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Veröffentlicht am 15.09.2016

Reise in ein neues Leben

Insel der blauen Gletscher
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Auf den ersten Blick vereint die beiden Protagonistinnen des dritten Romans „Insel der blauen Gletscher“ von Christine Kabus wenig. So sehr unterscheiden sie sich in Alter, Herkunft, Lebenszeit und -weise. ...

Auf den ersten Blick vereint die beiden Protagonistinnen des dritten Romans „Insel der blauen Gletscher“ von Christine Kabus wenig. So sehr unterscheiden sie sich in Alter, Herkunft, Lebenszeit und -weise. Und doch ist ihnen eines gemeinsam: Sie verlassen ihre gewohnte Umgebung und suchen ihren eigenen Weg für ein erfülltes Dasein.

Elberfeld im Rheinland, Mai 1907. Emilie, die behütete Tochter des Fabrikanten Gustav Berghoff, feiert gerade ihren 21. Geburtstag und sieht sich den typischen Zwängen ihrer Zeit ausgesetzt: Nicht nur dass sie sich tatsächlich in ein Korsett pressen muss, sich während der Schulzeit lediglich mit Handarbeiten, Auswendiglernen und Abschreibeübungen in Schönschrift beschäftigen durfte. „Wir werden hier nicht über Gebühr mit Wissen belastet. Das hat immerhin den Vorteil, dass wir unseren solcherart geschonten Verstand nachher noch haben werden.“ (Seite 442), schlussfolgert eine Mitschülerin treffend. Sondern es ist auch für Emilie trotz ihrer Intelligenz und ihres vorhandenen Talents nicht vorgesehen, dass sie eine Ausbildung macht. Stattdessen besteht nach Anschauung ihres Vaters das Ziel darin, sie gut zu verheiraten. Damit folgt er dem klassischen Modell, wonach eine Frau versorgt werden sollte. Beklemmende Aussichten für eine Frau von Emilies Format...

Doch dann bietet sich ihr eines Tages die Gelegenheit, zumindest für eine Zeit aus ihrer gewohnten Tristesse auszubrechen. Weil Emilies hochsensibler, schöngeistiger, aber gleichwohl lebensuntüchtiger Bruder Max, Student der Biologie, auf Grund seiner ihn beherrschenden Versagensängste nicht in der Lage ist, an einer Expedition nach Spitzbergen teilzunehmen, tritt sie an seine Stelle. Verkleidet als fescher junger Mann, wobei ihre burschenhafte Figur, die buschigen Augenbrauen und ihr tiefer Stimmentimbre sich als Vorteil erweisen, beginnt sie das Abenteuer ihres Lebens.

Sulzbach-Rosenberg in der Oberpfalz, Juli 2013. Hanna hat gerade ihren Sohn Lukas zum Flughafen gebracht und sich für ein Jahr, das er als Helfer in einem bolivianischen Waisenhaus verbringen will, von ihm verabschiedet. Bei der Rückkehr nach Hause überrascht sie ein Brief ihres Mannes Thorsten, in dem er ihr offenbart, dass er sie verlässt, um nicht länger unzufrieden sein Leben aufzuschieben, sondern entgegen seinem sonstigen Bedürfnis nach Sicherheit und Beständigkeit neue Wege gehen will.

Nach dem ersten – verständlichen Schock – rafft sich Hanna – auch auf Grund des aufmunternden Zuspruchs ihres guten Freundes Heiko auf und lässt ihr bisheriges Dasein hinter sich, um zu ihren beruflichen Ursprüngen zurückzukehren. Einst hatte sie für ihre Familie ihren erfolgreichen Job als Reisejournalistin an den Nagel gehängt. Jetzt bietet sich ihr die Gelegenheit, für ihre alte Redaktion nach Spitzbergen zu fliegen.

Christine Kabus ist eine ausgezeichnete Erzählerin. Die sich abwechselnden Geschichten der beiden Frauen sind detailliert und mit viel Hintergrundwissen gefüllt. Umfangreiche Informationen geschichtlicher, örtlicher, baulicher oder technischer Natur fügen sich gekonnt in den Text ein und sind für den Leser wissenserweiternd. Bis zur Zusammenführung der beiden Handlungen gibt es berührende, spannungsreiche, geheimnisvolle und nachdenkliche Momente zu entdecken. Da der Humor das eine oder andere Mal ebenfalls nicht zu kurz kommt, ist das Lesen insgesamt ein Vergnügen.

Wie schon in den Vorgängerromanen der Autorin, spielt bei Norwegen eine Hauptrolle. Insbesondere steht Spitzbergen im Fokus der Geschichten von Emilie und Hanna. Zwei Landkarten lassen hierbei eine gute Orientierung zu.

Spitzbergen ist mit einer Fläche von fast 38.000 km² die größte Insel der gleichnamigen Inselgruppe im Arktischen Ozean und als einzige bewohnt. 2.500 Menschen halten es hier im arktischen Klima aufgeteilt auf fünf Dörfer aus. Zu ihnen gesellen sich 3.000 Eisbären, 10.000 Spitzbergen-Rentiere, ein paar Tausend Walrosse, Robben und Polarfüchse. Die Küsten Spitzbergens sind stark gegliedert und bilden zahlreiche Fjorde, die im westlichen Teil wegen des Golfstroms im Winter oft nicht zufrieren. Der größte und zugleich bekannteste Fjord ist der Isfjord, der weit ins Zentrum der Insel reicht und mit geschützten Lagen die günstigsten Bedingungen für menschliche Besiedlung bietet.
Spitzbergen liegt nördlich der Permafrostgrenze. Das bedeutet, dass der Boden an den Küsten ständig zehn bis vierzig Meter, im Hochland des Inselinneren sogar mehrere hundert Meter tief gefroren ist. Daher sind Geburten und Sterbefälle auf Spitzbergen nicht erlaubt. Eigentlich. Ab und an geschieht es trotzdem. Und im Hinblick auf das Ableben ist das eine heikle Sache: Wegen des Permafrostes kann niemand beerdigt werden, die Leichen werden konserviert...


Beeindruckend sind die Schilderungen der majestätischen und bezaubernden Landschaft. So kann der Leser mit Emilie den erhabenen Anblick erleben, mit dem Schiff durch grünblaues Wasser auf die auf den Gipfeln mit Schnee bedeckten Berge und blauen Gletscher zuzugleiten.

Über die Hälfte der Landfläche von Spitzbergen ist von Gletschern in vielerlei Gestalt bedeckt - manche sehen aus wie gewaltige Tafeln, andere wiederum ähneln bizarren Berglandschaften. Sie sind zwar ständig in Bewegung, dies aber auf Grund der niedrigen Temperaturen und geringen Niederschläge nur sehr langsam. Lediglich in den feuchteren Küstengebieten verändern die Gletscher ihre Lage um zehn bis dreißig Meter pro Jahr. In der Regel sind die Kolosse strahlend weiß. Manchmal gibt es jedoch auch blaue Eisberge. Ihre Farbe beruht ganz simpel auf Physik, nämlich den optischen Eigenschaften des Eises. Tiefblau schimmert ein Eisberg nur, wenn er sehr wenige Luftbläschen enthält.

Oder er lässt mit Hanna gern den "Blick über den Fjord zum gegenüberliegenden Ufer schweifen, in dessen schwarzen Felsen hunderte Seevögel" (Seite 316) nisten, in deren Rufe sich das leise Rauschen des Windes mischt, wo blaue von einem Gletscher abgebrochene Eisstücke über das Wasser und an den Strand treiben. Wenn sie wie Diamanten zwischen bunten Steinen glitzern, mag man nur an die traumhafte Kulisse und die friedliche Atmosphäre denken und nicht daran, dass der Mensch selbst die größte Bedrohung für das alles ist. Es ist wunderbar, wie die Autorin das beschreibt. Dadurch entstehen lebhafte Bilder, gemalte Momente: "Der Himmel wölbte sich tiefblau über ihnen, die Sonne stand über den Hügeln und ließ das rötliche Gestein leuchten. Vom gegenüberliegenden Steilufer trug eine sanfte Brise die Rufe der Vogelkolonie herüber." (Seite 334)

Dazu passt das wunderschöne Cover mit dem hellen Licht der aufsteigenden Sonne über den blauen Gletschern hervorragend.

Christine Kabus hat ihre Figuren, allen voran Emilie und Hanna mit viel Feingefühl entwickelt.

Emilie ist warmherzig und mutig. Die Abenteuerlust lockt sie. Sie verfügt über einen messerscharfen Verstand. So schnell haut sie nichts um. Keine stürmische Fahrt übers Meer, schießwütige Kerle, die Aussicht, vielleicht riesigen Eisbären zu begegnen.

Sie möchte selbst ihren Weg suchen und nicht ausnahms- und meinungslos tun, was von ihr erwartet wird, sich nicht all den Regeln, Vorschriften und Zwängen ohne Aussicht auf persönliches Glück unterwerfen. Im Verlaufe der Reise entwickelt sie sich, verinnerlicht die Rolle ihres Bruders mehr und mehr, auch wenn es zwischendurch ein paar Momente gibt, in denen sie alten Gewohnheiten folgt. Tatsächlich stellt sie fest, dass es nicht leicht ist, Verhaltensmuster, die einen jahrelang geprägt haben, durch neue zu ersetzen, in erster Linie, wenn es unbekannte männliche Gebaren sind. Aber Emilie kommt immer besser zurecht und schätzt die damit verbundenen Freiheiten. Unter anderem, nicht mehr das abhängige und fremdbestimmte sich Leben einer Frau zu führen, die Möglichkeit zu haben, einen anderes Stück der Welt kennen zu lernen. Sie macht die Erfahrung, Teil einer Gruppe zu sein, die Hand in Hand miteinander arbeitet und gemeinsam den Gefahren die Stirn bietet, dass dies ein befriedigendes Gefühl ist. Gebraucht zu werden. Ein sinnvolle Tätigkeit auszuüben.

Hanna dagegen scheint mit 45 Jahren schon auf Grund ihrer Lebenserfahrung gefestigter. Doch der Eindruck täuscht. Denn auch Hanna hat ihr Päckchen zu tragen. Sie ist eine Frau mit einem großem Einfühlungsvermögen. Allerdings drängt sie ihre eigenen Gefühle zurück, sobald jemand, der ihr nahesteht, emotional ihre Unterstützung benötigt.

Am Beginn ihrer Reise steht sie vor den Trümmern ihrer Ehe. Weil sie viel zu lange nicht wahrhaben wollte, dass sie und Thorsten schon seit Jahren nebeneinander her leben und sie aus Bequemlichkeit oder auch aus Furcht vor den Konsequenzen ihre Unzufriedenheit verdrängt und meine Wünsche und Vorstellungen von einem erfüllten Leben unterdrückt hat. Doch schlussendlich bietet sich ihr nun eine Chance, an der Reihe zu sein. Sie muss kein schlechtes Gewissen mehr haben und Rücksicht nehmen, kann das tun, was sie möchte.

Neben Emilie und Hanna hat die Autorin den Nebenfiguren viel Raum und Charakter gegeben.

Da ist zum Beispiel Kare, gutaussehender Einzelgänger, der bislang nirgendwo Wurzeln geschlagen hat und feste Bindungen einging, gleichwohl jedoch einfühlsam, umgänglich, bescheiden ist, bleibt in Erinnerung als einer der seltenen Menschen, die lieber zuhören, weder fordernd noch besitzergreifend sind, sondern aufmerksam und zugewandt. Es macht Spaß zu lesen, dass er an Hannas Seite wie ausgetauscht wirkt. Sie tut ihm sichtlich gut. Und das beruht auf Gegenseitigkeit.

Emilies Tante Fanny, die mit beiden Beinen fest auf dem Boden steht, das sie keinesfalls streng und steif sieht, schließt der Leser ins Herz, weil sie ihre Nichte in ihrem Bestreben auf Selbstbestimmung unterstützt.

In der Gegenwart des sympathischen Engländers William fühlt sich jeder unbeschwert. Nicht nur Emilie. Er hat Humor und interessiert sich aufrichtig für andere Menschen.

Dann sei noch Arne erwähnt, die „Inkarnation eines Wikingerhäuptlings", dem wenige Worte ausreichen und der nicht so zugänglich, sondern eher ungehobelt und mürrisch erscheint.

Natürlich bekommen außer den vorgenannten weitere interessante, freundliche oder gar unleidliche Protagonisten ihren Auftritt. Sie alle beleben den Roman, und wer ihnen, vor allem aber Emilie und Hanna und der großartigen Natur Spitzbergens begegnen möchte, dem sei die Lektüre des Romans an Herz gelegt.

Diese Reise lohnt sich auf jeden Fall!

Veröffentlicht am 15.09.2016

Lieben und geliebt werden

Friederike. Prinzessin der Herzen
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"Das Einzige, was ich suche, ist das Glück. Ich ersehne mir nur, zu lieben und geliebt zu werden."

Berlin, 26. Dezember 1793. Zwei Tage nach der Hochzeit ihrer älteren Schwester Luise mit dem Kronprinzen ...

"Das Einzige, was ich suche, ist das Glück. Ich ersehne mir nur, zu lieben und geliebt zu werden."

Berlin, 26. Dezember 1793. Zwei Tage nach der Hochzeit ihrer älteren Schwester Luise mit dem Kronprinzen Friedrich Wilhelm von Preußen heiratet Friederike Luise Karoline Sophie Charlotte Alexandrine von Mecklenburg-Strelitz den zweiten Sohn des Preußischen Königs, Friedrich Ludwig Karl von Preußen.

Während Luise und Friedrich Wilhelm eine Liebesheirat verbindet, gestaltet sich zu Friederikes Enttäuschung ihre Ehe nicht wie erhofft als freudig und traumhaft. Ludwig ist zwar ein schöner Mann, aber leider kein guter. Schon kurz nach der Hochzeit triff Friederike die Erkenntnis, einen Rohling geheiratet zu haben, hart. Ihre Schwester Luise, mit der sie eine innige Zuneigung verbindet, hat dagegen so ausgiebig mit sich selbst und ihrer neuen Rolle als Kronprinzessin zu tun, dass sie Friederike darüber vergisst. Als sie der lieblosen Ehe enttäuscht entfliehen will, stellen sich nicht nur der König, sondern auch ihre Großmutter, bei der sie und Luise aufgewachsen sind, und zudem selbst ihre Schwester dagegen. Und Friederike muss begreifen, dass weder Luise ihrem neuen Leben und der Aussicht, Königin zu werden, durch Friederike Schaden zufügen lässt, noch dass ihre Großmutter auf den Triumph verzichtet, ihre Enkelinnen mit zwei so großartigen Partien versorgt zu haben.

In der Folge arrangiert sich Friederike und stürzt sich in den Trubel von Berlin. In Salons zeigt sie, dass sie äußerst belesen ist und überrascht viele mit ihrer Klugheit, steht im Mittelpunkt der Gesellschaft.

Nach der Geburt des ersten Sohnes erkennt Ludwig, wie schändlich er sich Friederike gegenüber verhalten hat. Tatsächlich tritt eine Änderung in seinem Verhalten und damit so etwas wie ein harmonisches Eheleben ein. Innerhalb von drei Jahren folgen zwei weitere Kinder.

Als Ludwig stirbt, ist dies vor allem für Friederike, die gerade ihren Frieden gefunden hat, ein herber Verlust. Mit gerade einmal 18 Jahren und drei Kindern ist sie Witwe.

Zwei Männer buhlen um ihr Herz: Prinz Louis Ferdinand, Onkel ihres verstorbenen Mannes, und Friedrich Wilhelm zu Solms-Braunfels. Als Friederike in unehrenhafte Umstände gerät, beweist sich Solms, Friederikes erste Liebe, als Retter in der Not und heiratet Friederike. Gegen den Willen des Königs, weswegen beide aus Berlin verbannt werden. In Ansbach folgt ein Zeit familiären Glücks, bescheiden zwar, aber glücklich. Doch noch hält das Schicksal einiges für Friederike bereit...

Nach ihrem bemerkenswerten Debütroman „Luise. Königin aus Liebe“ nimmt sich Bettina Hennig nunmehr dem Leben der jüngeren Schwester der preußischen Königin an, die in Anbetracht ihrer wechselhaften Geschichte wohl die interessantere der beiden Schwestern ist: "Friederike. Prinzessin der Herzen".

In einem unaufgeregten, jedoch deswegen keineswegs langweiligen Schreibstil schildert die Autorin das anschauliche und zum Teil auffällige Leben der Schwester der preußischen Königin. Dabei bekommt der Leser ein Gefühl für die Zeit des ausgehenden 18. und beginnenden 19. Jahrhunderts, denn es ist zu spüren, dass Bettina Hennig das Leben der Prinzessin hervorragend recherchiert hat. Sie schreibt eindrucksvoll und spickt ihre Sätze mit historischen Sätzen und Redewendungen, die zudem Witz und Esprit enthalten. Kleine Anekdoten fügen sich harmonisch in das Geschehen ein.

Manchmal erzählt sie sehr ausführlich und detailliert, so dass sich Wiederholungen, auch inhaltlicher Natur einschleichen. Das ist angesichts des Könnens der Autorin, eine wertungsfreie Geschichte zu erzählen, in der die Menschen mit Stärken und Schwächen gleichermaßen wandeln, aber entschuldbar.

Besonderes Augenmerk hat Bettina auf die Figurenzeichnung gelegt. An dieser Stelle zeigt sich ihre Stärke. Angesichts der Fülle der handelnden Personen ist es eine bewundernswerte Leistung, dass die Autorin den Überblick behält und damit dem Leser ebenfalls die Freude beim Kennenlernen ermöglicht. Hierbei überlässt sie es ganz dem Leser, Sympathie oder Antipathie für die Protagonisten zu empfinden.

Allerdings ist es von Anfang an ein Leichtes, Friederike ins Herz zu schließen.

Friederike. Eine verführerische Schönheit mit großen Augen und auffällig langen Wimpern, vollen Lippen, runden hohen Wangen, reiner und frischer Haut, lockigen Haaren, einem unregelmäßig, doch lebhaften Gesichtsausdruck, die mit ihrem scheuen Blick eine Aura von Unschuld vermittelt, wohingegen ihre ausgeprägte Silhouette das Gegenteil andeutet. Feine, etwas lange Gliedmaßen und ein verspielter Gesichtsausdruck geben ihr das Aussehen einer Katze, die noch nicht ganz ausgewachsen ist.

Tatsächlich stellt die fünfzehnjährige und damit sehr junge Friederike wenig Ansprüche an das zukünftige Leben: Mit einem kleinen und bescheidenen Dasein fernab großer Metropolen wäre sie zufrieden gewesen, solange sie einen Mann bekäme, den sie lieben und von dem sie geliebt würde. Von diesem Traum nimmt sie Abschied, als sie gemeinsam mit ihrer Schwester Luise in die preußische Königsfamilie einheiratet.

Denn im Gegensatz zu Friederike ist Luise ehrgeiziger. Attraktiv, anmutig und charmant wird sie als Kronprinzessin und später als preußische Königin die ihr zugedachte Rolle niemals infrage stellen, das innere Empfinden der öffentlichen Person konsequent unterordnen und im Dienste der preußischen Monarchie eine perfekte Mischung zwischen Pomp und Volksnähe finden und zu deren Ansehen in beachtenswerter Weise beitragen. Doch auch sie kennt Gefühle wie Eifersucht. Steht sie nicht im Mittelpunkt, macht ihr das sehr zu schaffen.

Die Verbindung zwischen den Schwestern ist nicht immer eitel Sonnenschein, vielmehr ein Auf und Ab. Doch eine ohne die andere zu betrachten, ist ein schlechtes Unterfangen. Hier ist der Autorin eine großartig Mischung gelungen.

Wie schon beim ersten Roman der Autorin punktet das schlichte Cover mit einem ansprechenden und einladenden Bild der jungen Friederike auf einfarbigem, elegantem (preußisch) blauen Hintergrund.

Im Gesamtpaket legt Bettina Hennig einen unterhaltsamen Roman über Friederike vor, der nicht nur gut geschrieben ist, sondern auch außerordentliche Sachkunde beweist.

Veröffentlicht am 15.09.2016

Die Tuchvilla

Die Tuchvilla
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Herbst 1913. Es ist das letzte Jahr vor dem Ersten Weltkrieg, der "Urkatastrophe Europas". Während auf dem Balkan zwei Kriege um das Erbe des zerfallenden Osmanischen Reiches toben, die erahnen lassen, ...

Herbst 1913. Es ist das letzte Jahr vor dem Ersten Weltkrieg, der "Urkatastrophe Europas". Während auf dem Balkan zwei Kriege um das Erbe des zerfallenden Osmanischen Reiches toben, die erahnen lassen, welche Schrecken eine Auseinandersetzung mit Waffengewalt birgt, verbringt das übrige (westliche) Europa eine vermeintlich unbeschwerte Zeit in stabiler Ordnung. Hier herrscht seit vierzig Jahren Frieden, der einen technischen Fortschritt, die Hochindustrialisierung (auch als Zweite industrielle Revolution bezeichnet) ermöglicht, der die Nationen wirtschaftlich miteinander verflechtet. Gleichzeitig konkurrieren die europäischen Großmächte um Kolonien und Weltgeltung, instrumentalisieren die Konfliktparteien auf dem Balkan für ihre jeweiligen Interessen und rüsten ihre Flotten und Armeen auf - natürlich nur für den Verteidigungsfall. Das deutsche Kaiserreich erlebt wirtschaftliche Erfolge und baut vor allem gegenüber Großbritannien als einstigem Industriepionier seine Position aus und steht im Vergleich der Industrieländer an zweiter Stelle.

Von diesem Aufschwung hat auch Johann Melzer profitiert und es als Sohn eines Lehrers im Laufe der Jahre nicht nur zu einer florierenden Tuchfabrik in der Textilstadt Augsburg, sondern zudem zu einer adligen Ehefrau, drei präsentablen Nachkommen und einer mondänen Villa samt Dienstpersonal gebracht.

Hier tritt im Herbst 1913 Marie ihre Arbeit als Küchenmädchen an. Bislang hat ihr das Schicksal übel mitgespielt, für das arme, bemitleidenswerte Waisenmädchen ist der Dienst in der Tuchvilla die letzte Chance. In der Hierarchie der Dienstboten nimmt sie die unterste Stufe ein und wird dementsprechend behandelt.

Doch die jüngste Tochter des Hauses Katharina hat einen Narren an der gleichaltrigen Marie gefressen und bietet ihr die Freundschaft an, die Marie verwundert, aber dankbar annimmt. In relativ kurzer Zeit steigt sie zur Kammerzofe auf.

Noch eine weitere Person des Melzerschen Haushaltes schenkt ihr Zuneigung: Paul. Und obwohl Marie die Gefühle erwidert, weiß sie dennoch, dass sie als Paar keine Zukunft haben. Denn wenn eine Bedienstete sich in den jungen Herrn verliebt, kann daraus nur Unglück erwachsen.

Bald stellt sich heraus, dass Maries Herkunft nicht so unklar und rätselhaft ist, wie man es ihr im Waisenhaus darstellte. Darüber hinaus scheint ihr neuer Arbeitgeber, Johann Melzer, mehr darüber zu wissen, als er preiszugeben bereit ist. Deshalb lässt sich Marie auch von ihm nicht abbringen, Nachforschungen anzustellen, um das Geheimnis zu lüften, während in der Zwischenzeit Katharina mit einem Franzosen davonläuft...

In ihrem Roman "Die Tuchvilla" erzählt Anne Jakobs eine Familien- und Liebesgeschichte, ohne konkret Bezug auf die historischen Gesichtspunkte der Vorkriegsjahre zu nehmen. Im Grunde stellt sie ein Stück heile Welt dar, in der sich das Leben einer Familie gestaltet, die es zu Ansehen und Vermögen gebracht hat. Denn tatsächlich ist es vermutlich für Familie Melzer nicht von großer Bedeutung, was außerhalb ihres Kosmos' geschieht. Leider führt die geringe oder fehlende Einbeziehung geschichtlicher Gegebenheiten dazu, dass die Handlung zeitlich austauschbar ist. Sie hätte so zu jeder anderen Epoche an jedem anderen Ort spielen können.

Ansätze sind durchaus vorhanden. Beispielsweise erhält der Leser eine Beschreibung des Arbeitsgeschehens in der Fabrik, in dem Funktionsweise von Maschinen usw. dargestellt werden. Und Unfälle und Arbeitskampf werden ebenfalls thematisiert. Hingegen wird das hierin liegende Konfliktpotenzial bedauerlicherweise nicht ausgeschöpft. Letzten Endes löst sich alles in Wohlgefallen auf.

Der Schreibstil der Autorin stellt keine große Anforderungen. Er ist einfach und solide. Einigen sehr ausführlichen Schilderungen hätte eine Straffung gut getan. Außerdem ist das Geheimnis um Maries Herkunft recht früh zu erkennen, so dass der Leser der Lösung nicht wirklich entgegenfiebert. Insgesamt fehlt es an aufregenden Momenten, die wahrlich berühren und Herzklopfen bescheren.

In der Figurenzeichnung gibt es gute Ansätze, allerdings auch Klischees.

Marie ist ein Mensch, den der Leser sofort ins Herz schließen kann. Weil sie trotz des Übels, das ihr widerfahren ist, immer Haltung bewahrt, nicht herumjammert, sich nicht einschüchtern lässt und klein beigibt. Sie beobachtet ihre Umgebung und die Menschen intensiv und versucht, eine Wertung vorzunehmen. Sie lässt sich als Mensch nicht erniedrigen, schafft es, ihre Würde zu bewahren und sei es nur im Kampf um die Beibehaltung ihres Vornamens.

Zudem beweist sie außerordentliches Talent beim Zeichnen und ist äußerst geschickt mit der Nadel, was alle Damen der Tuchvilla für sich zu nutzen wissen.

Doch bei allen positiven Eigenschaften hätte es zu Marie mit den wunderschönen Augen, in denen ihre Seele liegt und so viel Trauer und Sehnsucht, so viel Hunger nach Glück, so viel Müdigkeit und so viel Kraft gepasst, auch die eine Ecke oder Kante zu bekommen, um sie von der armen, standhaften und untadeligen Waise zu einer interessanten Figur zu formen, so dass sie eben nicht fehlerlos gewesen wäre.

Bei Paul Melzer ist eine Entwicklung zu erkennen. Zunächst kann er es seinem Vater nicht recht machen. Wiederum bewahrheitet sich im Verlauf der Handlung, dass Paul durchaus Fähigkeiten besitzt, die ihm sein Vater bislang überhaupt nicht zugetraut hat.

Daneben wirken die Schwestern Melzer sehr stereotyp: Elisabeth, unscheinbar und pummelig ist zwar äußerst intelligent, gleichwohl aber intrigant, neidisch und gehässig. Ständig fühlt sie sich im Vergleich zur jüngeren, hübschen, weltfremden Katharina abgewertet. Der durchschimmernden Unsicherheit mehr Raum zu geben, wäre eine Abwechslung gewesen. Oder möglicherweise die Einbeziehung der Tatsache, dass sich gerade in dieser Zeit das Frauenbild verändert. So bleibt es dabei, dass Elisabeth der Euphorie und verklärten Schwärmerei ihrer Schwester nichts entgegenzusetzen hat. Selbst dann nicht, als Katharina diejenige ist, die sorglos und ohne Rücksicht auf andere Menschen handelt, kann sie nicht punkten.

Insgesamt unterhält der Roman, ohne große Anforderungen zu stellen, und wartet zu guter Letzt mit einem zuckrigen Happy End auf. Es bleibt zu wünschen, dass die Autorin diesen Pfad im zu erwartenden Folgeband verlässt und Dramatik in die Geschichte bringt.

Veröffentlicht am 15.09.2016

Grauwacht

Grauwacht
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Was würdest du tun, wenn du an einem Punkt angelangt bist, an dem du entscheiden musst, ob du Macht ausspielst oder zurücknimmst, um eine Entwicklung zuzulassen, die viel mühsamer, aber gleichwohl lehrreicher ...

Was würdest du tun, wenn du an einem Punkt angelangt bist, an dem du entscheiden musst, ob du Macht ausspielst oder zurücknimmst, um eine Entwicklung zuzulassen, die viel mühsamer, aber gleichwohl lehrreicher und lebensechter ist?

So faszinierend die Welt von Bisola auch sein mag, sie ist eine extremer Gegensätze. Tag und Nacht. Doch löse dich von deinen Vorstellungen des üblichen Zeitmaßes. Sechzig Doppelmonde dauert die Nacht, der im gleichen Rhythmus der Tag folgt. Während der Tag trocken ist und unter der Sonne brennt, dass selbst die Meere kochen, weist die Nacht eisige, klirrende Kälte auf.

Die Nacht ist Heimat der Menschen, und nur in dicke Pelze gehüllt sind sie in der Lage, sich ins Freie zu begeben. Wenn sie Glück haben, bewohnen sie Hütten in Refugios und leisten ihren Beitrag zum Fortbestand einer Communidad, oder sie leben unter einem Schutzschild in Häusern in Metropolen, können dort eventuell als Sabos in einem Astrovatorio Monde und Sterne beobachten oder in einer Bilteca Bücher lesen. Überall müssen sie sich allerdings festen Regeln unterwerfen. Als umherziehende Nomaden sind Menschen oft auf eine Unterkunft in natürlichen Höhlen angewiesen. Insgesamt ist es ein harter Alltag, der immer wieder vom Kampf ums Überleben bestimmt wird.

Der Tag ist den Sasseks vorbehalten. Amphibien, die mit ihrer äußeren schuppigen Hülle der Hitze trotzen. Sie sind empfindsame und fähige Wesen, die ihr Geschlecht mehrfach wechseln und nur im hohen Alter geschlechtslos leben.

Sobald der Tag naht, ist es für die Menschen Zeit, ihr jeweiliges Zuhause aufzugeben und mit der Nacht weiter zu ziehen. So will es der Pakt, der einst zwischen Menschen und Sasseks geschlossen wurde und ein friedliches Leben beider Völker ermöglicht. Damit dies so bleibt, gibt es die Grauwacht und ihre Krieger mit überragenden Fähigkeiten, die, wenn sie mit Nabo ausgestattet sind, äußerst langlebig mit verstärkten Sinnen, Kräften und Geschick handeln können. Dafür müssen sie andererseits auf eine eigene Familie und damit persönliche Bindungen verzichten, um neutral ihre Aufgabe, die Überwachung des Paktes, umzusetzen.

Bislang ist das stets gelungen. Plötzlich jedoch verändern sich in der Welt von Bisola nicht nur die zwei Monde Dya und Mezza, als sich ein grünes Band auf ihre gelbe Wölbung legt, das weiter wandert und zunehmend blaues Licht hinter sich herzieht. Sondern hinzu kommt, dass der Tag nicht weicht und ein ungewöhnliches blaues Licht erscheint. Überall zeigt sich das Blau, es ist ausgerechnet die Farbe, die unter den Sasseks als verflucht gilt und die Amphibien deshalb in große Unruhe versetzt. Und nicht nur sie. Die bekannte Ordnung droht, umgestoßen zu werden, und das verunsichert Angehörige beider Völker.

Was steht Bisola noch bevor, wenn schon die Monde ihr Angesicht wechseln? Und geschieht dies alles zum ersten Mal? Oder gibt es eine Gefahr, die sowohl Menschen als auch Sasseks vergessen haben, die aber für beide bedrohlich ist?

"Grauwacht" von Robert Corvus besticht durch seinen intelligenten Plot, den der Autor mit einem gradlinigen, klaren Schreibstil hervorragend in Szene setzt. Er baut eine fantastische Welt auf, die er erfreulicherweise neben den Menschen nicht mit Wesen wie Elben, Trollen, Zwergen usw. besiedelt ist, sondern mit einer reizvollen Spezies wie den Sasseks.

Hast du zunächst das Gefühl, auf Bisola mittelalterliche Strukturen zu finden, zeigen sich im Verlauf der Handlung Elemente, die eher dem Gebiet der Science Fiction zuzuordnen sind. Diese Mischung bildet einen originellen Reiz, der dadurch, dass du dich mit Menschen und Sasseks einem zu lösenden Rätsel gegenüber siehst, noch erhöht wird. Während das Geschehen, das in vier Teile aufgeteilt und durch Interludien ergänzt wird, anfänglich in ruhigen Bahnen zu verlaufen scheint, beschleunigt der Autor nach und nach das Tempo, wirft Hinweise ein und fesselt dich mehr und mehr bis zum Höhepunkt und der Lösung des Rätsels. Bis dahin wird nicht nur die Nacht ein Grund sein, dass es dich das eine oder andere Mal fröstelt oder sogar gruselt...

Einen bemerkenswerten Beitrag leisten die hervorragend ausgearbeiteten Charaktere. Sie agieren zum Teil unabhängig voneinander und arbeiten mit dir zusammen an der Aufklärung der geheimnisvollen Vorgänge.

Zunächst lernst du Remon kennen. Er ist ein abtrünniger Guardista der Grauwacht. Denn entgegen den Geboten der Grauwacht, nicht mit einem normalen Menschen zusammen zu sein, hat er eine Familie gegründet und auf diese Weise seinen Eid gebrochen. Als Kind wurde Remon von Sasseks aufgezogen, so dass er wie ein Sassek denken kann. Er ist ein einzigartiger Mensch, der seine Frau Nata und seine Tochter Enna liebt und versucht, sich nie in den Vordergrund zu drängen. Als er entdeckt wird, bedeutet es das Ende des Glücks und möglicherweise sogar den Tod. Trotzdem strebt Remon ständig danach, die auffallenden merkwürdigen Veränderungen Bisolas zu ergründen, wobei sich die Zugehörigkeit zur Grauwacht als Vorteil erweist.

Wenn dir Nata begegnet, wirst du Remons Liebe verstehen. Nata ist nicht nur warmherzig und fürsorglich, sondern darüber hinaus selbstbewusst, klug und mutig. Sie gehört nicht zu den Menschen, die Gegebenheiten akzeptieren, ohne sie zu hinterfragen. Denn es ist vorstellbar, dass Dinge ergründet und neu gestaltet werden können. Sie macht sich Gedanken und Sorgen um die Zukunft, gibt nicht so schnell auf und handelt zielstrebig auf der Suche nach Wissen. Dabei werden ihr indes Steine in den Weg gelegt. Sabos, die Gelehrten der Menschen, erwecken den Eindruck, dass sie nicht erkennen - oder sie vermögen und wollen es nicht -, dass Ungemach für beide Völker droht und Nichthandeln oder eine falsche Reaktion dies nicht verhindern kann.

Auch auf Seiten der Sasseks gibt es außergewöhnliche Figuren. Ssarronn wird dir gefallen. Er befindet sich in der späten männlichen Phase, ist intelligent und wissbegierig, die Menschen interessieren ihn besonders. Bei der Begegnung mit Nata spürt er sofort eine geistige Verwandtschaft.

Seiner ruhigen Wesensart steht Kress gegenüber. Die weibliche impulsive, ja zeitweise aggressive Sassek wird dich vermutlich oft verzweifeln lassen. Lass dich überraschen, ob ihr glühender Hass gegen alles, was blau ist, sie ins Verderben stößt oder ob Hoffnung besteht.

Die Geschichte ist in ihrer Entwicklung und mit den detailliert gestalteten Protagonisten uneingeschränkt bis zum Ende überzeugend, spannungsreich und mit Tiefgang versehen. Zudem enthält sie durchaus Botschaften, die zur eigenen Reflexion anregen. Sie wird dir ein unterhaltsames, niveauvolles Lese- und Ratevergnügen bescheren und (hoffentlich) letztendlich begeistern.

Veröffentlicht am 15.09.2016

Meeresbuch

Zeit der wilden Orchideen
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"Stramm und wie frisch gewaschen spannte sich der Himmel über die Insel; nur in der Ferne waren ein paar weiße Wolken zu sehen, schaumig wie aufgeschlagene Sahne."

Meeresbuch nennt Nicole C. Vosseler ...

"Stramm und wie frisch gewaschen spannte sich der Himmel über die Insel; nur in der Ferne waren ein paar weiße Wolken zu sehen, schaumig wie aufgeschlagene Sahne."

Meeresbuch nennt Nicole C. Vosseler ihren Roman "Zeit der wilden Orchideen" und führt den Leser in das Singapur des 19. Jahrhunderts. Vor der Kulisse des Südchinesischen Meeres am Rande des Pazifischen Ozeans erzählt die Autorin eine Geschichte von Liebe und Verlust...

1819 gründet Sir Thomas Stamford Raffles, seines Zeichens Handelsagent der Britischen Ostindien-Kompanie in Singapur die erste britische Niederlassung und weckt damit das sumpfige Dschungelland aus dem Dornröschenschlaf, in dem es jahrzehntelang gelegen hat. Denn zuvor lebten auf der Insel lediglich zwanzig malaiischen Fischerfamilien und ab und an ein paar Seeräuber. Bis 1824 vereinnahmt die Kompanie die gesamte Insel, nachdem sie dem Sultan von Johor abgekauft hat. Singapur dient als Handelsstützpunkt und entwickelt sich zu einem wichtigen Warenumschlagplatz. Da es zunächst kein kultiviertes Hinterland gibt, das Produkte und Lebensmittel liefern kann und zudem der Boden, die Topografie und Verteilung des Regenfalls für den Reisanbau ungünstig sind, eine Siedlung also andere Feldfrüchte anbauen oder das Meer als Nahrungsquelle nutzen müsste, wird die schwierige Ausgangssituation der Insel entschärft, indem viele Lebensmittel importiert werden. Sir Raffles führt stadtplanerische Maßnahmen durch, um einen optimalen Erfolg der Siedlung zu gewährleisten. Und 1867 wird Singapur zur britischen Kronkolonie. Bald wächst die Bedeutung von Singapur als Umschlaghafen wegen seiner geographischen Lage entlang der verkehrsträchtigen Schifffahrtswege zwischen China und Europa, nachdem 1869 der Suezkanal gebaut wird, der schnellere Überfahrten nach Europa ermöglicht. Dadurch steigen das Handelsvolumen und die Zahl der Einwohner beständig an.

Hier lebt Georgina mit ihrem Vater in einem Haus direkt am Meer. Das kleine Mädchen ist seit dem Tod der Mutter sich selbst überlassen, der Vater, ein Kaufmann, verhält sich ihr gegenüber aus unerklärlichen Gründen gleichgültig. Georgina ist sensibel und hat sich eine eigene Traumwelt geschaffen, die anderen verschlossen bleibt. Erst in dem Jungen Raharjo, einem Angehörigen der Orang Laut, der verletzt Zuflucht in ihrem Pavillon sucht, findet das kleine Mädchen einen Menschen, der sie zu verstehen scheint. An seiner Seite wird sie zu Nilam und Jahre später zur Frau...

Allerdings ist Raharjo ein Meeresmensch und wird vom Meer angezogen. Immer wieder hört er den Ruf und lässt Georgina für Wochen und Monate allein. Als sie feststellt, dass sie ein Kind erwartet, fühlt sie sich völlig hilflos. So nimmt sie das Angebot von Paul, einem Angestellten ihres Vaters, an und heiratet ihn. Am Tag der Hochzeit kehrt Raharjo zurück. Als er erkennt, dass er Nilam verloren hat, schwört er Rache...

Nicole C. Vosseler erzählt eine bewegende Geschichte vor exotischer Kulisse, die mit exakt recherchiertem Hintergrund aufwartet. Die Autorin versteht ihr Handwerk und fügt gekonnt den historischen Kontext ein, ohne den Leser zu strapazieren.

Überdies zeigt die Autorin, was sie aus der wunderbaren Sprache Deutsch komponieren kann. Denn oft liest sich der Text wie Musik.

"Eine Ahnung von Wasser lag in der Luft, wusch sie klar, füllte sie mit einem Wellenklang, der nicht zu hören, nur zu spüren war, ein Flüstern auf der Haut."

Ihre Schreibkunst ist von einer Üppigkeit und Sinnlichkeit, die insbesondere hinsichtlich der poetischen und Naturbeschreibungen hervorzuheben ist. Diese sind in ihrer bemerkenswerten Art und Weise geeignet, atmosphärische Stimmungen wiederzugeben und ein berauschendes Bild einer fremden Welt zu zeichnen.

"Die ersten Wolkenbänke fingen Feuer, und unter der Glut, die von ihren Säumen hinabtroff, färbte sich das Meer rot... Die über Nacht frisch gewaschenen Wolken... waren inzwischen verrußt. Schwerfällig drückten sie sich gegen die Insel, und der vorhin noch lichtblaue Himmel schwitzte milchiggrau."

"Wolkenschlieren maserten einen Himmel aus duftiger puderblauer Seide. Behäbig schmiegten sich ihre üppigen Schwestern an die Hügel, die sich wie weiche Moospolster an der Küste ausbreiteten."

"Das Indigo der Nacht blutete zu einem fahlen Blau aus, verlor weiter an Kraft und wich schließlich dem zarten Gold, das das Aufgehen der Sonne verkündet."

Der bildschönen Lyrik der Geschichte ist das Cover ausgezeichnet angepasst.

Doch der Autorin gelingt es daneben auch, die Schattenseiten im Paradies aufzuzeigen.

Die wachsende Wirtschaft in der Inselstadt benötigt Arbeitskräfte, zumeist sind es männliche Junggesellen, die einreisen, wodurch sich ein Ungleichgewicht von Männern und Frauen entwickelt. Wegen des geringen Frauenanteils in Singapur entstehen viele Bordelle. Prostitution ist ein florierendes Geschäft mit einem verzweigten Netzwerk nach China und Japan. Besonders bei den Chinesinnen handelt es sich in der Regel um gekaufte Frauen, die ohne Familie oder Freunde in Zeiten der Not ohne Hilfe ihr Dasein fristen müssen und kaum Geld für ihre oft erzwungenen Dienste erhalten.

Durch die facettenreiche Darstellung der historischen Örtlichkeiten und Gegebenheiten bekommt das Geschehen eine Tiefe, die sich ebenfalls in der Ausarbeitung der Protagonisten widerspiegelt. Denn die Autorin hat Figuren mit außergewöhnlicher Präsens geschaffen. Sie sind voller Leben und empfinden neben Liebe, Zuneigung und Glück, Begehren, Mitleid, Bedauern auch Schmerz, Hass, Stolz, Rache, Wut, Schuld, Reue, Trauer... Ihre Gestaltung ist im höchsten Maße überzeugend.

Im Mittelpunkt steht vor allem Georgina. Sie ist wie ein Diamant, hart und unbeugsam und so scharfkantig, dass man sich daran bis auf die Knochen hinunter blutig ritzen kann. Frauen wie sie sind selten, und sie sind kostbar. Man ist ein reicher Mann, wenn man das Glück einer solchen Frau erleben darf. Da lohnt es sich, Geduld zu haben. Zu kämpfen. Und doch ist dies nicht leicht, wie Paul erfahren muss. Denn irgendetwas im Wesen von Georgina trübt ihre Sicht auf das Naheliegende, Greifbare. Oftmals ist sie blind für die Wirklichkeit, lebt in einer Traumwelt, wie sie sie als Kind gesehen hat.

Paul dagegen ist ein stiller Held. Einer, der zur Stelle ist, als er gebraucht wird und die Chance ergreift, die Frau, die er begehrt, zu heiraten. Einer, der nicht frei von Fehlern durchaus auch die eine oder andere falsche Entscheidungen trifft. Einer, der sich in seiner weitherzigen Art aufrichtig, beständig und beharrlich um die Liebe von Georgina bemüht.

Im Gegensatz dazu ist Raharjo zwiegespalten. Bereits bei der ersten Begegnung knüpfen er und Nilam ein inneres Band, das lange, vielleicht sogar das ganze Leben halten wird. Ein Band, das nicht immer von Liebe geprägt ist. Denn obwohl die beiden sich behutsam einander nähern, ihre Gefühle füreinander vertiefen und dann sehr vertraut miteinander umgehen und ihre Wesen zu ergründen versuchen, ändert sich alles, als Raharjo Nilam verloren glaubt. Es kommt für eine lange Zeit Raharjos dunkle Seite zum Vorschein, die hart und ungerecht ist und hassen und verletzen und positive Gefühle nicht mehr zulassen will. Diese Wandlung ist nachvollziehbar geschildert.

Mit beeindruckender Sicherheit ist der Autorin außerdem die Charakterisierung sämtlicher Nebenfiguren gelungen. Sie alle beleben den Roman in einer Weise, die die Geschichte zu einem einzigartigen Leseerlebnis macht.