Tic Tic Tourette
Sechs Millionen Kekse im Jahroder: Wenn Körperteile ihren eigenen Kopf haben
Tourette: Ein Phänomen, über das ich schon viel gehört, ja sogar einen Roman - in "Motherless Brooklyn" von Jonathan Lethem spielt Tourette eine maßgebliche ...
oder: Wenn Körperteile ihren eigenen Kopf haben
Tourette: Ein Phänomen, über das ich schon viel gehört, ja sogar einen Roman - in "Motherless Brooklyn" von Jonathan Lethem spielt Tourette eine maßgebliche Rolle - gelesen habe. Aber jemand, der damit lebt, ist mir noch nie begegnet.
Bis jetzt: denn die Schilderung von Jessica Thom ist so lebendig, dass ich sofort das Gefühl habe, sie vor mir zu sehen! Ein eindringliches Buch, das ihren Alltag überaus eindrucksvoll schildert - Wie ergeht es ihr im Job ? Was hat sie alles so erlebt? Wie tic(t) sie? Wie ihre Freunde?
Nun, die Antworten darauf sind so faszinierend wie beeindruckend und haben mich vor allem verunsichert - verunsichert in meinem alltäglichen Verhalten gegenüber mir unbekannten, sich nicht 100%tig konform verhaltenden Personen. Jessica Thom beschreibt nämlich ein Dilemma, dem sie Tag für Tag aufs Neue ausgesetzt ist: Tourette ist ja ein sehr auffälliges Syndrom, das - wenn man es wie sie in seiner stärksten Ausprägung hat - nicht zu verbergen ist. Das heißt, Jessica begegnet Tag für Tag Menschen, die sich durch sie bzw. ihr Verhalten gestört oder gar belästigt fühlen, bestenfalls sind sie neugierig. Nein: allerbestensfalls sind sie mit der Krankheit vertraut und signalisieren ihre Solidarität, doch das geschieht nur selten - Tourette ist eben selten. Oft wird sie angefeindet - bspw. von einer alten Frau in der U-Bahn, die sie auffordert, die Schimpfwörter sein zu lassen und auf alle Erklärungen absolut uneinsichtig reagiert. Es gibt aber auch Fragen, wie die einer Mutter, die wissen möchte, was es mit Jessica auf sich hat, um es ihrer Tochter erklären zu können oder lässige Kommentare wie den eines Vaters, der auf den Spruch seines Sohnes "Die Frau spinnt" antwortet: "Sie spinnt nicht - sie bringt sich zum Ausdruck" (S. 59)
Das Buch ist witzig, den Jessica erzählt mit viel Selbstironie, es ist rührend, denn sie ist von einem ganzen Pulk Vertrauter umgeben, die Tag für Tag mit ihren Tics leben müssen und wollen und das ist alles andere, als leicht, kann es doch sein, dass wie im Falle ihrer Mutter, deren Hund gerade verstorben war und sie aus Jessicas Mund "Mummy hat den Hund getötet" vernehmen musste, eine höchst unsensible, natürlich unfreiwillige Reaktion erfolgt.
Das Jessica sich mit der für sie notwendigen Akzeptanz ganz wunderbar in den Alltag - wenn auch nicht in einen mit zu vielen Vorschriften - einfügen kann, zeigen Einblicke in ihr Berufsleben, ihr Leben mit Freunden und Familie.
Mich hat das Buch vor allem zum Nachdenken, zum Weiterdenken gebracht: würde ich - trotz meiner Beschäftigung mit diesem Thema - ein Tourette-Syndrom direkt erkennen. Ich glaube, ehrlich gesagt, nicht. Ich würde mich, wie so viele andere, zunächst peinlich berührt abwenden und erst beim zweiten oder gar dritten Hinsehen bzw. Kontakt nachdenklich werden. Und könnte ich so sein wie Jessicas Familie, wie ihre Verwandten? Ich weiß es nicht, denn sie müssen ihr ganzes Leben - auch ihr Gefühlsleben auf Tourette einstellen - Jessica hat nicht nur sprachliche Tics, sondern auch körperliche, sie schlägt sich selbst bzw. bewegt sich unkontrolliert, was zu Verletzungen führen kann: Freundschaft und Familie bedeuten hier also permanenten Beistand.
Sie sehen, dieses Buch ist sehr bereichernd, dazu noch unterhaltsam - allein deswegen sei es von mir wärmstens empfohlen!