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Veröffentlicht am 27.07.2018

Fahrradrückgabe

Fahrräder für Utrecht
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Was tun, wenn sich der geliebte Großvater auf dem Totenbett als Naziverbrecher erweist, der an der Judenvernichtung beteiligt war? Als Schreibtischtäter ganz im Westen, nämlich in Holland, was das Ganze ...

Was tun, wenn sich der geliebte Großvater auf dem Totenbett als Naziverbrecher erweist, der an der Judenvernichtung beteiligt war? Als Schreibtischtäter ganz im Westen, nämlich in Holland, was das Ganze aber keinen Deut besser macht. Weswegen Enkel Hauke aber nicht aufhört, ihn zu lieben, den herzlichen Opa, der einsprang, als die Eltern viel zu früh verunglückten. Ist ja auch richtig, beides voneinander getrennt zu betrachten. Und Opa Heinrich ist schon lange kein Nazi mehr, sondern bereut - und bittet Hauke um Wiedergutmachung.

Und zwar aus mehreren Gründen: neben dem oben genannten stellt sich nämlich noch heraus, dass Hauke eine holländische Tante hat. Sie sind neugierig geworden? Dann sollten sie zum Buch greifen, auch wenn es manchmal ein bisschen gewollt schrägt ist und auch gewollt lässig, insgesamt kann man nur sagen: passt schon!

Hauke nimmt nämlich die Verantwortung an und zwar auf seine eigene Art und Weise. Er ist nämlich ein Kind seiner Zeit - ebenso wie der Autor. Außerdem sind es sozusagen auch familiäre Gründe, die ihn dazu bewegen, die Aktion "Fahrräder zurück nach Holland" durchzuziehen. Zumal seine Freunde Safi und Lars wie so oft treu an seiner Seite sind!

Und zwar werden die Fahrräder im Rahmen einer medienwirksamen Fahrradtour nach Holland gebracht - zumindest ist es so geplant. Doch wie so oft im Leben, kommt alles ganz anders. Also eine Mordstour, die da unternommen wird? Nein, eigentlich eher das Gegenteil!

Es ist schon ziemlich klischeehaft und manchmal gewollt lässig, dennoch hatte ich viel Freude an dem Buch. Ja, Geschichte kann uns auch heute noch einholen und das stellt Autor Jochen Baier durchaus eindringlich dar. Sehr sympathisch war mir das Thema vor allem deswegen, weil ich meine ganz eigene familiäre Fahrradhistorie habe. Und die ist inzwischen schon über ein Jahrhundert alt - vielleicht wird sie ja auch mal aufgeschrieben. Aber lesen sie erst mal diese - ein ebenso lohnendes wie unterhaltsames Buch über ein Stück deutscher Geschichte und ein Stück deutscher Gegenwart von der Sorte, wie man sie nicht so oft hört bzw. in diesem Falle liest!

Veröffentlicht am 26.07.2018

Ein Leben für die Kindererziehung

Das Nachtfräuleinspiel
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Das lebt Liane, die in den 1960er Jahren zur Erzieherin ausgebildet wurde und damals Methoden wie Prügel und Zwangsschlaf in den Kindergärten mitbekommen hatte. Nicht mit ihr! Nach einigen Jahren - inzwischen ...

Das lebt Liane, die in den 1960er Jahren zur Erzieherin ausgebildet wurde und damals Methoden wie Prügel und Zwangsschlaf in den Kindergärten mitbekommen hatte. Nicht mit ihr! Nach einigen Jahren - inzwischen mit Carl, dem Mann ihrer Träume verheiratet - gründet sie in der schwäbischen Provinz eine eigene KITA und schwingt sich auf zur Erziehungsexpertin - Medienpräsenz inklusive!

In den 1980ern kreuzt sich ihr Leben mit dem von Annamaria, einer klugen jungen Frau ohne jegliche Perspektive - schwanger, kürzlich vergewaltigt und ganz ohne Unterstützung steht sie alleine da und wird von Liane anstelle eines AuPair zur Unterstützung im Haushalt und bei der Betreuung ihrer mittlerweile fünf Kinder eingestellt, nein: aufgenommen. Denn Annamaria ist ihr sehr dankbar für diese Hilfe in der Not und bringt sich entsprechend in den Haushalt ein.

Stimmungsvoll und gekonnt recherchiert ist dieses wundervolle Buch, das allerdings alles andere als ein Wohlfühlroman ist. In ihrem einzigartigen Schreibstil baut Anja Jonuleit diesen ungeheuer dichten, spannungsreichen Roman schrittweise auf. Ich jedenfalls konnte ihn kaum aus der Hand legen, roch die schwäbische Enge, habe die alternative Münchner WG der 1960er, das Haus von Liane und Carl sowie weitere Schauplätze quasi von innen betrachtet, sah Liane, Annamaria und die anderen Protagonisten förmlich vor mir und habe sämtliche Entwicklungen mitgelebt. Bis zum Schluss zog sich das hohe Niveau durch und es hat mich überhaupt nicht gestört, dass nicht alle Handlungsstränge aufgelöst werden konnten. Die subtile Eleganz der großartigen Anja Jonuleit war wirklich ein absoluter Genuss, auch wenn unter den Hauptfiguren kaum Sympathieträger waren. Also kein Roman zum Kuscheln, sondern einer, der zur inneren Auseinandersetzung des Lesers mit der deutschen Gesellschaft, insbesondere im Bereich Erziehung, seit den 1960er Jahren einlädt. Dabei ist die Handlung trotz des hohen Anspruchs - sowohl an Autorin als auch an den Leser - durchgehend ausgesprochen unterhaltsam und leicht zu lesen, auch wenn ich immer wieder gestutzt habe ob der Selbstverständlichkeit, mit der perfideste Methoden durchgezogen und merkwürdigste Einstellungen gelebt werden.

Ein kraftvoller, eindringlicher Roman und ein weiteres Highlight aus der Feder der Autorin Jonuleit, das in mir bereits die Vorfreude auf ihr nächstes Werk weckt! Wie weit Schein und Sein manchmal auseinanderklaffen - das wird hier auf beängstigende Weise verdeutlicht. Sehr lesenswert!

Veröffentlicht am 25.07.2018

Der Pfau ist tot, der Pfau ist tot.

Der Pfau
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Der Pfau ist tot, der Pfau ist tot... Er kann nicht mehr schrei'n kokodi kokoda

Sie werden mir entgegnen, dass ein Pfau - im Gegensatz zum Hahn, dem Originalhelden dieses Liedes, kein "kokodi" von sich ...

Der Pfau ist tot, der Pfau ist tot... Er kann nicht mehr schrei'n kokodi kokoda

Sie werden mir entgegnen, dass ein Pfau - im Gegensatz zum Hahn, dem Originalhelden dieses Liedes, kein "kokodi" von sich gibt. Stimmt natürlich, aber das ist auch gar nicht wesentlich. Der Pfau, um den es hier geht - zeit seines Lebens ein recht anstrengender Geselle, der mit seiner Fixierung auf die Farbe Blau so manchen Zeitgenossen in die Bredouille brachte - ist nun tot und gewisse Zeitgenossen haben ein Interesse daran, diesen Umstand bzw. bestimmte, damit verbundene Details vor einigen ihrer Mitmenschen zu verbergen. Gar nicht so einfach, aber umso köstlicher zu lesen, was sich Isabel Bogdan hier ausgedacht hat.

Der Pfau ist einer der Bewohner eines stattlichen, gleichwohl abgehalfterten Landsitzes, in dem die Besitzer, überaus sympathische Lordschaften, eine Art Hotel eingerichtet haben, um die alten Gebäude überhaupt halten zu können. Die aktuellen Besucher, die mit dem Pfau und bald darauf mit seinem Tod konfrontiert werden, sind Banker, die sich zu einem Team-Building-Seminar eingefunden haben, begleitet von einer Moderatorin, einer Köchin und dem Hund ihrer Chefin.

Innerhalb der Gruppe und auch in Interaktion mit den überaus bodenständigen und ländlich-unkomplizierten Lordschaften und deren spärlichen Personal gibt es eine spannungsreiche Dynamik gespickt mit einer ganzen Reihe von Missverständnissen. Isabel Bogdan, ihres Zeichens Übersetzerin englischer Romane, zeigt hier, dass sie den englischen Sense of humour genau erfasst hat (zumindest aus nicht-englischer, also meiner Sicht) und locker mit Autoren wie Alan Bennett mithalten kann - dieser Roman steht, so meine ich, ganz in der Tradition von humorvoller, origineller englischer Unterhaltungsliteratur mit Anspruch. Ich kenne das englische Landleben ein wenig und finde, dass die Autorin hier genau den richtigen Ton getroffen und sehr, sehr scharfsinnige Beobachtungen getätigt hat. Ihre Figuren sind ganz außerordentlich gut ausgearbeitet, es macht einen Riesenspaß, Ayleen, die so etwas wie eine Haushälterin auf dem Landsitz ist, die überaus charismatischen Lordschaften oder auch die zur Bankergruppe gehörende Köchin kennenzulernen.

Auch die Entwicklung, die vor allem die Bankergruppe durchlebt, ist eine spannende und vielschichtige - danach nimmt man Teambuilding-Seminare gleich in einem ganz anderen Licht wahr.

Ein kleines, amüsantes Buch, ein richtiges Juwel und ein passendes Geschenk für viele Gelegenheiten, bspw. auch ganz klar für Rekonvaleszenten, deren Verfassung sich nach dieser Lektüre mit Sicherheit ganz außerordentlich bessern dürfte - außer, sie sind von Haus aus humorlos und miesepetrig. Ich empfehle es jedem, der etwas Wärme und Freude braucht, um durch den zwar nicht - wie dem im Buch geschilderten - eiskalten, aber umso graueren Winter zu kommen.

Veröffentlicht am 25.07.2018

In Luft aufgelöst

Das Mädchen, das rückwärts ging
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hat sich offenbar die achtjährige Carmel während eines Ausflugs zu einem Volksfest. Hat Beth, ihre Mutter, die Aufsichtspflicht vernachlässigt? Immerhin geht sie quasi auf dem Zahnfleisch, seit Paul, ...


hat sich offenbar die achtjährige Carmel während eines Ausflugs zu einem Volksfest. Hat Beth, ihre Mutter, die Aufsichtspflicht vernachlässigt? Immerhin geht sie quasi auf dem Zahnfleisch, seit Paul, Carmels Vater, sie wegen einer Jüngeren verlassen hat. Haben ihre Nerven versagt, ist das Kind Opfer eines Triebtäters oder eines Ringes von Kinderhändlern geworden, ist es "aus Versehen" verschwunden und es kam zu einem Unfall? Es findet sich nicht die geringste Spur und Beth ist aufgelöst.

Doch die Geschichte wird quasi zweigleisig erzählt, von Beth und von Carmel selbst. Lebt sie also noch oder ist diese eine jener Geschichten, in denen aus dem Jenseits berichtet wird? Wie auch immer, ich kann versichern, dass die Ereignisse zu keinem Zeitpunkt ins Absurde abdriften. Eifersucht, Selbstzweifel, eine gewisse Art von Fanatismus, Scharlatanerie, Wut, Vertrauen - und natürlich Liebe: dies alles sind Themen, die auf die ein oder andere Weise in dem Buch verarbeitet werden.

So viel kann ich Ihnen verraten: Kate Hamer schreibt fesselnd, auch die Übersetzung liest sich flüssig, eloquent und dem Buch wohnt eine solch subtile Spannung inne, dass man es am liebsten gar nicht aus der Hand legen möchte. Es gibt ja viele Bücher über verschwundene Kinder, die das Geschehene auf die unterschiedlichste Weise auflösen, doch seien Sie versichert: keines ist wie dieses hier. Mir gefällt besonders gut, wie sich die Menschen in den fünf Jahren, bevor der Fall zu einem Abschluss gelangt, verändern - allen voran Beth, deren Weg in dieser Zeit ganz besonders einfühlsam und auch glaubwürdig nachgezeichnet wird.

Doch es gibt Erzählstränge, die hätte ich gerne mehr ausgearbeitet gehabt, da wurde meine Neugier nicht ganz befriedigt. Allein dies ist mein kleiner, absolut subjektiver Kritikpunkt an einem Buch, dessen Lektüre sich unbedingt lohnt.

Veröffentlicht am 25.07.2018

"Familie ist dort, wo es genug Liebe gibt" (S. 282)

Die Reise mit der gestohlenen Bibliothek
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Bobby Nusku ist zwölf Jahre alt und befindet sich definitiv nicht auf der Sonnenseite des Lebens. Er wartet auf die Rückkehr seiner plötzlich verschwundenen Mutter und ist derweil seinem lieblosen, mitunter ...

Bobby Nusku ist zwölf Jahre alt und befindet sich definitiv nicht auf der Sonnenseite des Lebens. Er wartet auf die Rückkehr seiner plötzlich verschwundenen Mutter und ist derweil seinem lieblosen, mitunter auch brutalen Vater und dessen neuer Freundin ausgeliefert, die sich einen Dreck um ihn scheren. Zudem wird er in der Schule gemobbt. Er gewinnt einen treuen Freund, Sunny, der sich zum Cyborg ummodeln lassen will, um ihn zu beschützen, aber auch das klappt nicht so recht.
Durch Zufall trifft er Rosa, in seinem Alter, aber anders als alle, die er bisher kennengelernt hat - und mit ihr Val, ihre bezaubernde, liebliche und überaus freundliche Mutter, die auch noch köstlich kochen kann. Eines führt zum anderen, ihre Beziehung wird von der Außenwelt gründlich missverstanden und ehe man sich versieht, befinden sich die drei auch schon auf der Flucht - und zwar ausgerechnet in einem Bücherbus - das ist eine mobile Bücherei, die Val eigentlich nur putzen soll. Jetzt ist es ihr Zuhause und auch wenn die drei wenig haben, gibt es eines im Überfluss: und zwar Bücher.

Und diese nutzen sie auf verschiedene Art und Weise, als Lebenshilfe und Ratgeber, zum Überleben, zum Verschenken, zum Fortbilden und, und, und...
Ein ganz besonderer Roman im Stil eines Road-Movies, in dem die drei durch ganz England tingeln, dabei den zunächst ziemlich gruseligen Joe aufgabeln, der sie bis nach Schottland bringt. Ich hätte auch "Wahlverwandtschaften" als Titel nehmen können, denn nichts anderes ist, das diese - mittlerweile vier -Menschen verbindet - sie werden zur selbstgewählten Familie: ihr Schicksal und die Liebe schweißen sie zusammen: Den Jungen, die Königin, die Prinzessin und den Höhlenmenschen (S. 282)

Doch es ist keine friedvolle Reise, auf der sie sind, denn die Polizei ist ihnen auf der Spur. Werden sie aus der Nummer rauskommen? Wird Bobby -wie erhofft - seine Mutter finden? Wird er Sunny wiedersehen und ist dieser mittlerweile zum Cyborg geworden? Und vor allem - gibt es ein glückliches Ende für den Bücherbus und seine Insassen, die zu seinen Bewohnern geworden sind?
Eines ist sicher - das glückliche und runde Ende für den Leser, denn dies ist ein Gute-Laune Buch par excellence. David Whitehouse schreibt anrührend, ohne rührselig zu werden, es ist ein Buch zum Lachen, doch auch zum Weinen: es ist fröhlich, traurig, sanft und hart zugleich und bietet einen Showdown, der seinesgleichen sucht.

Ein Buch über Einsamkeit, aber mehr noch über Freundschaft - und vor allem über Liebe. Ich werde es mit Sicherheit allen mir Nahestehenden schenken, die aus meiner Sicht ein bisschen seelische Unterstützung der besonderen Art nötig haben!