„In diesem Haus lauern überall Fallen und Schuldgefühle“
Falsche SchwesternDer Roman von Cat Clarke erschien als Taschenbuch in deutscher Übersetzung zuerst am 25. August 2016, die englische Originalausgabe erschien als Taschenbuch bereits im Vorjahr, als gebundene Ausgabe interessanterweise ...
Der Roman von Cat Clarke erschien als Taschenbuch in deutscher Übersetzung zuerst am 25. August 2016, die englische Originalausgabe erschien als Taschenbuch bereits im Vorjahr, als gebundene Ausgabe interessanterweise auch erst in diesem Jahr sogar nach der deutschen Version. Der Original-Titel lautet „The Lost and The Found“ – (Fundbüro heißt „lost and found“, ohne die Artikel). Das Buch ist bei Fischer einsortiert als Jugendbuch – die Handlung wird aus Sicht der 17jährigen Schwester eines verschwundenen Mädchens erzählt, ich halte diese Einteilung hier für etwas zu eng, es ist nicht so ein „Girlie-Buch“ oder ein „Jugendliche-sucht-Sinn“-Thema, der Blick geht auf die ganze Familie, das Umfeld (sonst wäre „Dark Memories – Nichts ist je vergessen“ von Wendy Walker oder „Vom Ende der Einsamkeit“ von Benedict Wells mit gleicher Begründung auch ein Jugendbuch).
Das Buch wird im Original als Psychothriller angepriesen –Fischer ist klüger: es geht zwar um ein Verbrechen, die Entführung der 6jährigen Tochter der Familie vor 13 Jahren durch einen Kinderschänder – aber primär um die Auswirkungen, die das langfristig auf die Familienmitglieder hatte und hat: auf die damals vier Jahre alte Schwester, die jetzt 17 Jahre alt ist, auf die Eltern, die sich bald danach getrennt haben, auf das Verhalten der Schulkameraden, der Presse, völlig Fremder. An anderer Stelle in diesem Jahr habe ich ein Buch als „Psychogramm“ bezeichnet (Wendy Walkers neues Buch) – das dürfte auch hier gut passen: wir erhalten eine Darstellung davon, wie die Personen reagieren. Die Mutter hat stets die Medien mit hinzugezogen, nie die Suche nach der Tochter aufgegeben. Der bisexuelle Vater lebt jetzt mit einem Mann zusammen, wurde angefeindet, hadert mit der Presse, mit den Unterstellungen, lebt aber weitestgehend normal. Die jüngere Tochter macht sich unsichtbar: „So geht das schon mein Leben lang: Ich bin immer im Hintergrund und irgendwie unscharf.“ S. 17 Selbst der Name von ihr, der Ich-Erzählerin, wird erst auf S. 21 genannt.
Dann passiert das, worauf die Familie gehofft hat, teils aber daran nicht mehr glaubte und das dennoch nicht zugeben durfte, wollte, konnte: Laurel taucht wieder auf, freigelassen von ihrem Entführer (ja, ein Kinderschänder – nein, praktisch keine Details). Wir erleben aus der Sicht ihrer Schwester Faith, was das bedeutet: „Ich versuche, mir vorzustellen, wie sich das anfühlen muss, wenn man nach so langer Zeit zu seiner Familie zurückkehrt. Man würde doch wollen, dass alles noch beim Alten ist, oder? Aber in 13 Jahren kann sich viel ändern. Da kann eine Mutter sich schon mal vor lauter Trauer fast auflösen, ein Vater mit einem tollen Franzosen zusammenziehen und eine kleine Schwester aufhören, Sandburgen zu bauen, und stattdessen anfangen, Mauern um sich herum zu errichten.“ S. 40
Laurel hat noch den alten Bären aus der Kindheit, es gibt bald Anknüpfungspunkte an gemeinsame Erinnerungen wie das alte Schlummerlicht – aber während sie zunächst stark wirkt, werden doch im Laufe der Zeit die inneren Schädigungen sichtbar, wodurch sie der jüngeren Schwester bald Ängste bereitet. Auch wird klar, was es in Familien bedeutet, das Leben des „problemlosen Kindes“ gelebt zu haben und leben zu müssen – des Kindes, das die Mutter trösten muss („Wenn sie [die Mutter] sich in diese Hölle in ihrem Kopf zurückzieht, muss ich sie einfach zum Reden bringen.“ S. 6), die Neugierde und das sensationslüsterne Mitleid der Öffentlichkeit ertragen muss ebenso wie die eigenen Ängste.
Cat Clarke ist stark darin, diese Themen darzustellen, doch es kommt noch mehr. Ich hatte hier mit einigem gerechnet, aber doch nicht so, wie es dann kam. Sehr fesselnd, ohne ein Thriller oder Krimi zu sein!
Manko: Wenn Orange das neue Schwarz ist in der Mode, sind dann Jugendliche die neuen Senioren – oder woher kommt die Macke fast aller Verlage, Jugendbüchern eine besonders große Schrift angedeihen zu lassen? Und ich hätte mir vom Text her eine etwas andere Einbandgestaltung gewünscht – wie häufig, passt der Original-Titel besser (bei Filmen stört das doch auch niemanden) und der Klappentext ist teils irreführend.