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Veröffentlicht am 22.11.2023

Wie ein Vogel mit gestutzten Flügeln

Vogel ohne Flügel
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Cover:
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Eine Frau im Rollstuhl sitzend, schaut auf dem offenen Feld der auf- oder untergehenden Sonne entgegen und über ihr fliegen Vögeln in den Himmel. Dieses Bild passt sehr gut zur Stimmung ...

Cover:
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Eine Frau im Rollstuhl sitzend, schaut auf dem offenen Feld der auf- oder untergehenden Sonne entgegen und über ihr fliegen Vögeln in den Himmel. Dieses Bild passt sehr gut zur Stimmung im Buch: Sehnsucht gepaart mit Hoffnung.

Inhalt:
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Seraina Hintermann-Famos ist ausgebildete Logotherapeutin und Psychologin. Sie ist Pfarrfrau und dreifache Mutter und grundsätzlich eine sehr optimistische Person. Vor über 20 Jahren erhält sie die Diagnose, dass sie eine aggressive Form der Krankheit Multipler Sklerose (MS) hat. Diese Krankheit schränkt sie im Verlauf der Zeit immer weiter ein, es fühlt sich an wie das stetige Stutzen von Flügeln. Dennoch versucht sie, das Positive zu sehen, anderen zu helfen und das Beste aus der verbleibenden Mobilität zu machen. Unterstützt wird sie dabei von ihrer Familie, aber auch Gemeindemitgliedern und Pflegekräften.
In diesem Buch gibt sie Einblicke in ihren Alltag und erläutert ihre Krankheit anhand von Fachartikeln. Zudem schildert sie auf mal nachdenkliche, mal humorvolle Art, wie sie sich ihren Optimismus bewahrt anhand von Glauben an Gott, aber auch mithilfe der Logotherapie und lässt ihren Mann und ihre Freundin und Co-Autorin zu Wort kommen.

Mein Eindruck:
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Ich hatte schon von MS gehört, aber keinen näheren Kontakt zu erkrankten Personen. Welche Formen es gibt und wie sich die Krankheit auswirken kann, wusste ich bis dato nicht. Daher wollte ich dieses Buch lesen. Trotz der Schwere der Krankheit, die man besonders im beschriebenen Alltag bemerkt, empfand ich ihre Schilderungen als sehr lebendig und lebensbejahend. Sie hat eine klare Art, die Dinge auf den Punkt zu bringen und dabei blitzt auch immer wieder Humor durch, der alles etwas leichter macht.
Durch ihr Studium der Psychologie und Weiterbildung zur Logotherapeutin hat sie selbst zuvor Menschen in schweren Situationen geholfen. Bei sich selbst ist dies natürlich immer etwas schwerer, aber sie ist eine Kämpfernatur. Schon vorher hat sie sich durchboxen müssen, hatte es nicht leicht in der Schule und hat sich ihr Studium hart erarbeitet. Den Glauben an Gott hat sie auch erst im Erwachsenenalter gefunden. Man merkt, dass der Glaube eine tragende Kraft für sie ist, aber sie sagt selber, dass dieser nicht für alle Menschen so sein muss. Die von ihr angewendeten Methoden der Logotherapie kann jedoch jeder anwenden, auch in anderen Krisensituationen als bei Krankheit. Ich hatte davon noch nie was gehört, aber jede Menge gelernt und gute Tipps auch für meinen Alltag darin gefunden. Klasse fand ich auch ihre Reisefreudigkeit: Sie haben bis heute kein Auto und Reisen hat sie mit ihrer Familie bzw. mit ihrem Mann immer mit öffentlichen Verkehrsmitteln, vor allem mit dem Zug zurückgelegt. Auch im Rollstuhl: Was für eine logistische Leistung!
Gut gefiel mir auch die Darlegung ihrer Zweifel. So setzt sie sich auch mit dem Thema Sterbehilfe auseinander, weil es ihr unangenehm ist, auf andere angewiesen zu sein und ihnen zur Last zu fallen. Auch Probleme mit Ärzten und Pflegepersonal und unangenehme Situationen in Pflegeheimen kommen zur Sprache.
Mein Highlight waren noch die Fotos in der Buchmitte. Sie sind chronologisch angeordnet, sodass man die einzelnen Stadien ihres Lebens und der Krankheit mitverfolgen kann.
Zum Schluss ging es um das Thema Resilienz und die Auswirkung der Krankheit auf ihre Ehe. Hier sind sowohl sie als auch ihr Mann sehr offen und ehrlich, das hat mir imponiert.
Obwohl vieles angesprochen wurde in dem Buch, hätte ich mir an mancher Stelle noch etwas tiefere Einblicke gewünscht, so wie z. B. die Kämpfe mit den Krankenkassen, den Antragswahn für Pflegemittel o. ä. Die Gedichte am Ende hätte es m. E. nicht gebraucht. Trotzdem ein sehr mutmachendes und erhellendes Buch!

Fazit:
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Kleines, aber feines Buch mit gutem Einblick in das Leben mit MS und Tipps zum positiven Umgang mit Krisensituationen

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  • Erzählstil
  • Handlung
  • Charaktere
Veröffentlicht am 17.11.2023

Sky Lamar und die Flüche

Insel der wandernden Flüche - Skys Gabe
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Gestaltung:
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Das Buch ist megaschön! Das Titelbild ist in blauen und violetten Tönen gehalten. Es wirkt alles etwas gruselig, aber vor allem geheimnisvoll. Die Schrift ist hervorgehoben und ...

Gestaltung:
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Das Buch ist megaschön! Das Titelbild ist in blauen und violetten Tönen gehalten. Es wirkt alles etwas gruselig, aber vor allem geheimnisvoll. Die Schrift ist hervorgehoben und fühlt sich haptisch gut an. Natürlich darf der tolle Farbschnitt nicht unerwähnt bleiben, der das Titelbild über die Seiten weiterführt. Ein weiteres Schmuckstück für mein Regal.

Inhalt:
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Sky Lamar lebt bei ihrer Mutter, die als Hotelmanagerin von einem Ort zum nächsten zieht, über Kontinente hinweg. Der Vater ist unbekannt. Als sie für einen Job nach Afrika ziehen will, möchte Sky nicht mit. Sie möchte lieber ein neues Zuhause auf der schottischen Insel Sidh finden. Ihre Mutter vor vielen Jahren aus der Heimat weggezogen und möchte nicht mehr zurückkehren. Aber Skys Großvater und ihre Großtante wohnen noch dort und bei Ihnen fühlt sich Sky wohl. Allerdings nicht auf Dauer, denn gleich am ersten Tag trifft sie Rory MacLeod, den Sohn eines Clans, der mit den Lamars seit ewigen Zeiten verfeindet ist. Und dann geschehen seltsame Dinge auf der Insel und Sky erfährt, dass die Insel verflucht ist. Doch nicht nur das: Sie scheint mit den Flüchen auf seltsame Weise verbunden zu sein. Je mehr sie versucht, den Dingen auf den Grund zu gehen, desto gefährlicher wird es für sie.

Mein Eindruck:
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"Sie träumt von der Welt draußen, einer Welt ohne Flüche und Clanfehden, einer Welt, in der wir frei sein können. Aber ich glaube, so einfach ist es nicht. Ich glaube, Flüche gibt es auf die eine oder andere Weise überall, nicht nur auf Sidh, und Freiheit beginnt zuallererst in unseren Köpfen." (S. 227)

Ich wurde zunächst durch die schöne Gestaltung und den geheimnisvollen Klappentext auf das Buch aufmerksam. Doch kaum hatte ich die ersten Sätze gelesen, zog mich auch die Geschichte in ihren Bann. Die Handlung ist aus Skys Perspektive in der Ich-Form geschrieben. So ist der Leser nicht nur mitten im Geschehen, sondern auch in ihren Gefühlen und Gedanken. Die Handlung ist spannend bis zum Schluss, vor allem weil die Flüche und Skys Reaktionen darauf immer wieder für neue Spekulationen sorgen.
Zwischen Rory und Sky knistert es von Beginn an, aber die Begegnungen sind nie kitschig, sondern häufig humorvoll und mit einem überraschenden Twist versehen.
Außerdem gelingt es der Autorin, interessante Fakten über die Traditionen, Gebräuche und die Historie der Schotten passend in den Plot einzuflechten.
Die Auflösung, wer hinter den neuen Flüchen steckt, hat mich überrascht und war aufregend erzählt und schlüssig. Am Ende bleibt jedoch ein kleiner Cliffhanger, der mich jetzt schon gespannt auf den zweiten Band hoffen lässt, der leider erst in einem Jahr erscheinen soll. Obwohl ich lange aus dem Zielgruppenalter raus bin, hat mich dieser Jugendroman restlos begeistert.

Fazit:
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Toller Auftakt zu einer spannenden Trilogie über Schottland, Flüche und die Magie der Freundschaft

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  • Handlung
  • Charaktere
Veröffentlicht am 13.11.2023

Kosuke Kindaichi ermittelt wieder!

Mord auf der Insel Gokumon
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Gestaltung:
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Titel und Titelbild sind passend zur Reihe in schwarzen und roten Tönen gehalten. Die Silhouette des Mädchens von oben macht sehr neugierig. Der weiße Kreis in der Mitte ...

Gestaltung:
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Titel und Titelbild sind passend zur Reihe in schwarzen und roten Tönen gehalten. Die Silhouette des Mädchens von oben macht sehr neugierig. Der weiße Kreis in der Mitte bietet Wiedererkennungswert. Insgesamt ist die ganze Gestaltung wie bei Band 1 sehr hochwertig. Der Umschlag ist wieder ungewöhnlich: vorne wie ein Hardcover, innen durch zwei Klappen die Andeutung eines Schutzumschlags. Insgesamt ist die Gestaltung auch hier wieder sehr gelungen.

Inhalt:
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Japan im September 1946: Seit dem ersten Fall "Die rätselhaften Honjin-Morde" ist einige Zeit vergangen. Detektiv Kosuke Kindaichi wurde indessen im Zweiten Weltkrieg eingezogen und kehrt nun zum Glück unversehrt zurück. Bei seiner Rückkehr macht er einen Umweg über die Insel Gokumon. Der Name bedeutet "Höllentor". Er soll dort Familienangehörigen von Chimata, seinem Freund aus Kriegstagen, mitteilen, dass dieser verstorben ist. Chimata hatte ihn vor seinem Tod darum gebeten. Des weiteren bat er Kosuke darum, Chimatas drei Schwestern davor zu bewahren, ermordet zu werden. Kaum hat Kosuke den Angehörigen seine Botschaft übermittelt, fällt bereits die erste Schwester einem Mord zum Opfer. Ihr Tod gibt Kosuke einige Rätsel auf und bei diesem einen Mord bleibt es leider nicht.

Mein Eindruck:
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Zu Beginn empfängt den Leser ein umfangreiches Personenregister, das durch sein Volumen auf mich erst mal etwas abschreckend wirkte. Doch beim Lesen kam ich nach und nach rein und fand mich zwischen den Charakteren immer besser zurecht.
Die Geschichte beginnt sehr ruhig und auch nachdem der erste Mord geschehen ist, steigern sich die Ereignisse nur in mäßigem Tempo. Dennoch empfand ich es nie als langweilig, weil ich beim Lesen die ganze Zeit miträtseln konnte. Zudem vermag der Detektiv mich mit seinem trockenen Humor und seiner Art wie Columbo immer wieder zu amüsieren. Die Auflösung des Falles war überraschend, vielleicht etwas zu sehr konstruiert und wirklichkeitsfremd, aber dies ist bei japanischen Krimis wohl so üblich. Da tickt die japanische Kultur anders als die europäische. Dennoch hat mir der Schluss gut gefallen, bei dem sich alle Puzzleteile zu einem Ganzen fügten.
Ich hatte bereits den ersten Band mit Genuss gelesen und mochte sowohl den ruhigen Erzählstil eines unbekannten Ich-Erzählers als auch die Tatsache, dass ähnlich wie bei Agatha Christie eher das Rätselraten im Vordergrund steht und man nebenher einiges über die japanische Geschichte und Tradition erfährt. Diesem Stil ist der Autor auch im zweiten Teil treu geblieben.
Am Ende des Buches gibt es ein Glossar, in dem die japanischen Begriffe sowie einige historische Hintergründe erläutert werden. Dies empfand ich als sehr aufschlussreich, auch wenn es den Lesefluss etwas gehemmt hat. Fußnoten wären m. E. hier die bessere Wahl gewesen, aber das ist leider außerhalb wissenschaftlicher Publikationen aus der Mode gekommen.
Insgesamt hat mir die Fortsetzung genauso gut gefallen wie Band 1. Die Übersetzerin hat auch hier tolle Arbeit geleistet und ich freue mich auf die weiteren Fälle.

Fazit:
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Auch der zweite Fall von Kindaichi konnte mich überzeugen!

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Veröffentlicht am 13.11.2023

Erster Fall für Sabine Yao

Mit kalter Präzision
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Inhalt:
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Rechtsmedizinerin Dr. Sabine Yao hat vorher an der Seite von Dr. Fred Abel gearbeitet und tritt nun seine Nachfolge an. In ihrem ersten eigenen Fall befasst sie sich zunächst mit ...

Inhalt:
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Rechtsmedizinerin Dr. Sabine Yao hat vorher an der Seite von Dr. Fred Abel gearbeitet und tritt nun seine Nachfolge an. In ihrem ersten eigenen Fall befasst sie sich zunächst mit dem Tod der Ehefrau des Schönheitschirurgen Roderich Kracht. Da dieser ein sehr einflussreicher und angesehener Mann ist, ist der Fall besonders heikel. Alles deutet zunächst darauf hin, dass Kracht nichts mit dem Tod zu tun hat. Doch dann ergeben sich Unstimmigkeiten bei der Bestimmung des Todeszeitpunkts und auf einmal merkt Yao, dass es möglicherweise auch bei anderen Todesfällen Zusammenhänge mit Kracht geben könnte. Doch dies gerichtsfest nachzuweisen ist nicht so einfach. Und während der Ermittlungen merkt Yao nicht, dass sie sich selbst in tödliche Gefahr begibt.

Mein Eindruck:
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Ich hatte schon viel über Michael Tsokos und seine Gerichtsthriller gehört. Dennoch war dies der erste Roman, den ich von ihm gelesen hatte. Somit musste ich mich erst mal mit der Protagonistin Sabine Yao vertraut machen und auch ihr Chef Prof. Paul Herzfeld und ihr Ex-Kollege Dr. Fred Abel kommen dieses Mal wieder vor. Diesbezüglich ist es Herrn Tsokos gelungen, mich abzuholen. Die Charaktere werden ausreichend beschrieben und ich kam schnell in die Handlung hinein.
Eigentlich lese ich gerne Krimis mit realen Hintergründen und bin auch an rechtsmedizinischen Themen sehr interessiert. Obwohl der Fall sehr raffiniert ist und man dabei viel über Todesstarre und deren Beeinflussung sowie über Gifte und Möglichkeiten der Strangulation erfährt, empfand ich viele Passagen als zu ausführlich und vor allem zu nüchtern ausgeführt. Der Lesefluss wurde durch zu detaillierte Beschreibungen der Tatorte und der medizinischen Details immer wieder unterbrochen. Es wirkte, als wäre der Autor einen Tick zu bemüht, sein umfangreiches Fachwissen unbedingt in die Handlung einbringen zu müssen. Durch die Einschübe, in denen die Handlung sich mit der Schwester von Sabine Yao befasst, die in einer psychiatrischen Klinik verweilt und um die sie sich sehr sorgt, hätte es meiner Ansicht nach auch nicht bedurft. Sie ziehen die Handlung unnötig in die Länge.
Sabine Yao wirkt auf mich wie der perfekte Mensch, der seine Emotionen immer unter Kontrolle hat und für den Arbeit stets an erster Stelle steht. Es mag solche Charaktere geben, aber für mich ist sie dadurch einen Hauch zu perfekt und unnahbar und ich konnte wenig Empathie für sie aufbringen.
Alles in allem ist dies für mich weniger Thriller als gerichtsmedizinischer Krimi. Erst gegen Ende nimmt die Spannung stark zu, aber das betrifft nur geschätzt das letzte Viertel des Romans.

Fazit:
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Ein Krimi mit zu viel Detailverliebtheit und Szenen, die die Handlung unnötig in die Länge ziehen. Gerichtsmedizinisch sehr aufschlussreich!

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Veröffentlicht am 27.10.2023

Schweigen ist nicht immer das Beste!

Bei euch ist es immer so unheimlich still
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Inhalt:
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Die 33-jährige Silvia hat vor kurzem ein Kind bekommen. Der Mann hat sich direkt nach der Bekanntgabe der Schwangerschaft getrennt. Silvia fühlt sich in ihrer Berliner WG eingeengt ...

Inhalt:
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Die 33-jährige Silvia hat vor kurzem ein Kind bekommen. Der Mann hat sich direkt nach der Bekanntgabe der Schwangerschaft getrennt. Silvia fühlt sich in ihrer Berliner WG eingeengt und hat angesichts der Geburt ihrer Tochter Hannah den Wunsch, mit ihrer Mutter Evelyn zu reden. Seit sie vor vielen Jahren ihre Heimatstadt Ildingen verlassen hat, hatten sie keinen Kontakt zueinander. Es gab zu viele unausgesprochenen Verletzungen und einige Geheimnisse, die bis heute unbeantwortet blieben. Wird es Silvia gelingen, mit ihrer Mutter, ihrer Vergangenheit und auch mit sich selbst ins Reine zu kommen?

Mein Eindruck:
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"Kurz hatte Silvia den Impuls, Hannah zu schnappen und sie Evelyn in die Arme zu legen. So wie an ihrem ersten Tag zu Hause in Ildingen. Wie eine Wärmflasche, aber für den Gefühlshaushalt. Vielleicht würde dieser Eisberg ja doch ein bisschen antauen. Vielleicht würde dann ja doch etwas ins Rutschen geraten. Es wäre allerhöchste Zeit."

Die Geschichte beginnt in der Zeit kurz vor dem Mauerfall 1989, die Aufbruchstimmung ist spürbar. Die Handlung wird dabei abwechselnd von der Zeitebene erzählt, in der Evelyn ihren Mann kennenlernt und eine Familie gründet (1950er-Jahre) und der, in der Silvia wieder auf ihre Mutter trifft. Die Perspektiven wechseln hauptsächlich zwischen Silvia und Evelyn, aber auch andere Perspektiven wie die von Silvias Tante Betti, Silvias Vater und einigen Nebenfiguren werden eingestreut. Die Erzählstränge der unterschiedlichen Zeitebenen sind so gestaltet, dass permanent Spannung aufgebaut wird. Spätestens ab dem ersten Drittel konnte ich das Buch nicht mehr aus der Hand legen. Es gab so viele Geheimnisse, die nach und nach aufgedeckt wurden und die vielen Fäden fügten sich am Ende auf überraschende Weise schlüssig zusammen, dass das Buch von Anfang bis Ende eine Sogwirkung auf mich ausübte.

"Als Silvia später wieder in ihrem alten Kinderzimmer auf dem Bett saß und ihre schlafende Tochter betrachtete, fasste sie einen Entschluss. Wenn sie das nächste Mal Frau Hagerle besuchen würde, wollte sie Hannah mitnehmen. Und auch wenn sie noch nicht wirklich wusste, was für ein Leben sie sich für sich und ihre Tochter vorstellte, war sie doch wild entschlossen, ihr Kind nicht in Sprachlosigkeit und Stille aufwachsen zu lassen. Hannah sollte sich niemals zur Nachbarin flüchten müssen, um ein bisschen Chaos und Lebendigkeit und Wärme zu erleben."

Mir gefiel der Sprachstil sehr gut. Die Autorin verwendet treffende Worte, um die Sprachlosigkeit in der Familie, die unausgesprochenen Erwartungen und die Konsequenzen der betroffenen Personen zu beschreiben. Besonders das Leben nach dem Zweiten Weltkrieg wird gut eingefangen: Traumata der Kriegsrückkehrer, der Zwiespalt der Frau, einerseits Hausfrau und Mutter sein zu müssen, gleichzeitig aber durch Berufstätigkeit nach mehr Anerkennung und Karriere zu streben oder lieber ohne Mann das Glück zu versuchen. Auf dem Land deutlich schwieriger als in der Stadt, da hier gilt, das man von den Nachbarn stets beobachtet und be- oder gar verurteilt wird. Das mag an mancher Stelle klischeehaft scheinen, aber ich denke, dass es tatsächlich häufig so der Tatsache entsprach.
Durch Zufall habe ich durch die Leseprobe am Ende des Buches entdeckt, dass dies der 2. Teil der Borowski-Familienerzählung ist, also der Nachfolger von "Junge Frau, am Fenster stehend, Abendlicht, blaues Kleid". Diesen kenne ich noch nicht, aber nachdem ich die Geschichte um Silvia und ihre Mutter verschlungen habe, werde ich mit Sicherheit auch die von Hannah, ihrer Großmutter und deren Mutter in Erfahrung bringen wollen. Die Reihenfolge ist dabei sicherlich egal, denn es stehen unterschiedliche Beziehungsebenen in den Romanen im Fokus.

Fazit:
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Fesselnd erzählte Geschichte über unausgesprochenen Erwartungen, Sehnsüchte und die Neufindung einer Mutter-Tochter-Beziehung

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