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Veröffentlicht am 20.12.2017

Mal was anderes...

Meistens alles sehr schnell
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Mit "Meistens alles sehr schnell" hat Christopher Kloeble ein für die deutsche Literaturgeschichte höchst ungewöhnliches Werk erschaffen. Es handelt sich um die Suche eines sehr skurrilen Vater-Sohn-Gespanns ...

Mit "Meistens alles sehr schnell" hat Christopher Kloeble ein für die deutsche Literaturgeschichte höchst ungewöhnliches Werk erschaffen. Es handelt sich um die Suche eines sehr skurrilen Vater-Sohn-Gespanns bestehend aus Fred, dem leicht behinderten Vater und Anton, dem im Heim aufgewachsenen, inzwischen erwachsenen Sohn, nach ihrer Vergangenheit, vor allem nach der - zumindest für Anton - unbekannten Mutter. Auf dieser Reise rückwärts, die eher an angelsächsische literarische Traditionen gemahnt, treffen sie auf zahlreiche skurrile Gestalten aus der Vergangenheit, doch auch aus der Gegenwart, die ihnen, jeder auf seine Art, den Weg weisen. Die Familiengeschichte birgt Dunkles: Lieblosigkeit, Inzest, Verlassensein, Verstoßen - aber auch Gefühle.

Eine dichte, reichhaltige Geschichte, die man an einem Stück weglesen kann und die sprachlich teilweise extrem stark daher kommt, dann jedoch wieder merkwürdig abflacht. Durchgehende Sprach- und Wortgewalt wie auch inhaltliche Überzeugung kann ich diesem Buch nicht attestieren: gemahnt Kloebles Stil teilweise an Irving, sind die Figuren und ihr Verhältnis zueinander teilweise doch zu kühl, ja fast kaltherzig dargestellt, dann wiederum kommt überraschend Wärme durch, aber nur für eine Weile.

In mir wurden viele Fragen und zwiespältige Gefühle hervorgerufen. Ein Buch, das spannend zu lesen war und eine mögliche Anregung für Rezipienten von Irving, den beiden Jonathans (Lethem und Safran Foer), aber auch den deutschsprachigen Autoren Herrndorf und Lappert ist und für manch einen literarischen Höhepunkt darzustellen mag - für mich ist es eher die Verheißung auf weitere, größere Lesefreuden mit Christopher Kloeble, der im übrigen in diesem Roman auf sehr mutige und überraschende Art und Weise einen Einblick in die Herkunft seines Familiennamen gibt.

Veröffentlicht am 20.12.2017

Diese Mauern des Schweigens sind recht brüchig!

Die Mauern des Schweigens
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1993 - Kommissar Gontard, bereits im Ruhestand, ermittelt als unverzichtbare Ergänzung zu seinem ehemaligen, sich noch im Dienst befindenden Kollegen Alfred Melzer, in Heidelberg und im angrenzenden Odenwald. ...

1993 - Kommissar Gontard, bereits im Ruhestand, ermittelt als unverzichtbare Ergänzung zu seinem ehemaligen, sich noch im Dienst befindenden Kollegen Alfred Melzer, in Heidelberg und im angrenzenden Odenwald. Ein älterer Herr, barock angewandt, musste sterben und nach und nach stellt sich heraus, dass es beileibe nicht wenige Feinde gab - der gute Mann war ein veritabler, in gewissen Kreisen nicht unbekannter Kinderschänder und man könnte sich vorstellen, dass ihn so einige ausschalten wollten. Dies wird durch Rückblenden sowie durch Gespräche der Ermittler im Kreise der Zeugen deutlich. Und dann gibt es noch eine Leiche...

Ausserdem gibt es spannende Eckpunkte mit Bezug zur jüngeren deutschen Geschichte und zur Gegenwart wie bspw. die Phase kurz nach der Wende und dann kommt noch das Thema Odenwaldschule auf.

Ein interessantes Thema und ein, nein, gar zwei Ermittler mit Biss! Das klingt nach einem spannenden Krimi, denken Sie? Dachte ich mir auch und wurde bitter enttäuscht. Die Überschrift dieser Rezension, ja eigentlich gar der Buchtitel hätte es verdient, "gewollt, aber nicht gekonnt" zu lauten. Die Ermittler bleiben ohne Profil, viele Fäden werden nicht entwirrt - und die Sprache? Tja, diese ist einfach lasch, langweilig und zeugt nicht von Sprachgewalt, kurzum: wenn ich nur nach diesem Buch urteile, sollte Lilo Beil keine Krimis schreiben und überhaupt den Leser mit ihren Texten verschonen, denn neben Farb- und Bisslosigkeit kreiert sie noch Wortschöpfungen, die nun wirklich kein Mensch braucht: diejenige, bei der sich mir auf gut Deutsch die Zehennägel hochgerollt haben, war "menschenkennerische Vermutung", die weiteren habe ich schlicht überlesen.

Ich lege allen Krimifreunden, die Regionales zum Raum Heidelberg suchen, ans Herz, Lilo Beil zu meiden: es gibt einen Krimiautor, der ganz tolle Krimis über diese Gegend schreibt und das ist Wolfgang Burger. Mein Tipp also in bezug auf Heidelberg und den Odenwald: meiden Sie Beil, wählen Sie Burger - ich bin sicher, Sie werden es nicht bereuen!

Veröffentlicht am 20.12.2017

Wem kann ich vertrauen?

Eine große Zeit
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Diese Frage stellt sich dem Protagonisten von William Boyds Roman "Eine grosse Zeit", dem jungen Schauspieler Lysander Rief, im Verlauf der Geschichte mehr und mehr, wird er doch 1913 aus heiterem Himmel ...

Diese Frage stellt sich dem Protagonisten von William Boyds Roman "Eine grosse Zeit", dem jungen Schauspieler Lysander Rief, im Verlauf der Geschichte mehr und mehr, wird er doch 1913 aus heiterem Himmel in Wien - dort hielt er sich eigentlich wegen einer Psychotherapie auf - verhaftet und der Vergewaltigung bezichtigt.

Dadurch verändert sich sein ganzes Leben, denn auch der britische Geheimdienst kommt ins Spiel. Nicht lange, dann beginnt der erste Weltkrieg mit all seinen Wirren, Lysander gerät im wahrsten Sinne des Wortes in die Schusslinie und in einen Strudel der Ereignisse, der alle Lebensbereiche betrifft und weiß nicht mehr, wem er noch trauen kann: dies umfasst auch die engsten Familienmitglieder und Freunde.

Nicht die politische Situation an sich ist es, die hier im Mittelpunkt steht, nein, es geht vielmehr um jähe, unerwartete Veränderungen. So ist das Setting des Romans durch den Kulturbetrieb und die intellektuellen Kreise jener Zeit geprägt, nicht durch den Militarismus und andere politische Elemente, die eher den Rahmen bilden.

Aber Details nachzuerzählen wäre müßig: all das beschreibt der großartige britische Autor William Boyd - den ich bereits seit Mitte der 1980er Jahre verehre - so treffend, spannend und sprachlich so ansprechend, dass ich von Herzen eine Leseempfehlung für dieses Buch aussprechen möchte.

Wer also erfahren möchte, welch fatale Folgen der stümperhafte Gebrauch von Französisch haben kann, was "Verzauberte" sind oder wer einfach in die Atmosphäre des Umschwungs im "Alten Europa" eintauchen will, die von Boyd trefflich transportiert wird, kurzum: wer auf intelligente Weise bestens unterhalten will und auch mal gern einen Spionageroman zur Hand nimmt, der kommt um dieses wundervolle Werk nicht herum.

Veröffentlicht am 20.12.2017

Thank you for the days

Unsere Tage am Ende des Sees
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hose endless days, those sacred days you gave me
I'm thinking of the days, I won't forget a single day, believe me!

An diesen alten und aus meiner Sicht wunderschönen Kinks-Song musste ich ganz oft denken, ...

hose endless days, those sacred days you gave me
I'm thinking of the days, I won't forget a single day, believe me!

An diesen alten und aus meiner Sicht wunderschönen Kinks-Song musste ich ganz oft denken, während ich die Liebesgeschichte von Hanna und Alex las - dass es eine bittersüße wird, das war schon bald klar, ebenso, dass dies nicht das einzige große Thema des Buches ist.

Denn Hanna hatte ihre bayerische Heimat und damit ihre Mutter früh verlassen und war nach Hamburg übergesiedelt, was es damit auf sich hatte, das dröselt Autorin Linda Winterberg peu á peu in ihrem neuen Roman auf. Also sind es gleich mehrere Beziehungsgeschichten um Hanna, deren Entwicklung hier aufgedeckt wird.

Sie hat nämlich gerade ihren Mann bei einem Unfall verloren und begibt sich nun auf die Spuren ihrer Jugend - wahrlich kein unkompliziertes Unterfangen, gibt es darin doch so einige dunkle Stellen!

Linda Winterberg schreibt warmherzig und ergreifend, doch leider auch ziemlich voraussehbar - am Ende fügte sich alles ganz genau so zusammen, wie ich es bereits vor der Mitte des Romans zu erahnen begann. Dennoch habe ich das Buch - das vor allem in der Mitte auch die ein oder andere Länge aufweist - wirklich gern gelesen, auch wenn ich gestehen muss, dass es stellenweise ein kleines bisschen langweilig wurde.

Ein Buch für einen Ferientag oder gar für den Strand, einfach aufgrund der Wärme, die es trotz der Problematik, die stellenweise transportiert wird, ausstrahlt.

Veröffentlicht am 20.12.2017

Eine Leiche verschwindet

Die Hauptstadt
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und noch einiges mehr! Was wie ein Krimi beginnt, verläuft früh im Sande - wie in Brüssel, dem Zentrum der EU so einiges im Sande verläuft. Dies erkennt der Leser dieses Romans sehr früh - EU-Aktivitäten ...

und noch einiges mehr! Was wie ein Krimi beginnt, verläuft früh im Sande - wie in Brüssel, dem Zentrum der EU so einiges im Sande verläuft. Dies erkennt der Leser dieses Romans sehr früh - EU-Aktivitäten und was drum herum geschieht, sind nicht unbedingt effizient. Ja, die EU hat eine Menge Leichen im Keller, insofern hat die hier beschriebene Leiche einen durchaus symbolischen Wert.

Insgesamt ist vieles, was hier über die EU geschrieben wird, sehr zutreffend, angefangen vom Vokabular (Concours, Basis, Generaldirektion und, und, und). Als ehemalige EU-Angestellte (wenn auch nur für kurze Zeit) fühlte ich mich gleich zu Hause in der Sprache des Buches, in seinen Themen.

Die Hackordnung in der EU ist strikt festgelegt - die mit dem Geld, bspw. die Generaldirektion Landwirtschaft, sind ganz oben.

Und ganz unten ist die DG Kultur, ausgerechnet dort leitet Xeno, zypriotische Möchtegern-Aktivistin, eine Abteilung. Um sich zu profilieren, plant sie einen EU-Geburtstag, eine große Feier. Nein, sie soll nicht am Robert-Schuman-Tag, dem Geburtstag des Gründers stattfinden, jedenfalls nicht unbedingt und sie soll mit einem symbolträchtigen Ereignis verknüpft werden.

Dieses ist auch bald gefunden - ich verrate es Ihnen nicht - und es ist so logisch wie makaber. Obwohl es durchaus polarisiert, kommt man davon nicht mehr weg.

Und alle Figuren - ob EU-Beamte bzw. Angestellte oder aus anderen Gründen in Brüssel zugange, scharen sich drum herum, ob es ihnen selbst nun bewusst ist oder nicht.

Ja, die EU ist hier abgebildet und dass Österreich einen aus meiner Sicht etwas überproportionalen Anteil annimmt, hat sicher mit der Nationalität des Autors zu tun, ich würde es jetzt nicht ganz so zentral einbinden, wie es hier geschieht. Wobei natürlich nicht alle Eu-Länder gleichermaßen Erwähnung finden, aber das internationale und vor allem -kulturelle Gefüge wird durch die Erläuterungen des Robert Menasses sehr plastisch und durchaus nachvollziehbar abgebildet.

Was hier los ist! Oi oi oi, falsch Eu, eu,eu muss es heißen, denn um die EU kreist dieser dadurch ausgesprochen zeitgemäße Roman auf jeder Seite, sie ist das Universum, um das sich alles dreht, keine USA, keine NATO.

Menasse entwickelt einen wilden Reigen von Personen, denen man als Leser wieder und wieder begegnet: alte, mittelalte und junge, von denen jeder auf seine Art von Europa geprägt ist - und sein europäisches Päckchen zu tragen hat. Auch wenn es teilweise ein wenig chaotisch zuging, habe ich die Lektüre sehr genossen - am Ende standen mir die Tränen in den Augen, so habe ich mich in die Geschichte hineingefunden. Aber keine Angst, es gibt auch heitere Stellen, wenn auch eher solche der makabren Art. Sie können jetzt schon über die Bedeutung des Satzes "KZ-Überlebende sind keine Alumni." (S.242) rätseln, der für die Entwicklung der Story eine nicht unwesentliche Bedeutung hat. Vielleicht regt er sie ja zum Lesen an.

Definitiv ein Buch für Leser, für die die EU nicht nur eine Abkürzung ist, sondern ein Teil ihres Lebens. Und die, wenn sie sich darauf einlassen, viel Spass damit haben werden!