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Veröffentlicht am 28.01.2022

Ein alternder Besen

Annie Dunne
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Das ist Annie Dunne - sie ist nicht sanft und liebenswürdig, allenfalls gelegentlich mal den Kindern ihres Neffen - den Enkeln ihrer verstorbenen Schwester Maud gegenüber. Deren Mann sie rausgeworfen hat, ...

Das ist Annie Dunne - sie ist nicht sanft und liebenswürdig, allenfalls gelegentlich mal den Kindern ihres Neffen - den Enkeln ihrer verstorbenen Schwester Maud gegenüber. Deren Mann sie rausgeworfen hat, nachdem er eine neue Frau gefunden hatte. Und Annie musste dann hausieren gehen, um irgendwo bei Verwandten unterzukommen. Sie hatte Glück, wurde von einer warmherzigen Cousine freudig aufgenommen und lebt und arbeitet seitdem mit auf deren kleinem Hof.

Obwohl Annie auch diese Unterkunft in Frage gestellt sieht, hat ihre Wirtin doch tatsächlich einen Heiratsantrag bekommen - mit über sechzig! Annie sieht ihre Felle davonschwimmen.

Wir schreiben das Jahr 1959 in Irland, wo eine alleinstehende Frau ohne Erbe nichts wert ist. Sie kann nicht selbst für sich aufkommen, wird herumgeschubst zwischen der Verwandtschaft. Und wenn sie meint, sie hat es mal gut getroffen, dann folgt der nächste Schlag.

Doch zunächst genießt Annie noch den Sommer mit den Kindern des Neffen - vier und sechs Jahre alt. Entzückende Kinder, die Annie doch immer wieder erstaunen und auch schockieren.

Obwohl Annie abhängig ist von anderen, ist sie durchaus fähig, auszuteilen. Und sie traut sich was. Was ihr nicht immer gut tut - aber den anderen auch nicht unbedingt!

Sebastian Barry hat mit diesem Roman ein eindringliches Frauenportrait einer noch nicht lange vergangenen, dennoch finstereren Zeit geschaffen. Wenn man Annies Gedanken und Empfindungen so liest, kann man sich kaum vorstellen, dass diese von einem Mann zu einer anderen Zeit wiedergegeben werden. Ein ungewöhnliches und besonderes Buch, das dennoch nicht jedem gefallen wird. Ich musste beispielsweise erst den richtigen Zeitpunkt abwarten, um mich ihm gebührend widmen zu können.

Veröffentlicht am 28.01.2022

Ein Mörder geht um in München

Feuerbach
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Und das ausgerechnet in der Zeit, als der junge Leopold ganz neu ist in der Stadt - eingereist aus dem ländlichen Berchtesgaden, um Schriftsteller zu werden, wird er von seinem Onkel Carl unter die Fittiche ...

Und das ausgerechnet in der Zeit, als der junge Leopold ganz neu ist in der Stadt - eingereist aus dem ländlichen Berchtesgaden, um Schriftsteller zu werden, wird er von seinem Onkel Carl unter die Fittiche genommen.

Auf sehr merkwürdige Art und Weise, denn Carl spricht kaum mit ihm - allmählich begreift Leopold, dass sein Onkel unter den Folgen des Großen Krieges leidet, auf vielerlei Art und Weise, diesem grausamen Stellungskrieg unter Einsatz neuer Waffen wie Gas, der erst vor vier Jahren - nämlich 1918 - zu Ende ging.

Wir befinden uns in einer Zeit, die genau hundert Jahre vor der unsrigen zurückliegt. Auf gewissermaßen reduzierte, dennoch sehr mitreißende Art und Weise nimmt uns der Autor Markus Flexeder mit in die Vergangenheit. Ihm gelingen sehr atmosphärische, zeitweise auch grausige Schilderungen: ich habe mich fast wie in einem Film gefühlt, das Kopfkino ratterte nur so runter.

Ein spannender Roman, geschrieben aus zwei Perspektiven - einmal des jungen Leopold und dann aus der Sicht einer brutalen Bestie. Dazu kommt vereinzelt ein Briefwechsel zwischen Carl und seiner Schwester, Leopolds Mutter.

Ich muss sagen, ab und zu brauchte ich eine Pause, es war nicht so, dass ich das Buch nicht aus der Hand legen konnte. Im Gegenteil. Aber die dazwischenliegenden Zeiten der Reflexion haben mir geholfen, mich sehr gründlich mit den Geschehnissen auseinanderzusetzen und diese reflektieren. Ich bin nur froh, dass ich der ein oder anderen Romanfigur niemals begegnen werde!

Veröffentlicht am 27.01.2022

Im Bann der Zeit

Die Gezeiten gehören uns
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Eulabee lebt im San Francisco der 1980er Jahre und ist sich auf eine gewissermaßen selbstverständliche Art schon bewusst, dass sie priviligiert ist. Im Gegesatz zu ihrer wilden, wunderschönen, ...

Eulabee lebt im San Francisco der 1980er Jahre und ist sich auf eine gewissermaßen selbstverständliche Art schon bewusst, dass sie priviligiert ist. Im Gegesatz zu ihrer wilden, wunderschönen, von allen bewunderten Freundin Maria Fabiola, die sich so verhält, als ob das gerade gut genug für ise ist.

Sie wird bewundert und von allen umschwärmt und findet auch das ganz normal. Eines Tages ist sie weg. Einfach so. Offenbar entführt. Und jetzt erst erfährt Eulabee, dass die Familie ihrer Freundin gewissermaßen Geld an den Füßen hat. Altes Geld.

Aber irgendwas stimmt nicht mit der Entführung und Eulabee denkt sich ihren Teil. Und dabei wird deutlich, dass Maria Fabiola immer schon anders war als andere Jugendliche. Anderes wollte, anderes erzählte

Und dann auf einmal ist alles ganz anders. Das Leben am Meer, mit den Freunden und auch das Erwachsenwerden an sich. Denn das ist schneller passiert,als es hilfreich gewäsen wäre.

Ein sehr klarer, ja messerscharfer Roman über das Erwachsenenleben, in den sicher einiges Autobiographische eingeflossen ist. Keine extrem anspruchsvolle, aber eine durchaus fesselnde Leküre!

Veröffentlicht am 26.01.2022

Das Leben als solches

Das Vorkommnis
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Eine Frau, vielleicht Julia Schoch, vielleicht eine andere, wird auf einer Lesung angesprochen. Und zwar mit der Aussage, sie und die Ansprechende hätten denselben Vater. Was die Protagonistin ...

Eine Frau, vielleicht Julia Schoch, vielleicht eine andere, wird auf einer Lesung angesprochen. Und zwar mit der Aussage, sie und die Ansprechende hätten denselben Vater. Was die Protagonistin nicht verwundert, denn der Umstand, dass es irgendwo eine weitere mögliche Schwester gibt, ist ihr bekannt - schon seit Ewigkeiten, sie weiß gar nicht, wie lange schon.

Diese Begebenheit wird der Protagonistin zum Anlass, sich selbst, ihr Verhältnis zu ihren Verwandten und zu ihrem Umfeld zu hinterfragen und zu beleuchten. Ja, es ist etwas von alledem und weil die Autorin Julia Schoch wundervoll zu schreiben vermag, habe ich ihren Text, den sie als Roman bezeichnet, durchaus genossen. Auch wenn er mich sehr verwirrt hat, aber das haben ihre Bücher so an sich, bei der Lektüre von "Schöne Seelen und Komplizen" war meine Verwirrung noch viel größer.

Es sind nicht die Geschehnisse, auf denen das Hauptaugenmerk der Autorin liegt, nein, es sind die Gedanken der Hauptfigur, der geistige, innere Umgang mit ihrem eigenen Hier und Jetzt, mit ihrer Vergangenheit und einer möglichen Zukunft, die im Fokus stehen.

Es scheint, als würde die Protagonistin sich oft selbst nicht verstehen, ihr Handeln in Frage stellen - vieles aber auch zu entschuldigen. Ich wundere mich beispielsweise über die vielen Freiheiten, die sie sich während ihres Arbeitsaufenthaltes in den Vereinigten Staaten nimmt, wo sie sich in Begleitung ihrer Kinder und ihrer Mutter aufhält. Eine Art ständige Bereitschaft zur Toleranz mit sich selbst kommt da bei mir an, die mir fremd ist.

Auf der anderen Seite gab es immer wieder auch Momente, in denen ich die Erzählerin nur zu gut verstehe, weil ich ähnliches durchlebt habe. Zum Beispiel in Bezug auf das unangenehme "Erwischt-Werden" durch andere Menschen, auch durch die nächsten Verwandten: "Ich glaube, die Wahrheit, um die es den meisten von uns geht, ist am ehesten dort zu finden, in jenen Momenten und Situationen, in denen unsere Existenz keine Zeugen hat." (S. 115)

Diese Passage bietet zugleich einen Einblick in die besondere Sprache der Autorin: ein ungewöhnlicher, sehr reicher Stil, sowohl was den Wortschatz als auch was die Bezugnahme auf andere Texte angeht.

Willkommen im Universum der Julia Schoch! Der Leser wird nicht wenig gefordert, was seine Aufmerksamkeit, seine Bereitschaft, in die Gedankenwelt der Protagonistin einzusteigen, angeht. Er bekommt aber - so meine Meinung - auch viel zurück: einen eleganten, facettenreichen literarischen Text, der mit nichts anderem zu vergleichen ist.


Veröffentlicht am 25.01.2022

Wer sie waren, wer sie sind

Schöne Seelen und Komplizen
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Damals und Heute - in diesem Roman kommen Menschen zu Wort, Menschen gleichen Alters. Zunächst ganz jung, dann - in der Gegenwart - mittelalt. Es sind ehemalige Schüler eines Potsdamer Elitegymnasiums, ...

Damals und Heute - in diesem Roman kommen Menschen zu Wort, Menschen gleichen Alters. Zunächst ganz jung, dann - in der Gegenwart - mittelalt. Es sind ehemalige Schüler eines Potsdamer Elitegymnasiums, die gemeinsam die Wende erlebt haben. Eine Wende, die vielfach von Privatem überlagert wurde - denn als junger Mensch hat man doch so viel mehr im Kopf als den Lauf der Welt. Was mit einem selbst passiert, ist doch so viel spannender! Nicht immer, aber doch sehr, sehr oft.

Julia Schoch schildert diese Zeit aus vielerlei Perspektiven: es sind eine Menge junger Menschen, die hier zu Wort kommen Ende der 1980er und Anfang der 1990er Jahre, so viele, dass sie mich verwirrt haben. Wofür stand nochmal Lydia, wofür Ellen oder Britta, war jetzt Alexander oder Tomas oder gar Martin der Mädchenschwarm oder habe ich es sogar verwechselt? Und vor allem: was bedeutete die Wende für sie alle, die damaligen (teilweise noch heutigen) Potsdamer, die die Wege der Zeit, des Lebens vielfach auseinander gebracht, teilweise jedoch auch zusammengehalten haben.

Julia Schoch hat einen aus Blitzlichtern, Momentaufnahmen verschiedener Protagonisten zusammengefügten Roman auf zwei Zeitebenen geschaffen, der durchaus interessant ist, mich jedoch äußerst verwirrt zurückgelassen hat. Die Einzelschicksale und die jeweils damit verbundenen Charaktere waren zu wenig akzentuiert, setzten sich zu wenig voneinander ab, verschwammen teilweise aus meiner Sicht sogar ineinander und vermischten sich. Ein gutes, spannendes Potential, das nicht ganz ausgeschöpft wurde aus meiner Sicht, das teilweise sogar im Sande verlief. Und das, obwohl Julia Schoch wirklich schön schreibt, passende Sätze findet, die bis ins Mark treffen. Zum Beispiel "ich glaube, die Erinnerungen sterben später als die Menschen." (S.122) Das sagt eine der Protagonistinnen, Vivien, zu Alexander - eine Verbindung, die über Jahrzehnte erhalten bleibt.

Doch das Problem der Autorin (kenne ich auch), also auch "Mein Fehler ist, dass ich davon ausgehe, andere Leute würden die Dinge genauso sehen wie ich." (128) Geht mir auch oft so und gerade dies ist mit ein Grund, dass ich ihr und ihrem - insgesamt duchaus sympathischen - Buch stellenweise leider nur Unverständnis entgegenbringe.