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Veröffentlicht am 30.12.2017

Quatschen mit Zufallsbekanntschaften in Augsburg

Warten auf ...
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das macht Marcus Ertle. Herausgekommen ist dabei ein Buch, in dem 40 dieser Interviews vereint sind, nämlich "Warten auf...": im weitesten Sinne bei dieser Aktivität nämlich hat der Auztor seine Gesprächspartner ...

das macht Marcus Ertle. Herausgekommen ist dabei ein Buch, in dem 40 dieser Interviews vereint sind, nämlich "Warten auf...": im weitesten Sinne bei dieser Aktivität nämlich hat der Auztor seine Gesprächspartner aufgegabelt und das an unterschiedlichen Orten: in Cafés, auf Parkbänken, Bahnhöfen, in öffentlichen Verkehrsmitteln, und, und, und...

So unterschiedlich wie die "Fundorte" der interviewten Personen, so unterschiedlich sind auch die Gespräche, die Stimmungen, die in ihnen transportiert werden. Obwohl ich das Buch ungeingeschränkt und von ganzem Herzen weiterempfehle, haben mir lange nicht alle Interviews gleich gut gefallen - das lag ebensosehr an den Fragen wie auch an den Antworten. Man kann sich gut vorstellen, dass der Fragende und der/die Antwortende nicht immer gleich gut zusammen passen und genau das wird in diesem Buch sehr, sehr gut vermittelt und macht aus meiner Sicht einen großen Teil seines Charmes aus. Freude, Trauer, Frustration, Neugierde, Anmaßung - das sind nur einige der Gefühle, die in den Interviews transportiert werden. Jung und alt, arm und reich, weise und ein bisschen dümmlich - so unterschiedlich präsentieren sich hier die Menschen in Augsburg. Ein sehr originelles Gespräch mit einem Brecht-Experten, Lebensweisheiten eines sehr alten, dichterisch begabten Herren auf der einen und eines seiner jungen weiblichen Fans auf der anderen Seite, relativ alberne Zukunftsvisionen von Girlies, über die ich mich geärgert habe - dies sind nur ein paar Beispiele.

Zuletzt möchte ich aber noch so richtig Appetit machen auf dieses originelle Buch, das den Zeitgeist so gut aufzeigt - und zwar mit den beiden Gesprächen, die mich am meisten beeindruckt haben: "Warten auf nackte Haut" und "Warten auf einen Neuanfang" - beides Gespräche mit Männern, die jedoch unterschiedlicher nicht sein können und wahrhaft symptomatisch für das Auf und Ab von Stimmungen, mit denen der Leser des Buches konfrontiert wird.

Habe ich bei der ersteren - es geht um ein männliches Aktmodell - einen ausgesprochen sympathischen jungen Mann, der interessante und überraschende Erkenntnisse zur Körperbeherrschung und zu Beziehungen offenbart - zunächst Tränen gelacht, danach Rührung empfunden, so hatte ich bei der zweiten - hier ist der Autor im Gespräch mit einem Obdachlosen, es geht um Verluste - gleich wieder Tränen in den Augen, aber vor Mitgefühl und Betroffenheit.

Ein kleines Universum, das der Autor uns hier geschenkt hat - einfach wunderbar!

Veröffentlicht am 30.12.2017

Eine Geschichte wie ein Knall

Bonita Avenue
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das ist "Bonita Avenue", das Debüt des niederländischen Autors Peter Buwalda. Das ist durchaus wörtlich gemeint, denn eine Explosion gibt es wirklich in dem Roman: die Katastrophe von Enschede, die Explosion ...

das ist "Bonita Avenue", das Debüt des niederländischen Autors Peter Buwalda. Das ist durchaus wörtlich gemeint, denn eine Explosion gibt es wirklich in dem Roman: die Katastrophe von Enschede, die Explosion der Feuerwerksfabrik im Mai 2000, durch die ein ganzer Stadtteil zerstört wurde, ist ein Bestandteil des Romans und markiert hier einen Wendepunkt bzw. setzen schleichende Veränderungen zu genau diesem Zeitpunkt ein.
Ein Mann wie ein Hammer. das ist Siem Sigerius, den man als Held, als Mittelpunkt dieses Romans bezeichnen kann: Mathematikprofessor, erfolgreicher Judoka, Jazzfan und Familienvater - ein eindrucksvoller, vielschichtiger, fragwürdiger Charakter. Um ihn, den Aufsteiger aus einfachen Verhältnissen, der in zweiter Ehe mit Frau und zwei Stieftöchtern glücklich ist, seine Altlasten jedoch eiskalt hinter sich lässt, rankt sich ein wahres Drama, eine Geschichte um Verrat, Hass, Ehrlichkeit, Verlogenheit und Liebe, in der die weibliche Hauptrolle von seiner älteren Stieftochter Joni, der zeitweiligen Ich-Erzählerin, einer starken, nicht minder vielschichtigen und gewissermaßen zerissenen Persönlichkeit eingenommen wird und quasi den weiblichen Gegenpol zu Siem Sigerius bildet. Einen - allerdings keinesfalls neutralen - Betrachter von aussen gibt es auch: Jonis Freund Aaron, der die Familie auf seine Weise er- und überlebt.

Ein Action-Roman mit Anspruch - das ist "Bonita Avenue". Buwalda schreibt auf hohem Niveau, doch bei ihm steht nicht das Wort, sondern die Taten, die Entwicklungen an erster Stelle. Ein Buch wie ein Film - doch wird es schwierig, die ganzen Bilder, die Buwalda in Worte fasst, in ihrer Bedeutung genau so umzusetzen. Also: lesen, lesen, lesen!

Das Buch ist etwas für Freunde anspruchsvoller Literatur, die neue Wege nicht scheuen. Buwalda ist nicht - wie oft bemüht - mit Franzen zu vergleichen. Wenn man überhaupt ein Werk der modernen Literatur zum Vergleich heranziehen kann, wäre das in meinen Augen eher Eugenides' "Middlesex" - aber eigentlich ist Buwalda Buwalda, er ist neu, ungewöhnlich, und bereit, wie eine Bombe in die Literaturwelt einzuschlagen. Ein bemerkenswertes Debüt - durchaus eine Herausforderung für den Leser. Aber eine, die man nicht verpassen sollte!

Veröffentlicht am 30.12.2017

Die Wirren der Zeit

Hannahs Briefe
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nämlich der 1930er Jahre und auch der davorliegenden Epoche in Brasilien und in (Ost)Europa beeinflussen das Handeln, tangieren das Wohl und Weh jeder einzelnen Figur in diesem bewegenden, ungewöhnlichen ...

nämlich der 1930er Jahre und auch der davorliegenden Epoche in Brasilien und in (Ost)Europa beeinflussen das Handeln, tangieren das Wohl und Weh jeder einzelnen Figur in diesem bewegenden, ungewöhnlichen Roman.

Die Ausgangssituation: der Schuhmacher Max Kutner, polnischer Jude und seit einigen Jahren in Rio de Janeiro ansässig, wird vom brasilianischen Geheimdienst dazu gezwungen, Briefe aus dem Jiddischen zu übersetzen: es geht darum, eventuelle Geheimbünde bzw. (linke) politische Verschwörungen aufzudecken. Dadurch erfährt er eine ganze Menge über viele Menschen in seinem Umfeld, erhält ungewollte Einblicke in ihr Leben und vor allem in ihr Denken. Vor allem beginnt er sich für Hannah, die er über die Korrespondenz mit ihrer Schwester kennenlernt, zu interessieren ... und eines Tages steht sie bei ihm in der Werkstatt....

Ab dann wird Max so richtig in den Strudel der Ereignisse gezogen, sein Interesse für Hannah offenbart ihm - und dem Leser - eine andere Welt.

Nun, dies ist ein anspruchsvoller historischer Roman, der keine romantische Liebesgeschichte beschreibt, sondern vielmehr das Denken und Handeln von Menschen, die - warum auch immer - anders nicht können. Der Leser erhält tiefe Einblicke in die Denkweise und die Wertvorstellungen der damaligen Zeit, Ronaldo Wrobel versteht es nahezu meisterhaft, die Atmosphäre vergangener Jahre zu generieren. Und ich muss sagen, nach der Lektüre bin ich froh um die Gnade der späten Geburt!

Ein gnadenloser Roman, der den Menschen in seinem tiefsten Wesen offenbart und ihn quasi entblößt, ein Roman ohne jegliches Schamgefühl. Dabei geht es nur am Rande um Erotik, Liebe und Sex, in erster Linie geht es um Selbsterhaltung.

Wer emotional so einiges verkraften kann, wer Sprachgewalt gepaart mit philosophischen Erkenntnissen liebt - Wrobel verwöhnt den Leser mit Sätzen wie "Genau genommen waren die, die mehr hatten, als sie brauchten, auch die, die mehr brauchten, als sie hatten.", der kommt an diesem Buch nicht vorbei!

Veröffentlicht am 30.12.2017

Ein Entwicklungsroman der besonderen Art

Wie keiner sonst
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Nun, Entwicklungsromane sind seit Jahrhunderten eine beliebte Darstellungsform vor allem in Europa - nach Wikipedia bezeichnet "dieser
Ausdruck einen Romantypus , in dem die geistig-seelische Entwicklung ...

Nun, Entwicklungsromane sind seit Jahrhunderten eine beliebte Darstellungsform vor allem in Europa - nach Wikipedia bezeichnet "dieser
Ausdruck einen Romantypus , in dem die geistig-seelische Entwicklung einer Hauptfigur in ihrer Auseinandersetzung mit sich selbst und mit der Umwelt dargestellt wird".

Das ist hier ganz klar der Fall, auch wenn die Entwicklung von Peter, den wir als Sechsjährigen, in der Obhut seines Vaters lebenden Jungen kennenlernen, ganz klar vom Mainstream abweicht. Peter und sein Vater führen zunächst eine Art Nomadenleben, das sich bei näherem Hinsehen als Flucht entpuppt - immer wieder kommt es zu hastigen Aufbrüchen und plötzlichen Ortswechseln, der Vater wählt unterschiedlichste Jobs, um sich und den Jungen, den er selbst unterrichtet und der in vielem seinen Altersgenossen weit voraus ist, über Wasser zu halten. Auch Mundraub und kleinere Gaunereien sind erlaubt, wobei der Vater jedoch strikte Prinzipien hat. Doch dann geschieht etwas ... und das Leben des kleinen Peter ändert sich jäh...

Wir folgen ihm bis ins Erwachsenenalter, erleben einen Menschen mit Ecken und Kanten, der mehr als nur ein Päckchen zu tragen hat.

Eindrucksvoll ist, dass Jonas T. Bengtsson seinen Erzählstil - Peter fungiert nicht als Ich-Erzähler, doch der gesamte Roman ist aus seiner Perspektive geschildert - dem Alter des Protagonisten anpasst. Ein wahrhaft großer Erzähler, dieser dänische Autor, dessen Leser innerhalb des Romans die Wandlungen der Hauptfigur mittragen, ja mitERtragen müssen, was teilweise keine leichte Aufgabe ist. Dadurch bleibt einiges offen - wie es eben im Leben so ist - doch keineswegs unlogisch. Man versteht die Problematik, die Schatten, die Peter umgeben, wenn auch seine Handlung nicht immer nachvollziehbar ist - doch bei wem ist sie das schon. Der Mensch ist ein Individuum und wer gerne Roman wie "Das Parfüm" und die "Blechtrommel" liest, bei denen die Entwicklung ungewöhnlicher Charaktere im Vordergrund steht, die ungewöhnliche Pfade beschreiten, der ist hier gut aufgehoben.

Veröffentlicht am 30.12.2017

Kein Highlight

Die Rache des Chamäleons
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Ein geheimnisvoller, in einem fernen Land - Spanien, wie sich herausstellt - spielender Prolog führt den Leser in das Geschehen ein - er erscheint als Dokumentation einer zerissenen, unter Druck stehenden ...

Ein geheimnisvoller, in einem fernen Land - Spanien, wie sich herausstellt - spielender Prolog führt den Leser in das Geschehen ein - er erscheint als Dokumentation einer zerissenen, unter Druck stehenden Persönlichkeit am Rande einer Katastrophe - oder sogar mittendrin? Die Spannung ist geweckt und steigert sich, als wir im weiteren Verlauf Peter Mattéus und seine Familie - Ehefrau und zwei kleine Töchter - kennenlernen, alle überaus sympathisch und absolut liebenswert: doch sie werden bedroht: Peter erhält im Büro einige Fotos seiner Familie, danach einen Telefonanruf, während dem er aufgefordert wird, nach Hause zu seiner Familie zu fahren, wo aber offenbar alles in Ordnung ist .... nur geheimnisvolle Tickets für eine Reise in die Sonne liegen vor und Peter kann die Freude seiner Frau darüber nicht recht teilen... und dann wird auch sie zum Ziel der Drohungen. Alles sehr, sehr geheimnisvoll: es gibt "Altlasten" aus der Vergangenheit, die Peter seiner Frau vorenthalten hat und so stellt sich nach der Ankunft im fernen Spanien heraus, dass Peter dort in einem - im wahrsten Sinne des Wortes - früheren Leben in unlautere Machinationen verwickelt war und den ein oder anderen kennt, auf dessen Bekanntschaft er in seinem jetzigen Leben nur zu gern verzichten würde. Ein Leben, das er seiner Familie gern vorenthalten hätte - doch das lag nicht in seiner Macht.

Ein spannungsreicher Start, der den Leser interessiert und neugierig werden lässt auf den neuen Edwardson. Leider flaut dies bald ab und die Story verkommt zu einem langweiligen Thriller, bei dem ich nur am Ball blieb, um diese Rezension verfassen zu können. Nach einem furiosen Beginn flaut die Story ab und entwickelt sich ausgesprochen unoriginell - nett geschrieben zwar, aber auch nicht so fesselnd, dass ich bereitwillig und eifrig weitergelesen hätte. Der Chamäleon ist aus meiner Sicht eine absolute Enttäuschung und markiert leider kein Highlight in Edwardsons Oeuvre.