liegt die tragische Ironie durchaus auch darin, dass sie mit diesem Erfolg ihrem kontrollsüchtigen Vater entgehen können gerade INDEM sie dessen Erwartungen erfüllen. Und durch den Sport öffnen sich ihnen auch immer wieder Türen zu anderen Welten, anderen Möglichkeiten. So lernt Manju den moslemischen Cricketspieler Jarved kennen. Dieser widersetzt sich der wenn auch sanfteren Manipulation seines reichen Vaters und beendet dessen Cricketträume. „Aber was willst du denn machen, wenn du kein Cricket mehr spielst?“ fragt ihn Manju. Jarved: „Alles“ S. 198 Das sexuelle Erwachen von Manju verkompliziert die Situation, da er nicht den gesellschaftlichen Vorgaben entspricht.

Nach einem etwas schwierigeren Start in die Handlung wegen der vielen Sportbeschreibungen (einfach weiterlesen) und fremden Begriffe aus Indien (meist Regionen, Sprachen, Gerichte – einfach gelegentlich nachschlagen) konnte ich mich einlesen, mir blieb aber ein Problem: Immer, wenn einer der Charaktere mich zu berühren anfing, wechselte der Autor die Perspektive. Ich hatte ein wenig das Gefühl, als wisse er selbst nicht so sehr, ob er nun die Geschichte von einem seiner Charaktere erzählen wollte – am ehesten die von Manju – oder über die indische Gegenwart oder über das Dilemma des Erfüllens von Träumen anderer, und als trete er deshalb immer wieder in eine gewisse Distanz zu seinen Figuren. Außerdem schildert der Autor eindrucksvoll bestimmte Sachverhalte oder Ereignisse, die er später auch auflöst oder zumindest Ansätze bietet (wie Manjus „Gedankenlesen“), während er bei anderen für mich völlig diffus bleibt, ohne dass es sich um ein stilistisches Mittel zu handeln scheint (Manju und die Taube). Insgesamt also für mich kein ungetrübter Genuss wegen zu vieler offener Fäden, wobei ich sprachlich durchaus angetan war. 3,6 Punkte....