Eine ehrliche Darstellung von Perspektivlosigkeit
Wir Kinder vom Bahnhof Zoo„Wir Kinder vom Bahnhof Zoo“ ist ein eindrucksvolles Buch von Christiane F., welches 1978 durch den Carlsen Verlag veröffentlicht wurde und seitdem nicht an Bedeutung verloren hat. Es illustriert die prägenden ...
„Wir Kinder vom Bahnhof Zoo“ ist ein eindrucksvolles Buch von Christiane F., welches 1978 durch den Carlsen Verlag veröffentlicht wurde und seitdem nicht an Bedeutung verloren hat. Es illustriert die prägenden Erfahrungen aus Christiane F. Kindheit und Jugend, was unter anderem Themen wie Drogensucht und häusliche Gewalt anschneidet. Dabei werden diese grausamen Erfahrungen nicht verharmlost oder ästhetisiert, sondern ehrlich und ohne Selbstmitleid dargestellt.
Die Protagonistin des Buches ist die junge Christiane F., welche nüchtern, aber auch mit viel Nachsicht gegenüber ihrem Jüngeren Ich, über ihre Kindheit und frühe Jugend berichtet. Dabei spielen ihre Familie und ihre Freunde eine ambivalente Rolle – besondere Bedeutung haben für sie und den Verlauf ihres Lebens ihre Mutter, ihr Vater und ihr Partner Detlev.
Schonungslos wird über häusliche Gewalt, Perspektivlosigkeit, Drogenkonsum und Kinderprostitution berichtet – mit der Nüchternheit wie nur eine Betroffene es tun kann und einer ehrlichen Darstellung der daraus resultierenden Konsequenzen.
Dazu beginnt Christiane mit ihrer Erzählung bereits als kleines Kind: Als Dorfkind musste sie mit ihrer Familie nach Berlin ziehen – unter dem Versprechen ein schönes Leben führen zu können, was unter anderem ein eigenes Kinderzimmer beinhaltete – nur um auf die graue und kinderfeindliche Welt eines Plattenbauviertels in Berlin zu treffen.
In dieser Welt herrschte das Recht des Stärksten – Nachsicht und Empfindsamkeit konnten hier nicht gedeihen.
Ohne Spielplätze oder anderen Freizeitgelegenheiten mussten sich die Kinder mit Straftaten als Unterhaltung in ihrem Plattenbaughetto vergnügen, nur um Zuhause regelmäßig auf häusliche Gewalt zu treffen – Gewalt wurde somit als normale Verhaltensweise akzeptiert.
Während der Schulzeit versuchten sich Lehrer vergeblich gegenüber den Kindern zu behaupten – aber auch in der Schule zeigten Lautsein und Aggressivität Stärke, wogegen die Lehrer wehrlos waren.
Zu Abwechslung und Verständnis fand man nur in Jugendclubs, die auch unteranderem von kirchlichen Organisationen geleitet wurden. Dort, in diesen Clubs, konnte Christina eine Freundesgruppe finden, in welcher sie nicht das Gefühl hatte, sich behaupten zu müssen und sich auch verstanden fühlen konnte. Durch diese Freundesgruppe kam sie auch den ersten Kontakt mit Drogen – sie wurden als Entspannung und Ablenkung vom stressigen und sinnlosen Arbeits- und Ausbildungsalltag eingenommen.
Weil ihr Umfeld nicht auf Christianes Hilferufe reagieren konnte oder sie sogar gar nicht erst wahrgenommen hat, folgte eine Abwärtsspirale aus Drogenkonsum, Prostitution, Entzügen und Hilflosigkeit, welche unter mangelnder staatlicher und medizinischer Unterstützung nach Jahren gebrochen werden konnte. Zu diesen Hilfeschreien gehörten nicht nur schlechter werdenden Schulleistungen, sondern auch der Körperliche Verfall durch Drogenkonsum.
Der Grund wieso dieses Buch so bedeutend ist, wird schnell klar: Es ist eine zeitlose Gesellschaftskritik, welche durch ihre Ehrlichkeit fesselnd und emphatieanregend ist.
Die Rolle des Umfelds in Bezug auf die Perspektiv- und Hilflosigkeit von Jugendlichen wird nüchtern dargestellt und zeigt die Konsequenzen auf, mit welchen viele Menschen schon vor mehreren Dekaden, aber auch heutzutage, umzugehen und zu leben haben.
Zu diesen Konsequenzen gehört nicht nur eine große Anzahl an gar nicht oder nur schlecht ausgebildeten Jugendlichen, sondern auch Depressionen, Minderwertigkeitsgefühle, Systemhass und Selbstmordgedanken.
Der Drogenkonsum der Kinder und Jugendlichen war in jedem Moment bloß eine Ausflucht aus einer Realität, in welcher keine Kreativität und Wertschätzung geboten wurde, sondern Spießbürgertum und Kleinlichkeit das Ideal waren. Die Kinder sind ohne Ziele und Ideale groß geworden und mussten unter der Prämisse, leben den Erwachsenen keinen Ärger zu machen, obwohl es nie klar war, was die Erwachsenen ärgert oder wohin sie mit ihrer Energie sollen. Schulen waren keine Zuflucht, sondern eine Arbeitsbeschaffungsmaßnahme, in welcher kein Zugehörigkeitsgefühl oder Inspiration möglich war.
So ist es verständlich, dass nach den ersten Möglichkeiten gegriffen werden, welche die momentane Situation erträglicher machen kann – in die Zukunft vorauszudenken oder auf anderen Wegen Auswege zu finden waren nie Optionen gewesen – unteranderem, weil andere Auswege nie geboten wurden oder greifbar waren.
Die Konsequenzen daraus sind der Tod von vielen Kindern und Jugendlichen durch Überdosen und Selbstverletzung, wobei die Drogen selbst nicht das tatsächliche Problem gewesen sind.